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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 08.03.2016, 21:46   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.117

Standard Von der Wiege bis zur Bahre

Zum Leben wurde ich erzogen,
gedrillt, gelehrt, auf Pflicht genagelt.
Bedacht, dass es nicht Tadel hagelt,
hat man den Rücken mir gebogen
und mich die Schultern hängen lassen,
geeicht auf tumbe, graue Massen
und dann auf Tauglichkeit gewogen.

Des Lebens Anspruch und Verlangen
zu dienen, war ich voller Eifer,
ich wurd‘ erwachsen, doch nicht reifer,
war stets den flachen Weg gegangen.
Doch der stieg plötzlich steil nach oben,
bis dort, wo Donars Wetter toben,
und füllte mich mit Angst und Bangen.

Und schon erwuchsen in mir Fragen,
wie Pflanzen, die aus Wintersträumen
sich räkeln, Lenz nicht zu versäumen,
sich sehnen nach den milden Tagen:
Was tut das Leben mir zum Segen?
Was kann es mir zu Füßen legen
und wie besänftigt es mein Klagen?

Wie zahlt das Leben mir die Schulden,
und wie erst recht die Dividenden
und all die Anerkennungsspenden
für meinen Einsatz, für mein Dulden?
Und in mir wächst ein banges Ahnen:
Man setzt mich auf des Alters Bahnen
und nimmt mir dafür jeden Gulden.

08.03.2016
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.03.2016, 22:32   #2
männlich Versard
 
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Beiträge: 1.750

Ich würde nicht sagen das das Leben Schulden zahlt, sondern Kredit in Form von Jahren gibt. Man kann es verjubeln wie man will und am Ende zahlt man.

Aber schönes Gedicht.
Versard ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.03.2016, 22:37   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.117

Richtig, Versard.

Deshalb ist mein Gedicht keine Abrechnung, sondern eine Feststellung mit ein paar Fragen.

Danke fürs Feedback.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.03.2016, 21:11   #4
Stachel
 
Benutzerbild von Stachel
 
Dabei seit: 03/2015
Ort: Niederrhein
Beiträge: 955

Ein interessanten Gedicht, liebe Ilka-Maria. Besonders das Reimschema hat es mir angetan, eine Erweiterung des umarmenden Reims: ABBACCA

Rhythmisch hast du einen soliden jambischen Vierheber genommen, der gut mit dem Erzählstil harmoniert. Dabei hast du gegen zu viel Gleichförmigkeit ein paar leichte und gut zu umlesende Hebungsverschiebungen eingebaut, z.B. in V3: xXxxXXxXx

Alle Verse enden unbetont und unterstreichen damit den offenen, fragenden Charakter des Inhalts.

Inhaltlich bin ich über ein paar Dinge gestolpert:

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Bedacht, dass es nicht Tadel hagelt,
hat man den Rücken mir gebogen
In dieser Konstellation bezieht dich das "bedacht" m.E. auf diejenigen, die den Rücken gebogen haben. Logisch erscheint mir das Vermeiden von Tadel aber auf das LI bezogen. Wie hast du es hier gemeint?

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
hat man den Rücken mir gebogen
und mich die Schultern hängen lassen,
"Hat man [...] mich die Schultern hängen lassen" kenne ich in dieser Form nicht. Schultern kann man nur selbst, aber keinem anderen hängen lassen, oder das "Lassen" muss verdoppelt werden. Aber vielleicht kennt man diese Wendung bei euch oder hast du absichtlich eine Neuschöpfung eingefügt? Vom Sinn her verstehe ich: Man hat mich mit hängengelassenen Schultern belassen, also mich nicht aufgebaut oder getröstet.

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
und dann auf Tauglichkeit gewogen.
Diese Metapher gefällt mir gut.

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Doch der stieg plötzlich steil nach oben,
bis dort, wo Donars Wetter toben,
Woher kommt dieser plötzliche Anstieg? Was ist geschehen? Warum geht der Weg bis in den Himmel? Der Rückgriff auf die nordische Mythologie bleibt hier einmalig und findet keine weitere Resonanz im Gedicht.

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
wie Pflanzen, die aus Wintersträumen
sich räkeln, Lenz nicht zu versäumen,
Vom Gewitter wechselst du hier plötzlich zu Jahreszeiten. Auch dieser Bezug bleibt alleine stehen.

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Wie zahlt das Leben mir die Schulden,
und wie erst recht die Dividenden
und all die Anerkennungsspenden
[...]
und nimmt mir dafür jeden Gulden.
In der letzten Strophe dreht sich alles um Bilder aus dem Finanzsektor.

Das ist alles jeweils für sich stimmig und für mich auch einleuchtend. Der innere Zusammenhang der Bilder über die Strophen geht aber leider verloren. Der jeweilige Bruch war aber vielleicht gewollt, um die Strophen als aufeinanderfolgende Lebensphasen klar abzugrenzen: Drill/Berechnung - Selbstständigkeit/Mythos - Zweifel/Natur - Abrechnung (Hier schließt sich der Kreis zum Anfang).

Mir erscheinen die erste und die letzte Strophe sehr gegensätzlich. Die Erziehung "zum Funktionieren" hat zur Konsequenz, dass das LI sich Gedanken um "Lohn" für das eigene Leben macht. Ich hätte erwartet, dass das "Funktionieren" i.S.v. "Dulden", "(für andere) Ackern" sich bis zum Lebensende durchzieht. Natürlich kamen in S3 die Fragen (Sinnfragen?), aber sie sind sehr unvermittelt.

Ich könnte mir hier autobiografische Anlehnungen sehr gut vorstellen und freue mich über die für mich ungewöhnliche Perspektive, denn so wie ich dich hier im Forum kennen gelernt habe, hast du auch bei diesem Gedicht so ziemlich alles in voller Absicht und überlegt geschrieben.

Freundliche Grüße vom
Stachel

Geändert von Stachel (09.03.2016 um 23:00 Uhr) Grund: falsches "Quote-Tag" entfernt
Stachel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.03.2016, 21:30   #5
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.117

Danke für Deinen ausführlichen Beitrag, Stachel.

Zitat:
In dieser Konstellation bezieht dich das "bedacht" m.E. auf diejenigen, die den Rücken gebogen haben. Logisch erscheint mir das Vermeiden von Tadel aber auf das LI bezogen. Wie hast du es hier gemeint?
Nein, es bezieht sich nicht auf das LI, sondern auf den/die Verbieger. Man kennt ja solche Sprüche wie: "... und dass mir keine Klagen kommen!"

Zitat:
"Hat man [...] mich die Schultern hängen lassen" kenne ich in dieser Form nicht. Schultern kann man nur selbst, aber keinem anderen hängen lassen, oder das "Lassen" muss verdoppelt werden. Aber vielleicht kennt man diese Wendung bei euch oder hast du absichtlich eine Neuschöpfung eingefügt? Vom Sinn her verstehe ich: Man hat mich mit hängengelassenen Schultern belassen, also mich nicht aufgebaut oder getröstet.
Die "hängenden Schultern" sollen als Sinnbild für Resignation stehen. Das LI kann sich gegen die Bevormundung nicht wehren.

Nein, mein Gedicht trägt keine autobiografischen Züge, sondern beruht auf Beobachtungen und Gesprächen.

Für Deine Mühe gebührt Dir meine Anerkennung.

Einen schönen Abend und liebe Grüße,
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.03.2016, 22:20   #6
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Von höherer Warte aus bemerkt man, dass Anpassung die echten und lohnenden Erfahrungen verhindert. Gut ins Bild gesetzt, Ilka.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
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