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Alt 29.08.2020, 13:12   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Eine einfache Geschichte

Iris stellte den Wasserhand ab und zog zwei Blatt Papier aus dem Spender. Während sie die Hände trockenrieb, schaute sie in den Wandspiegel, stöhnte und ließ die Schultern sinken. Sie sah aus, als sei sie gerade überfallen worden: Ihre Wangen waren bleich, die Augen matt, die Lippen zusammengekniffen, und auf ihrer Stirnmitte hatten sich zwei tiefe, senkrechte Furchen gebildet.

Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen und hätte sich in eine dunkle Ecke verkrochen. Aber in der Telefonzentrale wartete Frau Rimberg auf sie, wie immer mit bereitgestellter Einkaufstasche für den alltäglichen Rundgang in der Mittagspause.

Mit einer müden Handbegung warf Iris das zerknüllte Papier in den Abfallkorb und verließ die Damentoilette.

Frau Rimberg, eine lebenskluge Frau in den Fünfzigern und eine schwergewichtige Riesin von Gestalt, empfing sie mit einem Lächeln, das jedoch sofort erstab. „Kindchen, Sie sehen aus wie Christus bei seinem Kreuzgang. Liebeskummer?“

Iris nickte heftig und presste die Lippen aufeinander, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Hm … erste große Liebe, erste große Enttäuschung. Stimmt’s?“

Nochmal heftiges Nicken. Jetzt ließen sich die Tränen nicht mehr aufhalten. „Gestern hat er mir gestanden, dass er schon verheiratet ist.“

„Ziemlich fies. Aber nicht Ihnen gegenüber, wenn Sie die ganze Zeit glücklich waren. Sondern seiner Frau gegenüber. Sie muss mit ihm leben, aber Sie werden darüber hinwegkommen.“

„Ich weiß nicht recht …“

„Aber ich weiß es. Ich habe auch nicht meine große Liebe bekommen, bin aber mit einem phantastischen Mann verheiratet. Soll ich erzählen?“

„Ja, bitte.“

„Es war Krieg. Robert wurde eingezogen, mit zwanzig. Wir verlobten uns, bevor er an die Front musste, und ich schwor ihm, auf ihn zu warten. Ich war fromm und naiv genug, zu glauben, er käme am Ende des Krieges unbeschadet zurück. Je regelmäßiger er Briefe schrieb, umso sicherer wurde ich, dass Gott seine Hände über ihn hielt.

Doch dann, es war schon 1945, kamen keine Briefe mehr. Da Roberts Eltern keine Nachricht bekamen, dass er gefallen oder in Gefangenschaft geraten sei, tappten wir im Ungewissen. Unsere Nachforschungen brachten auch nichts.

Ich wartete fünf Jahre, dann gab ich Laurins Werben nach. Er war Roberts jüngerer Bruder und schon immer in mich verliebt gewesen. Er sah ihm ähnlich, war aber anders geartet, ernster, ruhiger und besonnener – ein Mann mit einer starken Schulter, die viel tragen konnte.

Ich wähnte mich glücklich, bis eines Tages Robert unverhofft vor unserer Tür stand, abgemagert, hohlwangig und um zwanzig Jahre gealtert. Es war mir egal, ich fiel ihm um den Hals, angefüllt mit all meinen Gefühlen jenes Tages, an dem ich ihn zum letzten Mal geküsst hatte und in diesen Wahnsinn, den man Krieg nennt, entließ.

Laurin bot mir die Scheidung an. Aber wie hätte ich ein so edles Angebot annehmen können, ohne den Rest meiner Tage in einer Schuld zu stehen? Ich hatte mich entschieden, und sich für einen Menschen entschieden zu haben, bedeutet, zu dieser Entscheidung zu stehen.

Ich blieb.

Für uns alle war das hart. Für mich, weil meine Hoffnungen und Wünsche für immer begraben waren. Für Robert, weil er für mich überlebte, die wortbrüchig gewoden war und nicht auf ihn gewartet hatte, und für Laurin, der immer die zweite Wahl bleiben würde.

Es sollte aber noch härter kommen.

Robert heiratete Nora, meine beste Freundin, mit der ich schon die Schulbank drückte. Sie war wie ich in ihn verliebt gewesen, aber ich hatte ihn geschnappt. Jetzt tut sie doppelt weh, die Freundschaft mit den beiden, und deshalb begannen wir, uns aus dem Weg zu gehen.

Der Krieg hat mir erst Robert, dann Nora genommen. Aber er hat mir einen guten Ehemann geschenkt. Ich habe nie bereut, mich für ihn entschieden zu haben.“

„Das ist ja richtig tragisch.“

„Nicht, wenn man hinter die Kulissen schaut. Verstanden, Kindchen?“

Iris wischt sich die Tränen ab. „Voll verstanden.“

Frau Rimberg greift nach ihrer Einkaufstasche. „Sehr gut, Kindchen. Dann schwirre ich jetzt ab.“
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Alt 29.08.2020, 13:34   #2
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Liebe Ilka-Maria,

die Geschichte bietet interessante, in der Kürze dennoch gut gezeichnete Charaktere. Sie entwirft auch ein realistisches historisches Szenario, in dem es kaum möglich ist in jeder Hinsicht gut zu entscheiden. Insofern gefällt sie mir sehr gut.
Aber dass die blanke Erzählung dieser Vorkommnisse bei der liebeskummergebeutelten Protagonistin sofort einen positiven Umschwung bewirkt, finde ich ein wenig unglaubwürdig. Es würde genügen, wenn als Wirkung eine Nachdenklichkeit bliebe, von der man nicht weiß, welche weiteren emotionalen Veränderungen sie noch nach sich ziehen könnte.
AlteLyrikerin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.08.2020, 13:43   #3
weiblich Ilka-Maria
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Wieso Umschwung?

Sie hat doch bloß verstanden. Das heißt nicht , dass sie eine Hundersechziggradwendung gemacht macht. Sie denkt bloß über das Gehörte nach.

Die Geschichte ist authentisch, und mich hatte sie erst einmal gelehrt, darüber nachzudenken, dass auch andere Menschen nicht mit Tafelsilber gesegnet waren. Bis dahin war ich nämlich immer die Prinzessin der Familie gewesen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.09.2020, 14:34   #4
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Wenn schon Wendung, dann bitte 179 Grad
Tommi ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.09.2020, 15:48   #5
weiblich Ilka-Maria
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Was habt ihr bloß mit Umschwung und Wendung? Davon ist nirgendwo die Rede. Was genau Iris verstanden hat und welche Schlüsse bzw. Entscheidungen sie treffen wird, wenn überhaupt, bleibt offen bzw. der Vorstellung des Lesers überlassen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.09.2020, 16:20   #6
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Mein Einwurf bezieht sich auf deine Antwort bzgl. der Kritik von AlteLyrikerin:

Zitat:
Das heißt nicht , dass sie eine Hundersechziggradwendung gemacht macht.
Du meintest sicher "eine Hundertachtziggradwendung", oder?
Wobei "gemacht macht" wohl "gemacht hat" heißen sollte, nicht wahr?
Außerdem fehlt das "t" am Ende des Wortes "Hundert".

Jetzt bin ich mal der Korinthenkacker
Tommi ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.09.2020, 16:27   #7
weiblich Ilka-Maria
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Ach so ...
Alles klar.
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