Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 20.11.2007, 20:13   #1
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Die Kehrseite der Medaille

Unerwartet und auf geheimnisvolle Weise dreht sich die Medaille des Lebens von der unscheinbaren Hannah. Unfreiwillig entdeckt sie eine Seite, die besser im Verborgenen geblieben wäre, denn Ereignisse bahnen sich schleichend an, die nicht nur ausschließlich gefährlich sind.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.09.2008, 11:20   #2
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Kapitel 1 / Teil 1

Kapitel 1

Über Nacht hatten sich viele kleine Eiskristalle an ihrem Fenster gebildet. Leise knirschte der Rahmen beim Öffnen eines Fensterflügels. Kalte Luft brandete ihr entgegen und für einen Moment verschlug es ihr den Atem. Sie wickelte eine Wolldecke fest um ihren Körper, setzte sich auf das Fensterbrett und sah in eine verschneite Winterlandschaft hinaus. Es war noch nicht ganz hell geworden und doch tummelten sich schon die Menschenmassen durch die Straßen. Eltern brachten ihre Kinder in die Schule und die Kinder wiederum klammerten sich an die Mäntel ihrer Mütter oder ihrer Väter um auf den verschneiten Straßen nicht ins Rutschen zu kommen. Geschäftsleute trugen ihre Aktentaschen spazieren, brüllten und pfiffen lauthals nach Taxen oder kauften sich an den unzähligen Zeitungsständen die Morgenausgabe der New York Times. Die durchschnittliche Arbeiterklasse besorgte sich ihr fetthaltiges Frühstück, in Form von Donuts und Kaffee, an irgendwelchen Ständen an den Ecken der Straßen, und verschlang gerade erst Erworbenes noch im Gehen. Etwas ältere Herrschaften gingen mit ihren Hunden spazieren und wurden nicht zu selten von Politessen angehalten und aufgefordert, die Hinterlassenschaften ihrer Haustiere selbst zu entsorgen. Meistens arteten diese Situationen in heftige und, vor allen Dingen, laute Diskussionen aus, die erst durch Androhung von Bußgeldern beendet werden konnte. Mittlerweile waren die Tage des Novembers schon fast gezählt und nun begannen die Weihnachtsvorbereitungen in der Stadt New York. Ein grauenhaftes Spektakel. Auf jeder Straße standen duzende von Wagen mit Hebebühnen, auf denen sich Stadtarbeiter streckten um die bunten Lichterketten an den Bäumen anzubringen. Lastwagen karrten riesige Tannenbäume durch die Stadt und stellten diese an öffentlichen Plätzen und in oder vor Kaufhäusern auf. In den Schaufenstern der Kaufhäuser tummelten sich haufenweise Dekorateure die ihre alten Kreationen verwarfen und alles mit weihnachtlichen Dekorationen ersetzten. Wie jedes Jahr überwog die Farbe Grün und Rot in Kombination und selbstverständlich war alles in dieser Stadt völlig überladen von weihnachtlichem Pomp. Weihnachten war im Grunde ein leises, gemütliches und harmonisches Fest, dessen Motto definitiv nicht lautete: Größer, teurer, lauter und von allem noch viel mehr oben drauf. Sie zuckte mit den Schultern, denn dieser Umstand würde sich wohl nie ändern.

Die morgendliche Stimmung war, wie jeden Tag, ausschließlich von Hektik geprägt, von der sie sich selbst nicht anstecken lassen wollte. Ihre Beobachtungen wurden von einem herrlichen Signal unterbrochen, das ihre Kaffeemaschine von sich gab, sobald die Kanne gefüllt war. Sie stand auf, schenkte sich eine Tasse heißen Kaffee ein, gab drei Stück Zucker hinein und einen großen Schuss Milch. Von einem der Küchenregale nahm sie einen Aschenbecher, eine angebrochene Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug und begab sich wieder auf das Fensterbrett. Genüsslich nahm sie einen Schluck der lebensspenden, braunen Brühe und atmete tief durch. Wäre diese Stadt nicht so hoffnungslos mit Menschen, Fahrzeugen und Wolkenkratzern überfüllt, hätte in diesem Moment fast ein Gefühl von winterlicher Gemütlichkeit in ihr entstehen können. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und nahm den ersten Zug. Was gab es Schöneres an einem Morgen, als eine Tasse Kaffee und eine Zigarette? Ihr Blick wanderte wieder auf den, von ihrem Haus gegenüberliegenden, Bürgersteig und blieb auf einem kleinen Mädchen haften, das einen seltsam ulkigen Spitzhut trug. Unter dem rosafarbenen Mädchenmantel lugte ein ebenfalls rosafarbenes Kleidchen, das mit glitzernden Sternchen beklebt war, hervor. Sie sah fast aus wie eine kleine Fee. Diesen Eindruck unterstrich ihr Hut ebenfalls, der perfekt zu dem kleinen Kleidchen passt. Auch ihn zierten glitzernde Sterne und ein wenig rosafarbiger Tüll. Das Mädchen lief neben seiner Mutter her, zog diese ständig an der Hand nach vorne und trieb sie zur Eile an. „Mama beeil dich doch. Wir kommen sonst zu spät!“, drängte das Mädchen. Die Mutter lächelte und legte etwas an Tempo zu. „Mama, kann ich auch eine Prinzessin sein, wenn ich groß bin?“. Die Mutter lächelte nur und rief: „Du wirst immer eine Prinzessin für mich sein.“. Es wurden weitere Worte zwischen den beiden gewechselt, jedoch begann eine stehende Wagenkolonne zu hupen, da der Fahrer des vordersten Wagens an einer Ampel das grüne Signal übersehen hatte, und somit konnte sie dem Gesprächsverlauf nicht mehr folgen. Schließlich verschwanden die Beiden aus ihrem Blickfeld und biegen um eine Ecke. Zugegeben, es war eine sehr diplomatische Antwort der Mutter gewesen, wie sie wahrscheinlich jede Mutter gegeben hätte, aber sie selbst wusste, dass aus solchen Kinderträumen nichts weiter übrig blieb als eine Erinnerung über die man irgendwann nur noch lächelte. Kurz glühte eine Kindheitserinnerung in ihr auf, in der sie sich selbst gewünscht hatte eine Prinzessin zu sein. Sie lächelte und besann sich der Realität.

Nach einer weiteren Tasse Kaffee an „ihrem Fenster zur Welt“, wie sie es insgeheim nannte, ging sie unter die Dusche. Anschließend legte sie etwas Make Up auf, zog sich eine Jeans und einen Pullover über, der eine etwas winterliche Stimmung vermitteln sollte, und schlüpfte in ihre Winterstiefel. Sie liebte diese Stiefel und trug sie seit mehreren Wintern, da sie weich, bequem und warm waren. In dem Spiegel, der neben der Garderobe in einem Flur hing, betrachtete sie sich noch einmal kritisch. Ihre langen, blonden und großlockigen Haare hatte sie zu einem perfekten Knoten gebunden. Ihr Make Up war dezent und unterstrich ihre makellose Haut, dennoch konnte es ihre Sommersprossen um die Nase herum nicht verbergen. Aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt und irgendwie waren Sommersprossen in New York momentan sehr aktuell und angesagt, wie man es so schön nannte, obwohl ihr das eigentlich völlig egal war. Sie blickte sich selbst durch den Spiegel in ihre stechend grünen Augen. Sie waren umrandet von langen und geschwungenen schwarzen Wimpern, bei denen sie zugegebenermaßen etwas mit Mascara nachgeholfen hatte. Allerdings wirkte ihr Blick recht leer und nicht besonders aussagekräftig. Was sollte er auch schon sagen? Auf ihren Mund hingegen war sie besonders stolz. Sie hatte strahlend weiße und perfekt geformte Zähne, dank einer Zahnspange in ihrer Jugend. Umrandet wurden die Zähne von purpurroten und vollen Lippen, bei denen sie keine kleinen Tricks anwenden musste, um sie zu betonen. Zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild nickte sie, griff nach ihrem Mantel, der altbackenen Wollmütze und ihrem roten Schal. Dieser war eindeutig zu lang und so musste sie ihn zweimal um ihren schlanken Hals wickeln. Aber er gefiel ihr, da er unglaublich weich und angenehm zu tragen war. Sie stülpte die graue Wollmütze über ihren Kopf und schlüpfte eilig in ihren Mantel. Sie hatte sich an diesem Morgen zu viel Zeit gelassen und musste sich nun beeilen um pünktlich an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen. Hastig griff sie nach ihren Schlüsseln, trat auf den Flur, verriegelte und verschloss gründlich die Wohnungstür und eilte zwei Stockwerke nach unten bis ins Erdgeschoss. Schließlich trat sie durch die Haustür auf die Straße. Die Leute rannten im Eiltempo an ihr vorbei und einer von ihnen stieß sie sogar an. Empört drehte er sich im Gehen zu ihr und schüttelte nur den Kopf. Sie jedoch zuckte mit den Schultern und plötzlich wurde auch sie von der morgendlichen Alltagshektik gepackt. Eilends machte sie sich auf den Weg zur Arbeit und kurze Zeit später war sie in der, sich durch ganz New York ziehender, Menschenmasse verschwunden.

Als sie durch die Ladentüre trat, klingelte ein kleines Glöckchen über dem Türrahmen. Rasch kam eine etwas fülligere und ältere Dame aus einem kleinen Nebenraum gelaufen. Ruckartig blieb sie stehen, stemmte die Arme in die eher nicht vorhandenen Hüften und winkte ab. „Hannah, du kommst zu spät. Du weißt, dass ich das nicht gerne habe.“. „Ja ich weiß. Bitte entschuldigen Sie.“. Ein Lächeln huschte über das rundliche und altersgekennzeichnete Gesicht ihrer Arbeitgeberin und in einem heiteren Ton sagte sie: „Schon gut. Du wirst heute sowieso die Inventur erledigen. Da bleibt es nicht aus, dass du länger bleiben musst.“. Hannah stöhnte innerlich laut auf. Inventur. Alleine dieses eine Wort konnte ihr den gesamten Tag verderben. „Am besten fängst du gleich damit an.“. Hannah nickte nur, zog Mantel, Schal und Mütze aus und hängte sie auf einen alten Holzkleiderständer, der hinter der gläsernen Ladentür stand. Mrs. Mayer klopfte aufmunternd auf Hannahs rechte Schulter und ging wieder in ihr Büro, aus dem sie zuvor heraus gestürmt war. Dort saß sie den ganzen Tag an ihrem Schreibtisch und das jeden einzelnen Tag, seit Hannah hier arbeitete. Hannah hatte anfangs öfter einen Blick riskiert, um zu sehen, was die alte Dame dort täglich trieb, musste aber feststellen, dass es nichts Außergewöhnliches war. Mrs. Mayer las. Stunde um Stunde und Tag für Tag las sie und wälzte unzählige Bücher, während Hannah selbst den Laden mehr oder weniger alleine führte. Noch einmal seufzte Hannah auf, ging hinter die Ladentheke, nahm sich eine Warenliste, klemmte sie auf ein Brett und begann bei einem der vielen Regale zu zählen.

Hannah war gerade dabei ein weiteres Regal mit Waren zu überprüfen als ihr plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Vor Schreck zuckte sie zusammen, fuhr herum und blickte in Mrs. Mayers rundes aber freundlich strahlendes Gesicht. „Komm Kindchen, mach mal eine Pause. Es ist schon Mittag. Du solltest etwas essen gehen. Ich mache hier so lange weiter.“. Hannah warf einen ungläubigen Blick auf die Uhr, nickte nur abwesend und übergab ihre Liste an Mrs. Mayer. Sie zog erneut ihren Mantel, die Mütze und den Schal an und machte sich auf den Weg in ein kleines Restaurant, in dem sie jeden Mittag aß. Das Restaurant lag direkt um die Ecke und so konnte sie ihre Mittagspause stets optimal ausnutzen. Hannah betrat das überhitzte Lokal, ging zielstrebig auf ihren Tisch zu, an dem sie jeden Mittag saß und legte den Mantel auf den gegenüberliegenden Stuhl. Hier herrschte nie viel Umtrieb wobei dieser Tag keine Ausnahme machte. Hannah konnte das im Grunde nicht verstehen. Das Essen schmeckte hervorragend und das gesamte Ambiente war in sich stimmig. Ein typisches italienisches Restaurant. Weiß – Rot karierte Tischdecken waren überall ausgelegt, passend zu den Vorhängen an den kleinen Fenstern. Die Wände waren mit Holz vertäfelt und an ihnen hingen handsignierte Portraits von Frank Sinatra, Dean Martin und vielen mehr. Der Besitzer hatte ihr einmal erzählt, dass sein Restaurant früher alle Stars bewirtet hatte und sie alle hatten sich hier verewigt. Im Hintergrund liefen leise, aus einem kleinen Lautsprecher, die Hits der Verewigten der Wand und aus der Küche drangen leise Geräusche, die ihr das Gefühl gaben, dass es dort allerhand zu tun gab. Ebenfalls strömte ein appetitlicher Geruch aus der Pendeltür und langsam bekam Hannah Hunger. Die Beleuchtung war dezent und verströmte ein warmes und gemütliches Licht. An den besetzten Tischen flackerten kleine Tischkerzen, die penibel in der Mitte der runden Tische platziert waren. Ebenso stand auf jedem Tisch ein frischer Strauß Blumen, der ebenfalls einen leichten Geruch verströmte. Hannah war einfach gerne hier, weil sie sich wie zu Hause fühlte. Sie kannte das Personal und den Besitzer, unterhielt und scherzte gerne mit ihnen. Will, der Kellner, der sie täglich bediente, kam lächelnd auf sie zu und fragte höflich: „Hallo Hannah. Das Gleiche wie immer?“. Hannah begrüßte ihn ebenfalls lächelnd und nickte nur, um seine Frage zu beantworten. Er zückte ein Feuerzeug, zündete ihre Tischkerze an und als er in der Küche verschwunden war, sank Hannah in sich zusammen, stütze die Ellbogen auf dem Tisch ab und ließ ihren Kopf in die Hände gleiten. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie eintönig ihr Leben doch war. Ein Kellner nahm die Position eines ansatzweise näheren Bekannten ein und mehr gab es darüber auch nicht zu sagen. Diese Tatsache alleine war schon traurig genug, aber dass sie sich hier heimisch fühlte war noch trauriger. Sie arbeitete außerdem schon seit vier Jahren in dem gleichen Antiquitätengeschäft, das so gut wie keine Profite erzielte. Ihr Lohn war dementsprechend gering, aber dennoch liebte Hannah dieses Geschäft auf seltsame Weise. Es war klein und gemütlich eingerichtet. Die Luft erfüllte ein Duft von altem Papier der Bücher und noch älterem Holz. Es gefiel ihr den ganzen Tag von schönen und kleinen Kostbarkeiten umgeben zu sein, die alle voller Geschichten steckten. Mrs. Mayer hatte bei ihr die Stelle einer Art Ersatzmutter eingenommen und kümmerte sich um Hannah. Von Mrs. Mayer hatte sie viel über diese Antiquitäten, die sie verkauften, gelernt. Ebenso wie über die Menschheitsgeschichte und deren Mythen, die manchmal unweigerlich miteinander verknüpft waren. Hannah war sich sicher, dass Mry. Mayer nicht ein einziges wirklich unbezahlbares Stück in ihrem Laden führte, aber das war Hannah auch nicht wichtig. Sie mochte einfach nur die Geschichten und die geheimnisvolle Atmosphäre. Wenn sie nicht gerade dazu verdonnert wurde die Inventur zu erledigen, die meistens sowieso überflüssig war, schlenderte sie im Laden herum und betrachtete die Kunstgegenstände eingehen. Die alltägliche Langeweile war ihrer Fantasie allerdings zuträglich und so malte sie sich zu jedem einzelnen Stück eine Geschichte aus. Das machte ihren Alltag erträglicher und manchmal sogar aufregend.

Dennoch widersprach ihre Realität allem, was sie sich jemals zum Ziel gesteckt hatte. Nach der Arbeit ging sie stets nach Hause, machte sich ein Mikrowellenessen warm, saß vor dem Fernseher, ging ins Bett und schlief bis sie wieder aufstand um zu Arbeit zu gehen. Als eintönig und langweilig würde sie ihr Leben bezeichnen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob das wirklich schlecht war. Natürlich, in ihrer Jugend hatte sie viele Träume, aber wer konnte schon von sich behaupten jeden Traum gelebt zu haben, den er einst hatte? Immerhin, das musste sie sich zugute halten, passierte ihr auch nichts Schlechtes, was definitiv von Vorteil war. Allerdings war es sehr schwer ihre Neugierde zu bändigen. Ihre Neugierde auf die Kehrseite der Medaille des Lebens. Schließlich hatte alles zwei Seiten und bisher war sie sich nicht sicher ob sie auf der guten oder schlechten davon lebte. Es war ernüchternd das Gefühl zu haben, dass das Leben nicht mehr für sie zu bieten hatte als das. Vielleicht hatte Hannah das Mädchen von diesem Morgen unter dem Fenster einfach nur um ihre Träume beneidet, denn sie selbst hatte schon seit Jahren keine mehr. Wie sie so geworden war, konnte sie sich selbst nicht begründen, aber eines stand fest: Sie war einsam und ihr Leben war langweilig. Einsam war sie aus der Entscheidung heraus geworden, weil sie noch nicht den Mann gefunden hatte, der zu ihr passte und sie die Suche resignierend aufgegeben hatte.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.09.2008, 11:20   #3
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Kapitel 1 / Teil 2

Gegen diesen Zustand etwas zu unternehmen, fehlte ihr die Motivation und schlicht weg die Lust. Eigentlich konnte sie gut mit ihrer Einsamkeit leben und war auf irgendeine Art und Weise auch zufrieden mit ihrer Entscheidung. Aber sie war sicherlich im Stande die Langeweile aus ihrem Leben zu vertreiben, glaubte sie. Ein bisschen Abwechslung hatte schließlich noch niemand geschadet und was sollte schon Verheerendes geschehen, wenn sie dem Alltag entfloh? Wenigstens für ein paar Tage. Vielleicht wäre ein Urlaub auf einer tropischen Insel das Richtige. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paar Dollar gespart um sich einen neuen Wagen leisten zu können. Doch wenn sie es sich recht bedachte machte ein eigener Wagen in dieser Stadt absolut keinen Sinn. Sie lief jeden Tag nur 2 Blocks zur Arbeit und dafür brauchte man schließlich kein Auto. Hannah kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass sie sowieso nie irgendwo damit hinfahren würde, weil sie weder Familie, Freunde noch Bekannte innerhalb sowie außerhalb der Stadt hatte. Sie konnte sich nicht einmal mehr an den Grund erinnern, warum sie überhaupt auf die Idee gekommen war, einen Wagen unbedingt zu brauchen. Mit jeder weiteren Minute kam ihr der Gedanke an weiße Sandstrände, bunte Cocktails, hochgewachsenen und schattenspendenden Palmen, dem blauem Meer und strahlender Sonne immer verlockender vor. In diesem Moment fasste sie den Entschluss nach Feierabend im Internet nach einigen Reiseangeboten Ausschau zu halten. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich irgendwohin fliegen sollte, aber die Internetrecherche alleine war sicher schon eine gelungene Abwechslung und vielleicht ein erster Schritt.

Grob wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als Will mit einem Teller dampfender Nudeln auf sie zukam und diesen vor ihr auf den Tisch stellte. Ebenfalls servierte er einen kleinen Teller mit einem gemischten Salat und anschließend goss er kühles Mineralwasser in ein Glas, das sofort durch den Temperaturunterschied beschlug. Wie gewohnt legte er ihren Mantel auf einen Stuhl der zu einem der Nebentische gehörte und setzte sich ihr gegenüber. „Na, wie geht´s dir heute?“, fragte er interessiert und lächelte dabei freundlich. Will lächelte immer freundlich. Anfangs hatte Hannah geglaubt, dass es sich hierbei nur um eine Berufskrankheit handelte, aber mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um einschätzen zu können, ob er es nun ernst meinte oder nicht. In ihrer Gegenwart meinte er es immer ernst, das hatte sie schon nach kurzer Zeit bemerkt. „Gut, wie jeden Tag.“, lachte Hannah, während sie begann zu essen. „Das freut mich, obwohl ich dir nicht glaube.“, scherzte er. Nach einer kurzen Pause atmete er tief durch und fragte: „Gehst du heute Abend mit mir aus?“. Hannah wandte ihren Blick von den Nudeln ab und sah Will in die Augen. Seine braunen und weich wirkenden Augen sahen sie hoffnungsvoll und wartend an. „Irgendwann.“, antwortete Hannah und lächelte. „Natürlich, wie konnte ich auch etwas anderes erwarten, als die Antwort, die du mir jeden Tag gibst.“, schmunzelte er. Schon vor Monaten hatte Will begonnen sie jeden Mittag zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte. Stets erhielt er dieselbe Antwort. Anfangs hatte es ihn in seinem Selbstbewusstsein erschüttert; das hatte sie ihm angesehen. Objektiv betrachtet war er ein wahnsinnig gutaussehender Mann und war es sicherlich nicht gewohnt ständig eine ihm nicht zusagende Antwort zu erhalten. Doch mittlerweile war dies eher eine freundschaftliche Scherzfrage, die zu einer gewissen Art von Tradition geworden war. Zugegebenermaßen hatte sie am Anfang wirklich darüber nachgedacht, ob sie seine Einladung annehmen sollte. Will war nur zwei Jahre älter als sie und würde in drei Wochen seinen 29. Geburtstag feiern. Das brachte sie auf die Frage, ob sie so „eng“ miteinander befreundet waren, dass sie ihm, zu diesem bevorstehenden Anlass, ein Geschenk kaufen sollte. Vielleicht. Sie kehrte von ihren Überlegungen wieder zurück in das Moment und musterte ihn, wie schon so oft. Er war groß, breitschultrig und muskulös. Seine braunen Augen vermittelten ihr stets ein Gefühl von Geborgenheit. Dieses Gefühl wurde durch seine maskulinen Gesichtszüge auf seltsame Weise noch verstärkt. Seine Kieferknochen waren markant und prägten sein Gesicht. Er trug einen leichten Dreitagebart, der aber nicht ungepflegt wirkte. Seine Hände waren ebenfalls gepflegt und immer sauber, ebenso wie sein Hemd. Eigentlich wäre er eine gute Partie gewesen, aber bisher hatte sie in ihrem Leben nur Nieten gezogen und nahm deshalb davon Abstand zu hoffen, dass Will vielleicht der Hauptgewinn war. Aber Äußerlichkeiten zählten nun einmal nicht. So begnügte sie sich damit eine annähernd gute Freundschaft mit ihm zu pflegen, jeden Mittag einen Smalltalk mit ihm zu halten und seine Einladungen stets abzuweisen.

Hannah plauderte noch ein wenig mit Will dem Kellner und machte sich schließlich wieder zurück an die Arbeit. Die Inventur wartete auf sie. Diese lästige Aufgabe zog sich bis kurz nach 20 Uhr hin. Kurz bevor sie von Mrs. Mayer entlassen wurde, kam noch ein Bote, der ein paar kleine Antiquitäten anlieferte. Hannah quittierte den Lieferschein und legte die verpackten Waren auf den Verkaufstresen. Es waren nur kleine und leichte Päckchen, die mit braunem Papier umhüllt waren. Sicher handelte es sich nur um ein paar kleine Schmuckgegenstände. Hannah klopfte an die Bürotür obwohl diese einen Spalt offen stand. Durch ihn konnte sie ihre Vorgesetzte sehen, wie sie an ihrem Schreibtisch saß und sich über ein Buch lehnte. Ihre Augen waren im Alter immer schlechter geworden und so trug sie eine dickglasige Brille auf ihrer Nase, die ständig dazu neigte nach unten abzurutschen. Mrs. Mayer schnaubte jedesmal und schob die Brille reflexartig wieder nach oben. Irgendwie erinnerte dieses Bild an einen Maulwurf aus einem Kinderzeichentrickfilm. Hannah schmunzelte und trat ein, nachdem Mrs. Mayer sie dazu aufgefordert hatte. „Es kam gerade noch eine Lieferung rein. Soll ich sie schnell auspacken und in einer Vitrine unterbringen?“. Mrs. Mayer war sichtlich von dem Buchinhalt gefesselt und ohne aufzusehen winkte sie ab und murmelte: „Nein, nein. Schon gut. Ich werde das selbst machen bevor ich nach Hause gehe.“. Hannah nickte, verabschiedete sich und zog die Bürotür hinter sich wieder zu. Erleichtert, endlich nach Hause gehen zu dürfen, zog sie sich an und trat auf die dunkle Straße hinaus, während sie von dem Glöckchen über der Tür klingelnd verabschiedet wurde. Es war spürbar kälter geworden und sie zog sich die Mütze bis über die Ohren und den Mantelkragen bis unter das Kinn und machte sich auf den Heimweg.

Es war bereits 22 Uhr als Hannah erschöpft in ihr Bett sank. Sie schloss die Augen und schlief mit dem Gedanken ein, dass sie eigentlich noch ein Urlaubsziel für sich auszuwählen auswählen wollte. Aber das war nichts, was sie nicht auch noch am nächsten Tag hätte erledigen können.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.09.2008, 09:10   #4
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Kapitel 2

Kapitel 2

Der nächste Morgen begann wie jeder andere Morgen auch. Hannah trank zwei Tassen Kaffee, beobachtete das geschäftige Treiben auf den Straßen und rauchte eine Zigarette. Wie so oft war sie auch an diesem Tag etwas zu spät dran. Sie schaffte es einfach nie pünktlich auf die Minute durch die Ladentür zu treten. Das Glöckchen klingelte leise wie gewohnt, doch an diesem Tag war etwas anders. Mrs. Mayer trat nicht durch ihr Büro in den Laden und tadelte sie. Hannah zuckte mit den Schultern, hängte ihren Mantel an dem Kleiderständer auf und ging langsam in das Büro von Mrs. Mayer. Keine Spur von ihr. Seltsam. Hannah ging durch den Laden und sah sogar noch im Lager nach, aber Mrs. Mayer war nirgendwo aufzufinden. Aber sie war definitiv schon hier gewesen, denn das „geöffnet“ Schild hing im Fenster und die Ladentür war ebenfalls aufgeschlossen worden. Vielleicht holte sie sich ein verspätetes Frühstück in einem der Backshops. Hannah ging hinter die Verkaufstheke und überlegte was sie nun tun sollte. Die Inventur war abgeschlossen und für gewöhnlich stand sie einfach nur herum, staubte die Kunstgegenstände ab, fegte den Raum aus oder putzte die Ausstellungsvitrinen. Hannah öffnete die Glasplatte der Theke und drapierte die darin liegenden Schmuckstücke neu. Sie legte sorgfältig und ordentlich die Preisschilder zurecht. Sie waren dezent und nicht zu auffällig. Schließlich sollte der Kunde nicht gleich eine drei- oder vierstellige Zahl sehen, sondern erst Gefallen an dem eigentlichen Stück finden. Nachdem sie nur eine Stunde für das neue Arrangement gebraucht hatte, griff sie nach einem Staubwedel und begann die Regale von dem Staub zu befreien, der sich sehr zu Hannahs Leidwesen regelmäßig dort absetzte. Besonders knifflig waren hierbei die Porzellanvasen, die einen besonders schmalen Hals und tiefen Bauch hatten. Hannah machte sich mit der Zeit große Sorgen um Mrs. Mayer. Sie war normalerweise immer als Erste im Laden, öffnete ihn und brütete schon über der Morgenzeitung bevor Hannah es pflegte auszustehen. Wo war sie nur?

In Gedanken versunken bemerkte Hannah nicht das klingelnde Türglöckchen. Sie war gerade dabei ihre Hand mit dem Staubwedel in eine Vase zu schieben, als hinter ihr eine tiefe Stimme rief: „Hallo? Ist jemand hier?“. Hannah erschrak zu Tode, kreischte kurz auf und zog somit die Aufmerksamkeit des Kunden auf sich. Der Mann machte zwei Schritte und schielte um eine Ausstellungsvitrine. Hannah wirbelte erschrocken herum und in dieser unbedachten Bewegung entglitt ihr die Vase und klirrte dumpf als sie auf dem Boden aufschlug. Hannah starrte die Vase fassungslos an, während der Kunde versuchte sie in einem sanften und beschwichtigenden Ton anzusprechen: „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“. Hannah versuchte ihre Fassung wieder zu erlangen. Sie war einfach zu schreckhaft, konnte sich diese Eigenschaft jedoch nicht erklären. Ihr Blick wanderte von der zerbrochenen Vase über den Boden, hielt bei seinen Schuhen an und folgte den Beinen, über den Rumpf bis hin zu seinem Kopf. Jetzt sah sie ihn direkt in die Augen und meinte in gedämpfter Stimme: „Es war doch nicht Ihre Schuld.“. „Ich möchte die Vase bitte ersetzen.“. „Nein, das kommt nicht in Frage. Wie kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte Hannah, die wieder ihre Fassung erlangt und sich nun darauf besonnen hatte, ihre eigentliche Arbeit zu tun. Der Mann zögerte kurz, antwortete aber dann: „Nun ja, ich habe vor einer Woche mit Mrs. Mayer telefoniert und ein ganz besonderes Schmuckstück geordert. Sie sagte mir ich solle es heute abholen.“. Hannah nickte, lächelte höflich und begab sich hinter die Theke. „Ich werde nach der Artikelnummer suchen. Dazu müssen Sie mir nur noch Ihren Namen verraten.“. Zögerlich wandte er ein: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mit dieser Angelegenheit vertraut sind.“. Hannah musste sich ein Lachen verkneifen und antwortete höflich: „Ich bin mit allen Angelegenheiten hier bestens vertraut. Ich finde ihr Schmuckstück schon.“. Erwartungsvoll sah sie ihn an und wartete darauf, dass er ihr endlich seinen Namen nannte. Innerlich fand sie sein Verhalten äußerst kindisch. Schließlich war es nur ein Schmuckgegenstand und kein Picasso- Gemälde. Er öffnete schließlich seinen Mund und heraus kamen die zögerlichen Worte: „Mein Name ist Charles Barbery von Hilgram und ich habe eine besondere Halskette mit einem Amulett bestellt.“. Hannah nickte, lächelte und versuchte sich zusammenzureißen um nicht laut loszulachen. Einen so ulkigen und lächerlichen Namen hatte sie noch nie gehört. Sicher war es ein selbsternannter Adliger aus England; vermutete sie spöttisch. Engländer hielten sich stets für etwas Besonderes, dabei trugen die meisten von ihnen ihren Kleiderbügel unter dem Anzug spazieren. Hannah fand die Artikelnummer recht schnell und suchte in der Warenliste nach dem Eingang und dem Lagerplatz. Es war kein Ausstellungsstück und ebenso gab es keinen Lagereintrag über diese Nummer. „Tut mir leid, aber ich finde hier keinen Eintrag. Dann ist das Stück wohl noch nicht bei uns angeliefert worden.“. Hannah stockte kurz und überlegte. Die vergangene Lieferung am Abend war sicher noch nicht in der Liste eingetragen und so sagte sie: „Einen Moment bitte. Gestern Abend bekamen wir noch eine Lieferung. Ich werde nachsehen ob Ihre Bestellung dabei war.“. Der Kunde nickte nur und wurde langsam merklich nervös. Hannah ging in Mrs. Mayers Büro und überlegte fieberhaft wo ihre Vorgesetzte die neue Ware untergebracht haben könnte. Hannah wühlte auf ihrem Schreibtisch, sah in den Regalen nach und wurde schließlich fündig. Die kleinen braunen Pakete lagen auf dem obersten Regalbrett. Hannah streckte sich und holte die Päckchen herunter. Als sie wieder in den Laden kam, legte sie die Pakete sorgsam auf den Tresen und begann eines nach dem anderen zu öffnen. Ab und zu warf sie einen verstohlenen Blick auf den gutaussehenden Mann, der ihr gegenüber stand. Er war hochgewachsen, hatte volles und rabenschwarzes Haar, das jedoch modisch kurz geschnitten worden war. Seine Schultern waren breit und luden förmlich dazu ein, sich mit dem Kopf daran zu schmiegen. Er wirkte angespannt und wippte leicht von einem Fuß auf den anderen. Seine hellblauen Augen hatten eine durchdringende Wirkung und vermittelten ihr ein unheimliches Gefühl, dass durch die markanten Gesichtszüge noch unterstützt wurde. Seine Wangen waren glattrasiert und ohne Makel und die ansatzweise sichtbaren Zähne seines höflichen Lächelns waren ebenso perfekt wie der Rest. Zudem schien er noch Geschmack in Modefragen zu beweisen, denn er war außerordentlich gut gekleidet und sein Anzug zeugte von Selbstbewusstsein, Stärke und auch Reichtum. Alles in allem verkörperte er ein absolut perfektes und männliches Idealbild. Er war einer dieser Männer, die in Frauenfantasien in einer schimmernden Rüstung auf einem weißen Schimmel in den Turm ritten, gegen Drachen kämpften und letztlich die Prinzessin retten. Hannah lachte innerlich auf. Diese Vorstellung war zu kitschig, dennoch konnte sie nicht leugnen, dass er eine wahnsinnig männliche und heldenhafte Ausstrahlung an den Tag legte. Fast unwiderstehlich sogar. Schließlich besann sie sich wieder auf ihre Arbeit und machte sich daran das letzte Paket vorsichtig zu öffnen. Die Anspannung des Kunden übertrug sich auf sie und sie hoffte, dass das Gesuchte sich unter dem braunen Verpackungsmaterial verbarg. Als sie auch dieses Paket geöffnet hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an. Er erwiderte ihren Blick, der allerdings von enttäuschter Natur war. „Ist Ihre Bestellung nicht dabei?“, frage Hannah sicherheitshalber, obwohl sie die Artikelnummern verglichen und selbst bemerkt hatte, dass dies nicht der Fall war. Der Mann schüttelte den Kopf und sagte etwas heißer: „Nein. Leider nicht.“. Hannah sah ernüchtert zu Boden und wusste nicht, was sie nun sagen sollte. „Vielleicht ist ja bei der morgigen Lieferung etwas dabei. Macht es Ihnen etwas aus morgen noch einmal vorbeizukommen? Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.“. Er nickte erneut und sagte energisch: „Der Gegenstand ist von äußerster Wichtigkeit für mich. Ich werde morgen wieder kommen in der Hoffnung, dass er angeliefert wurde.“. Hannah konnte ihm seine Enttäuschung, die einen leichten Geschmack von Wut inne hatte, ansehen. Gut, diese Situation war ärgerlich für ihn. Vielleicht brauchte er ein Präsent für den Geburtstag seiner Frau oder etwas in dieser Art, aber sie konnte schließlich nichts dafür, dass seine bestellte Ware noch nicht da war. Er nahm sich sichtlich zusammen weiterhin höflich zu bleiben und alleine diese Tatsache, dass Hannah ihm das ansah, machte sie nicht minder wütend. Doch auch sie riss sich zusammen, legte ein gespieltes Lächeln auf und bedankte sich für sein, im Grunde nicht vorhandenes, Verständnis. Er tippte sich förmlich an den schwarzen Hut, machte andeutungsweise eine kleine Verbeugung und verließ wortlos das Geschäft. Hannah war zuerst etwas ratlos und anschließend fassungslos. Auf irgendeine Art war er höflich und zugleich machte er sie wütend, da sie wusste, dass seine Förmlichkeiten nur aufgesetzt waren. Auf der anderen Seite war er ihr äußerst unheimlich. Ihn umgab etwas Undurchschaubares und wenn sie eines gelernt hatte, dann das, dass stille Wasser tief waren. Dadurch, dass man diese Menschen so schlecht einschätzen konnte, wurden sie auf seltsame Weise bedrohlich. In der Natur des Menschen lag es schließlich, Unbekanntes zu fürchten. Hannah schüttelte unbewusst den Kopf und sammelte sich etwas. Im Grunde war diese Szene eine normale und alltägliche gewesen, aber an diesem Tag war irgendwie alles anders und seltsam. Das brachte sie wieder zu der Frage, wo Mrs. Mayer eigentlich blieb. Es war schon kurz vor 12 Uhr und es gab noch immer kein Lebenszeichen von ihr.

Schließlich machte sich Hannah daran, die Scherben der zerbrochenen Vase aufzusammeln und die kleinen, übrig gebliebenen Splitter von dem alten Holzboden aufzukehren. Anschließend fuhr sie damit fort die Regale und Kunstgegenstände abzustauben.

Zwei Stunden später schellte das Ladenglöckchen erneut und Hannah vernahm hinter ihr schwere Schritte. Die Holzdielen knarrten und sie hoffte, dass Mrs. Mayer nun endlich den Laden betreten hatte. Hannah kroch aus einer Ecke hervor in der sie die Spinnweben beseitigt hatte, die an der Unterseite einer Sitzgelegenheit gesponnen worden waren, hervor und lugte in den Raum hinein. Sie kauerte noch immer auf allen Vieren als ihr Blick auf Will haften blieb. Überrascht zog sie ihre Augenbraue nach oben und fragte: „Was machst du denn hier?“. Will lächelte wie gewöhnlich und reichte ihr seine Hand um ihr aufzuhelfen. „Du warst heute nicht im Restaurant. Ich habe mir Sorgen gemacht und dachte ich schau mal bei dir vorbei. Ich hab auch was zu essen mitgebracht.“. Hannah begann zu lächeln. Das war einfach zu lieb von ihm und kurz flackerte ein leichtes Gefühl von Zuneigung in ihr auf, das sie jedoch schnell wieder unterdrückte. Sie musterte ihn und bemerkte erstaunt, dass sie Will noch nie in legerer Freizeitkleidung gesehen hatte. Er trug eine Jeans, die seine muskulösen Beine betonte, sei es nun von ihm gewollt oder nicht. Jedenfalls stand sie ihm wahnsinnig gut. Darüber trug er ein einfaches weißes Hemd, dessen Kragenknopf offen stand und ein Stück seiner Schlüsselbeine und der weißen Haut entblößte. Darüber trug er einen eleganten, knielangen und schwarzen Mantel, dessen Kragen er nach oben gestülpt hatte. Hannah griff nach seiner Hand und ließ sich von ihm nach oben auf die Beine ziehen. Mit einem sanften Ruck stand sie nun nur weniger millimeterweit von ihm entfernt und erhaschte den Geruch seiner Haut, der für einen Moment in ihre Nase stieg. Er roch einfach unwiderstehlich gut, stellte sie zu ihrem eigenen Entsetzen fest. Sie versuchte die ungebührlichen Gedanken an Will aus ihrem Kopf zu verbannen, lächelte ihn geistesabwesend an und sagte fast schon in einem Flüsterton: „Danke. Das ist sehr nett von dir.“. Will lächelte und meinte: „Ich habe dein Essen auf die Theke gelegt.“. Hannah bedankte sich noch einmal und ging hinter den Tresen. Auf ihm lag eine durchsichtige Plastiktüte in der sich eine dampfende Aluminiumschale befand. Während sie den Deckel der Aluminiumschale öffnete und mit einer Plastikgabel, die Will vorsorglich mit in den Plastikbeutel gepackt hatte, in den heißen Nudeln herumstocherte, erzählte Will ihr, was an diesem Tag im Restaurant passiert war. Nichts. Wie immer. Unhöfliche oder zuvorkommende Gäste, kleines oder großes Trinkgeld, ein paar angebrannte Kartoffeln und zerbrochene Weinflaschen. Während sie sich gegenüber standen, Hannah aß und Will berichtete, kam ihr ein ungewöhnlicher Gedanke. Dieses Moment fühlte sich auf unerklärliche Weise wie „Ehe“ an. Zumindest stellte sie es sich so vor. Am Abend, nach getaner Arbeit, in vertrauter Zweisamkeit gemeinsam an einem Tisch sitzen und von den langweiligen Alltagsereignissen erzählen. Ein Gefühl von Geborgenheit und Sehnsucht breitete sich in ihr aus. Sicher, der Gedanke an eine Ehe war erschreckend. Besonders der Teil mit „auf ewig gebunden bis dass der Tod scheidet“. Aber momentan traten ihr nur positive Aspekte vor Augen. Es war sicherlich tröstlich nicht alleine zu sein, wenn man die Wohnungstüre öffnete, oder an einem kalten Wintermorgen bereits der Kaffeeduft in der Luft lag, während man selbst noch in dicke Decken gekuschelt im Bett lag. Die gegenwärtigen Worte von Will verschwammen immer mehr und Hannah versank in tiefen Gedanken, bei denen sie sich nicht im Klaren war, ob Will das Subjekt ihrer Sehnsucht war oder einfach nur der generelle Wunsch nach einer mehr oder weniger glücklichen Beziehung.

„Hannah?“. Will sah sie erwartungsvoll und mit nach oben gezogenen Augenbraue an. Hannah vergegenwärtigte ihren Verstand und sah ihn irritiert an. „Wie bitte?“, fragte sie. „Ich wollte wissen wann du Feierabend hast und ob ich dich nach Hause begleiten soll.“, wiederholte in ruhigem Ton. „Ich weiß nicht. Mrs. Mayer ist heute noch nicht aufgetaucht. Ich sollte hier warten, bis sie kommt um den Laden zu schließen.“. Will nickte und nahm die Körperhaltung eines Aufbrechendes ein. „Gut. Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.“, sagte er lächelnd, hob seine Hand zum Gruß und trat durch die Tür auf die Straße. Hannah beobachtete ihn, wie er draußen seinen Mantel zuknöpfte, eine Mütze aus der Tasche zog, sie überstülpte und im Gehen fast einen Zeitungskasten überrannt hatte. Er stieß sich den Fuß und an seiner Mimik erkannte sie, dass er leise vor sich hin fluchte. Hannah begann zu lachen und blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war.

Circa eine Stunde später klingelte das Ladentelefon. Hannah legte ihren Wischmopp beiseite und stürmte zum Apparat. Sie meldete sich mit ihrem Namen, dem Namen des Geschäftes und fragte anschließend: „Was kann ich für Sie tun?“. Am anderen Ende der Leitung gab sich ein gewisser Herr Bentwood zu erkennen, der Arzt im städtischen Krankenhaus war. Er informierte Hannah darüber, dass Mrs. Mayer einen Herzinfarkt erlitten habe. Ein Kunde habe wohl vom Geschäft aus einen Krankenwagen gerufen, nachdem er Mrs. Mayer bewusstlos in ihrem Büro vorgefunden hatte. Weiterhin erklärte er ihr, dass sie operiert worden und vor einer Stunde aus der Narkose aufgewacht war. Sie hatte darum gebeten, dass jemand Hannah über ihren Zustand aufklärte. Außerdem ließ Mrs. Mayer Hannah ausrichten, wo sich der Zweitschlüssel des Ladens befand und dass sie den Laden pünktlich schließen sollte. Nach dieser Informationswelle atmete Hannah zuerst tief durch. Sie löcherte den Arzt nach dem Befinden ihrer Vorgesetzten und er versicherte ihr, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ginge. Hannah verdrehte die Augen und schnaubte leise. Das sagten alle Ärzte. Es war ihre Möglichkeit auszudrücken, dass sie nicht genau wussten, ob der Patient überlebte oder nicht. Hannah bekam plötzlich Angst. Was war, wenn Mrs. Mayer nicht wieder kommen würde? Wenn sie sterben würde? Was passierte dann mit dem Geschäft und ihr? Sie schüttelte heftig den Kopf in der Hoffnung mit dieser Geste die schrecklichen Gedanken um die Zukunft zu verbannen. Der Arzt hielt sich kurz angebunden und legte auf, nachdem er Hannah über den Zustand von Mrs. Mayer grob aufgeklärt hatte. Schließlich legte Hannah den Hörer auf die Gabel und starrte ins Leere. Fassungslos und starr stand sie da und überlegte was sie nun tun sollte. Sie musste die lästigen und schrecklichen Gedanken abschütteln und wenigstens versuchen den Tag gut zu überstehen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie ein solcher Vorfall so sehr mitnehmen würde. Aber Mrs. Mayer war nun mal so etwas wie ihre beste Freundin und Mutter. Ohne sie würde sie ganz alleine sein. Dieser Gedanke war einfach unerträglich, denn dann war sie wirklich alleine auf dieser Welt. Hannah versuchte sich zusammenzunehmen, nicht mehr daran zu denken und ging halbherzig ihrer Arbeit nach.

Wenig später kündigte sich ein Kunde durch das Klingeln der Ladenglocke an. Hannah straffte sich etwas, legte ein freundliches Lächeln auf und ging zur Verkaufstheke. Erleichtert stellte sie fest, dass es sich um keinen Kunden handelte sondern lediglich um einen Lieferanten. Ihr künstliches Lächeln verschwand sofort wieder nun stand sie vor dem Boten und blickte ihn fragend an. Er begrüßte sie, reichte ihr sein Klemmbrett auf dem sie die Warenannahme quittierte und überreichte ihr anschließend ein kleines Paket. Wortlos tippte er sich an seine Kappe und verließ wieder den Laden. Hannah hingegen ging hinter den Tresen und öffnete das Paket, das in etwa die Größe eines Buches hatte. Nachdem sie das braune Verpackungsmaterial entfernt hatte, kam eine dunkle Holzschatulle zum Vorschein. Vorsichtig öffnete sie die Schachtel, hob das dickseidene Tuch, das die Ware vor dem harten Holz schützen sollte, an und sie erblickte eine goldene Kette mit einer Medaille als Anhänger. Die Kette war feingliedrig und glänzte beeindruckend. Das Amulett war ebenfalls aus feinstem Gold und von Hand gearbeitet. Auf der Vorderseite war eine wunderschöne Frau abgebildet, die unter einem breitkronigen Baum stand und deren langes Haar bis zum Boden reichte. Sie schien nach einer Frucht zu greifen, die einem Apfel glich. Am unteren Rand der Medaille befand sich eine kleine, feine und fast unlesbare Inschrift. Hannah kniff die Augen zusammen und sah genau hin. Die Inschrift war von einer ihr unbekannten Sprache und glich einer wirren Buchstabenkombination. Sachte hob sie das Medaillon an und drehte es. Auf der anderen Seite war überraschenderweise ebenfalls ein Relief eingearbeitet. Es zeigte eine Art Drache, der sich schlängelte und zornig dreinblickte. Er stand ebenfalls unter einem Baum, der aber keine Blätter trug. Der Drache streckte sich ebenfalls zu dem Baum empor und versuchte anscheinend nach etwas zu greifen, das einer Krone ähnelte. Auch auf dieser Seite der Medaille befand sich eine, für Hannah, unlesbare Inschrift. Das Schmuckstück an sich war wunderbar gearbeitet. Mit Liebe und Sorgfalt. Ein außergewöhnliches Stück und sicher war es sehr wertvoll. Ehrfürchtig legte Hannah das Seidentuch wieder auf die Kette und schloss das Holzkästchen. Sie verstaute die Schatulle in einer Schublade unter dem Tresen und warf anschließend einen Blick auf ihre Armbanduhr. In einer Stunde konnte sie endlich den Laden schließen und nach Hause gehen.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.09.2008, 23:13   #5
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Kapitel 3

Kapitel 3

Hannahs Abend brachte nichts Außergewöhnliches mit sich. Pünktlich schloss sie den Laden und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs kaufte sie sich noch schnell, an einem der zahlreichen Kiosk, eine Schachtel Zigaretten und einen Hotdog, den sie genüsslich im Gehen verzehrte. Anschließend zündete sie sich noch eine Zigarette an und zügelte etwas ihr Schritttempo. Normalerweise rauchte sie nur zu ihrem morgendlichen Kaffee, doch an diesem Tag konnte sie ruhig eine Ausnahme machen, denn er war ohnehin schon schwer genug. Nicht nur die Sorge um Mrs. Mayer drückte ihr Gemüt sondern auch die Verantwortung, die sie nun zu tragen hatte. Sicher, sie kannte alle Aspekte des Antiquitätengeschäfts, dennoch war es als eine Art Lebenswerk von Mrs. Mayer zu betrachten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie die Verantwortung für etwas derart Wichtiges getragen und das ohne auf irgendeine eine Hilfe zurückgreifen zu können. Sie stand alleine da. Dieses Gefühl war einfach zu erdrückend. Hannah beschloss am nächsten Mittag zu Mrs. Mayer ins Krankenhaus zu fahren, um zu sehen ob sie wohl auf war und sich erholte.

Am darauf folgenden Morgen stand Hannah in aller Ruhe auf und ließ sich erheblich mehr Zeit als sonst. Gemütlich trank sie ihren Kaffee, rauchte und saß auf ihrem kleinen Fensterbrett. Die Sonne brach durch die Wolkenkratzer und bahnte sich den Weg in die Straßen. New York lag unter einer dicken Schneedecke und sorgte dafür, dass die Räumungs- und Streufahrzeuge wieder allerhand Arbeit hatten. Für gewöhnlich würde weißer Schnee in der Sonne herrlich funkeln, aber New Yorker Schnee war grau und verschmutzt. Dieser Morgen war herrlich klar und kalt, die Sonne schien kräftig und keine Wolke war am Himmel zu sehen. Es war windstill und auf seltsame Weise erschien Hannah die Welt heute ruhig. Fast schlafend. Dabei waren die Straßen wie immer verstopft, Lärm schallte an den Wänden der hohen Gebäude ab und drang bis an ihr Fenster. Das hektische Treiben blieb zwar das Selbe, doch Hannah ließ sich an diesem einen Tag nicht davon anstecken. Während sie unter der Dusche stand begann sie sogar zu summen. Irgendeine Melodie, die aus wirren Noten bestanden, die ihr gerade in den Sinn gekommen waren. Erstaunlicherweise hörte es sich nicht einmal so grauenvoll an, wie sie erwartet hatte. Seltsamerweise fühlte sie sich ungewohnt unbeschwert und fröhlich, obwohl sie sich um Mrs. Mayer große Sorgen machte. Dieses emotionale Chaos machte ihr langsam etwas Angst. Nachdenklich föhnte sie ihre langen Haare und knetete die großen Locken etwas in Form. Objektiv betrachtet hatte sie schöne Haare. Sie waren lang, großlockig, kräftig und goldschimmernd. Von ihrem, meist zu fest sitzenden, Haarknoten bekam sie ohnehin häufig Kopfschmerzen und so beschloss sie ihre Haare öfter offen zu tragen.

Nachdem sich Hannah angezogen hatte und auf die Straße getreten war, atmete sie tief durch und machte sich gemächlich auf den Weg zur Arbeit. Kurze Zeit später stand sie vor der Ladentüre, wühlte in ihrer Handtasche, auf der Suche nach dem Schlüssel. Selbstverständlich fand sie ihn ganz unten in ihrer Tasche, nachdem sie erst allerhand Kram beiseite geschoben hatte. In dem Chaos der Tasche hatte sie einen etwas älteren Kaugummi gefunden, der aber noch den Anschein machte, als könnte sie ihn essen. Sie wickelte ihn aus dem glänzenden dünnen Papier, stecke ihn sich in den Mund, kaute kurz darauf herum und warf das Papier achtlos wieder in ihre Tasche. Die Sonne spiegelte sich in dem leicht, vom Straßenverkehr, verdreckten Schaufenster und blendete Hannah. Sie blinzelte kurz und bemerkte einen großen Schatten, der langsam hinter ihr auftauchte und sich ebenfalls in dem Fenster spiegelte. Hannah zuckte zusammen und ein kalter Schauer lief ihren Rücken herunter. „Guten Morgen.“, ließ der lange Schatten, mit männlicher Stimme, verlauten. Hannah legte die Hand über ihre Augen damit die Sonne sie nicht blendete und drehte sich langsam um. Sie blickte in die eisblauen Augen von dem hochnäsigen Engländer der einen Stock im Hintern spazieren trug. „Oh. Guten Morgen Mr. Barbery.“. Verwundert zog er seine Augenbraue nach oben und fragte: „Sie erinnern sich an meinen Namen?“. Hannah nickte und lächelte nur höflich. Wie konnte man einen solchen Snop vergessen? Sie wendete sich wieder zur Ladentüre, drehte den Schlüssel und ging in den Geschäftsraum. „Ich bin mir sicher, dass Ihre Bestellung gestern angeliefert wurde.“, rief Hannah, während sie ihren Mantel an den Kleiderständer neben der Tür hängte. Obwohl sie mit dem Rücken zu ihm stand konnte sie ein erleichtertes und leises Seufzen seinerseits hören. Er war herablassend zu ihr gewesen und das war eines jener Dinge, die sie verabscheute. Ein kleines gehässiges Lächeln glitt über ihre Lippen und langsam drehte sie sich zu ihm um. „Ich werde mich gleich auf die Suche danach begeben.“. Mr. Barbery von Hilgram sah sie etwas ungläubig an. Wie die Ruhe selbst schlenderte Hannah in den Lagerraum und schloss die Tür hinter sich. Leise nahm sie sich einen hölzernen Hocker und nahm Platz. Leise summte sie vor sich hin und tat schlichtweg gar nichts. Natürlich wusste sie, dass das Medaillon in einer Schublade der Verkaufstheke lag, denn sie selbst hatte es dort abgelegt. Aber da er sie so hochnäsig behandelt hatte, konnte sie ihn ruhig ein wenig zappeln lassen. Nach kurzer Zeit hörte sie, wie er immer lauter wie ein Pferd schnaubte und von einem Fuß auf den anderen trat. Er war einfach herrlich ungeduldig und sicher nicht gewöhnt, dass man ihn warten ließ. Zufrieden grinste Hannah, beschloss aber dann doch, ihn endlich zu erlösen. Mit aufgesetzter Ernsthaftigkeit kam sie wieder in den Geschäftsraum und fasste sich gespielt an den Kopf. „Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich hatte vergessen, dass ich Ihr Schmuckstück schon für Sie vorbereitet hatte.“. Sie schloss eine der Schubladen auf und zog vorsichtig das hölzerne Kästchen hervor. Mr. Barberys Augen weiteten sich und er wurde noch ungeduldiger. Zaghaft öffnete Hannah das Kästchen und hob das schwere Seidentuch. „Ist es das?“, fragte Hannah. Mr. Barbery nickte eifrig und sie sah ihm an, dass er am liebsten sofort danach gegriffen hätte. „Nun gut, ich werde es Ihnen noch schnell einpacken und den Beleg für Sie ausstellen.“. Er nickte und versuchte merklich sich zusammenzureißen. Hannah packte vorsichtig die hölzerne Schmuckschachtel in dunkles Papier ein und überreichte sie Mr. Barbery. „Das macht dann 500 Dollar.“, sagte sie. Er nickte heftig und zückte sein Portmonee. Nachdem er ihr fünf Hundertdollarscheine gegeben hatte, legte sie Hannah in die alte Registrierkasse und meinte: „Ich hole noch den Kaufbeleg. Einen Moment bitte.“. Damit verschwand sie in den kleinen Nebenraum, um ein vorgedruckten Beleg zu holen, denn wie immer hatte sie vergessen die Zettel nach neben der Kasse aufzufüllen. Als sie zurück kam, war Mr. Barbery verschwunden. Verdutzt sah sie sich im Laden um, konnte ihn aber nicht entdecken. Sie sah aus dem Fenster und konnte gerade noch einen Fetzen von seinen Mantel entdecken, der um eine Ecke flog. Hannah rannte aus dem Geschäft, schloss eilig die Ladentür und folgte ihm so schnell sie konnte. Sein Laufschritt war jedoch beachtlich an Tempo. Er bog in eine dunkle Seitengasse, in denen sich nichts weiter als ein paar Mülltonnen mit stinkendem Inhalt befanden. Sie hastete ihm hinterher während sie lauthals rief: „Mr. Barbery warten Sie! Sie haben ihren Kaufbeleg vergessen!“. Doch er schien sie nicht zu hören oder nicht hören zu wollen. Er riss das Paket ungeduldig auf, denn Hannah sah das dunkle Verpackungspapier zerfetzt zu Boden fallen. Erneut rief sie seinen Namen, doch er reagierte nicht. Sie blieb stehen, schnaubte und wollte gerade umkehren, als plötzlich ein seltsames kleines Licht aufflackerte, das einem Wetterleuchten ähnelte. Das seltsame Licht wurde immer heller und durchflutete die kleine und düstere Seitenstraße in Regenbogenfarben. Blitzartig explodierte der Lichtkegel.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.09.2008, 11:05   #6
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Kapitel 4 / Teil 1

Kapitel 4

„Lauft! Lauft um euer Leben!“, brüllte irgendjemand aus Leibeskräften. Hannahs Augen waren geschlossen und schmerzerfüllt fasste sie sich an den Kopf. Sie hatte solche Kopfschmerzen, dass es sich anfühlte als würde dieser gleich platzen. Der Untergrund, auf dem sie lag, war weich und relativ angenehm. Mehr konnte sie nicht sagen. Wahrscheinlich lag sie auf ihrem Sofa in ihre Wolldecke eingewickelt. Stöhnend setzte sie sich auf, wagte aber noch immer nicht ihre Augen zu öffnen und drückte sich mit beiden Händen den Kopf zusammen, während sie gleichzeitig versuchte die Schläfen mit den Daumen zu massieren. „Hilfe!“, hörte sie eine Frau schreien. Wo zum Henker war die Fernbedienung? Die Nachbarn freuten sich sicher, dass sie vor dem Fernseher eingeschlafen und dieser die ganze Nacht in einer solchen Lautstärke gelaufen war. Mit noch immer geschlossenen Augen versuchte sie die Fernbedienung zu finden, jedoch ohne Erfolg. Während dessen fragte sie sich, was sie in der vergangenen Nacht nur getrieben hatte, dass sich ihr Teppich so feucht anfühlte. Bissiger Rauch stieg ihr in die Nase und erschrocken riss sie die Augen auf. Feuer! Mit Entsetzen stellte sie fest, dass sie auf einer weiten Wiese am Rande eines Waldes lag. Hannah nahm sich zusammen und schnellte auf ihre Füße. Wo war sie? Perplex rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und blickte sich um. Erneut vernahm sie laute Schreie. Sie drehte sich um und erblickte dutzende von Menschen, die wie wild durch die Gegend rannten und versuchten die Brände zu löschen, die irgendwo ausgebrochen waren. Ein paar Meter nördlich von ihr hatten Hütten mit Strohdächern Feuer gefangen und die Flammen stiegen bis hoch in den Himmel. Die Menschen schleppten im Eiltempo Kübel, gefüllt mit Wasser, von einem Brunnen bis hin zu den in flammenstehenden Häuschen. Die Leute sahen lumpig und verdreckt aus. Ihre Kleidung war bäuerlich, schon fast mittelalterlich. Frauen trugen lange Wollkleider und weiße Schürzen, die völlig von Asche und Dreck verschmutzt waren. Kinder trugen zerrissene Hosen und ihre Knie sahen aus, als hätten sie sich in einem Schlammloch gewälzt. Die Männer waren unrasiert, ungekämmt und ihre Kleider waren ebenfalls völlig verdreckt. Wahrscheinlich rochen sie auch so wie sie aussahen. Hannah ließ ihren Blick schweifen und konnte nichts weiter als Wiesen, Wälder und dieses kleine Dorf, wenn man es so nennen wollte, entdecken. Wo zum Geier war sie hier? Wie kam sie hier her? Sie hatte diesen Ort noch nie gesehen. Wahrscheinlich träumte sie nur etwas Seltsames. Einer dieser Träume, die so real waren, dass man nach dem Erwachen Zeit brauchte, um wieder in die Wirklichkeit zurück zu finden. Sie spürte sogar die Wärme des Feuers und der bissige Rauch, der die Luft erfüllte, brachte sie zum Husten. Seltsam real war dieses Szenario. Weiterhin blieb sie wie angewurzelt stehen und sah zu, wie diese ärmlichen Menschen versuchten ihr, ebenso ärmliches, Heim zu retten. Schweine und Hühner sausten über den Marktplatz, der von den vielen Wasserträgern bereits, durch überschwappendes Wasser, aufgeweicht und matschig war. Sie quiekten angsterfüllt und suchten sich einen sicheren Unterschlupf. Hunde und Katzen flüchteten ebenfalls und verkrochen sich in irgendeiner Nische, die vom Feuer noch nicht in Besitz genommen worden war. Hannah hingegen ließ sich von diesem Chaos wenig beeindrucken, denn sie rechnete jeden Moment damit, aus ihrem Traum zu erwachen. „Er kommt zurück! Lauft weg! Rettet euch!“, brüllte eine männliche Stimme aus vollen Leibeskräften. Hannah sah sich gelassen um und konnte keine Gefahr entdecken. Schließlich gab es keinen Grund zur Panik, denn sie würde sicher gleich aufwachen. Ein dicker und ebenfalls verschmutzter Bauer rannte auf sie zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn und befleckte diese gleichzeitig mit Asche. „Flieht!“. „Warum?“, fragte Hannah wenig interessiert, da es sich nie lohnte, in einem Traum in Panik zu geraten. Der Mann rauschte an ihr vorbei und zeigte nur mit dem Finger in den Himmel, während er in den Wald flüchtete. Hannah folgte seinem Fingerzeig und blickte in den blauen und wolkenlosen Himmel. Plötzlich zog ein dunkler Schatten in Windeseile über den Himmel und verdeckte die Sonne. Sie drehte ihren Blick nach links und plötzlich entfuhr ihr aus voller Kehle ein lauter Entsetzensschrei. Eine riesige graue Kreatur flog über das Dorf, schlug mit den Schwingen und setzte zum Sturzflug an. Seine Haut war gepanzert wie Stein und aus diesem Panzer ragten lange Stacheln, an Rücken und Schwanz, heraus. Plötzlich riss er sein Maul auf und aus ihm sprühte eine regelrechte Feuerwalze und diese prasselte erneut auf das Dorf. Sofort fingen weitere Hütten Feuer und die Angstschreie der Menschen wurden noch lauter. Die Leute flüchteten in alle Richtungen und rannten um ihr Leben. „Ein Drache!“, brüllte Hannah. Ohne darüber nachzudenken rannte sie wie eine Furie dem dicken Bauer in den Wald hinterher. Das war unmöglich! Pure Panik und Adrenalin durchströmten ihren Körper und angsterfüllt erhöhte sie ihr Tempo. Sie rannte mehr als eine halbe Stunde, zumindest sagte ihr das ihr eigenes Zeitgefühl, ehe sie stoppte. Sie stemmte sie Hände in die Hüften, keuchte und beugte sich nach vorne. Ihre Lunge schmerzte und sie rang, aus der Angst heraus, gleich zu ersticken, panisch nach Luft. Ein Schwindelgefühl setzte ein und sie musste sich setzen. Wie ein nasser Sack ließ sie sich auf ihren Hintern fallen und versuchte ihre Atmung zu normalisieren, da bereits das Seitenstechen eingesetzt hatte. Ängstlich wagte sie einen Blick in den Himmel und stellte erleichtert fest, dass kein dunkler Schatten über ihrem Kopf kreiste. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, kniff sie sich in den Arm und schüttelte den Kopf. Wo war sie? Wie kam sie hier her? Woher kam dieser Drache? Sie nahm zumindest einmal an, dass es sich bei dieser Kreatur um einen Drachen handelte. Aus vielen Geschichten und Filmen kannte man jene Gestalten, aber diese Version war eindeutig noch viel grauenhafter. Die schuppige Haut war grau und sah irgendwie verbrannt und ascheüberzogen aus. Er hatte vier Beine oder Arme, je nachdem wie man es sehen wollte, die mit mehreren spitzen und langen Krallen bestückt waren. Sicher zerriss er damit seine Beute. Auf seinem Rücken und seinem Schwanz hatte sie lange Stacheln gesehen, die nur dazu einluden, dass man darauf aufgespießt wurde. Sein Maul war riesig gewesen, ebenso wie die langen und dicken Zähne und er hatte einen riesigen Feuerwall auf das Dorf gespuckt. Es war einfach unfassbar. Hannah kniff sich erneut in Arm und Bein und stellte anschließend zu ihrem vollkommenen Entsetzen fest, dass sie nicht träumte. Dies war Realität. Aber nicht ihre. Hannah dachte panisch nach, an welche letzte Begebenheit sie sich erinnerte. Sie hatte den Laden am Abend verlassen, einen Hotdog gegessen und war ins Bett gegangen. An mehr konnte sie sich nicht mehr erinnern. Was war danach nur passiert? Sie fühlte das kühle Moos unter ihrem Hintern, der langsam ihre Jeans durchweichte, spürte die raue Rinde des Baumes, an den sie sich angelehnt hatte, roch die Luft, die mit Rauch und Asche durchzogen war und hörte die Tiere im Unterholz. Das war definitiv kein Traum. Der Versuch diese Situation logisch zu erklären scheiterte elend und ein schreckliches Gefühl von Ohnmacht und Angst überkam sie. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und ihr wurde plötzlich übel. Wie sollte sie jemals wieder nach Hause kommen, wenn sie nicht einmal wusste, wie sie hierher gekommen war. Immer wieder blickte sie zum Himmel um sicher zu gehen, dass keine Gefahr von oben lauerte. Dies alles war doch unmöglich! Mittlerweile dämmerte es schon und gleichzeitig überzogen dunkle Wolken den Himmel. Es sah verdächtig nach Regen aus. Ein Gewitter war das letzte, was Hannah in diesem Moment gebrauchen konnte. Sie war irgendwo, war alleine, begann zu frieren, hatte keinen Unterschlupf und war absolut rat- und hilflos. Es wurde immer kühler und sie zog die Beine dicht an ihren Körper, schlang die Arme darum und vergrub ihr Gesicht darin. Die Verzweiflung nahm überhand und sie begann kläglich zu schluchzen. Was war nur passiert? Immer wieder stellte sich Hannah diese Frage und fand doch keine Antwort darauf. Sie wäre liebend gern in das kleine Dorf zurück gegangen, wenn sie nur gewusst hätte in welcher Richtung es lag. Dort hätte sie vielleicht, in einer noch halbwegs intakten Hütte, einen Schlafplatz finden können. Doch so blieb sie einfach nur an den Baum gekauert, weinte und wartete, auch wenn sie nicht wusste auf was sie wartete. Vielleicht darauf, dass sie sich geirrt hatte und nun doch aufwachte. Die Erschöpfung über das Erlebte nahm überhand und Hannah viel in einen tiefen Schlaf. Dieser machte jedoch nichts ungeschehen.

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Rücken. Hannah stöhnte und richtete sich auf. Sie rieb sich den Rücken und öffnete langsam die Augen, in der Hoffnung in ihrem Schlafzimmer zu stehen. Doch alles was sich ihr offenbarte war ein dunkler und dichter Wald, ein paar Sträucher und Steine. Sonst nichts. Die Morgensonne brach durch die Baumkronen und ihre milde Wärme war wohltuend. Erst in diesem Moment bemerkte Hannah, dass sie nass bis auf die Knochen war. Wahrscheinlich hatte es in der vergangenen Nacht doch noch etwas geregnet. Sie hatte davon allerdings nichts gemerkt. Die Ereignisse und das Chaos hatten sie so erschöpft, dass sie weinend eingeschlafen war, trotz Regen und nächtlicher Kälte. Ihr Verstand klärte sich etwas und arbeitete wieder einigermaßen zuverlässig. Egal wo sie war oder wie sie dort hin gelangt war, sie musste sich auf die momentane Situation konzentrieren und versuchen einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Zuerst musste sie ihre nassen Kleider los werden, denn eine Erkältung, oder Schlimmeres, war wohl der Anfang vom Ende. Entschlossen eine sonnige Lichtung oder das Ende des Waldes zu erreichen, stand sie auf und dachte nach. Im Fernsehen hatte sie eine Dokumentation gesehen, die sich mit dem Überleben in der Wildnis beschäftigte, bei der sie allerdings eingeschlafen war. Dennoch erinnerte sie sich noch an die Aussage, dass Moos an Bäumen immer auf der Nordseite wuchs, da die Südseite des Baumes am meisten Licht bekam. Diese Information erschien ihr damals als sehr nutzlos, denn sie hatte nie vorgehabt einen Campingausflug zu machen, bei dem man auch nur im Ansatz eine solche Wissensgrundlage als nützlich hätte empfinden können. Allerdings erinnerte sie sich noch daran, dass Moos sich wohl in kühlen und dunklen Ecken am meisten wohlfühlte und dementsprechend zeigte die moosbewachsene Seite eines Baumes den Norden an. Diese Erkenntnis gab ihr zwar Sicherheit, half ihr aber nicht wirklich weiter, denn schließlich wusste sie nicht in welcher Himmelsrichtung sich die nächste Stadt befand. Der Süden kam ihr einladend vor und so entschied sie sich in diesen zu gehen und marschierte los. Alle paar Meter kontrollierte sie den Mooswuchs an den Bäumen, um auch ja sicher zu gehen, dass sie noch immer in Richtung Süden ging. Natürlich war es etwas übertrieben aber diese Kontrolle gab ihr nun mal ein gutes Gefühl. Mehr oder weniger.


Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, befand sich Hannah noch immer mitten in dem riesigen Wald. Bis hier her war sie ohne Unterbrechung gelaufen, doch nun legte sie eine Pause ein. Ihre Kleider waren kaum getrocknet und ihr Körper war fast restlos ausgekühlt. Das Hunger- und Durstgefühl versuchte sie zu verdrängen, was ihr aber nicht besonders gut gelang. Einen Fluss hatte sie noch nicht gefunden und so blieb ihr nichts anderes übrig als weiter zu gehen. Ihre Beine schmerzten und zitterten, ganz zu schweigen von ihren Gedanken, die sich quälend immer nur um dieselben Fragen drehten. Wie gerne wäre sie jetzt in dem Restaurant gewesen, hätte Nudeln gegessen und mit Will geplaudert. Sie wurde immer deprimierter und hätte sich am liebsten wieder unter einen Baum gelegt und geschlafen, so lange bis dieser Alptraum vorbei war. Aber sie war zäher, als sie gedacht hatte und würde so lange weiter gehen, bis sie irgendwann irgendwo ankommen würde.

Der Abend brach herein und Hannah ging noch immer durch den Wald, bis die Kräfte sie verließen. Sie setzte sich unter einen Baum, lehnte sich an den Stamm und schloss die Augen vor Erschöpfung. Wenn sie nur gewusst hätte, wie man ein Lagerfeuer machte, hätte sie ihre Kleider trocknen und sich aufwärmen können. Die Beine und Arme fühlten sich taub und schwer an und sie zitterte am ganzen Leib. Unterwegs hatte sie ständig nach Wildfrüchten wie Erd- und Himbeeren Ausschau gehalten, aber keine gefunden. Sie musste einfach ein Feuer machen sonst würde sie sicher erfrieren. Obwohl sie kraftlos war, kroch sie auf dem Boden herum und suchte ein paar kleine Stöcke und etwas Laub. Nachdem sie alles aufeinandergeschichtet hatte, nahm sie zwei kleine Äste. Den einen steckte sie senkrecht in den Laubhaufen und den anderen hielt sie waagerecht daran. Dann begann sie die Stöcke aneinander zu reiben in der Hoffnung Funken zu erzeugen. Sie versuchte es so lange, bis ihre Hände rot und wund waren. Nicht ein einziger Funken sprühte und erneut begannen heiße Tränen über Hannahs Wangen zu fließen. Hoffnungslos lies sie den Laubhaufen außer Acht, rollte sie wie ein Igel zusammen, schloss die Augen und versuchte den Schmerz, Hunger und die Angst zu verdrängen, damit sie schlafen konnte.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.09.2008, 11:06   #7
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Standard Kapitel 4 / Teil 2

Geschlafen hatte sie zwar wenig, auch nicht gut, aber wenigstens fühlte sie sich nicht ganz so elend wie am Abend davor. Sie stand auf, streckte sich und sofort empfand sie wieder den Schmerz in Rücken, Händen und Beinen. Doch ohne lange zu zögern setzte sie ihren Marsch gen Süden fort. Irgendwann musste sie eine Stadt finden. Das war eine Tatsache, an die sie all ihre Hoffnungen klammerte.

Gegen Mittag wurden Hannahs Schritte immer kleiner und schwerer. Jede Bewegung schmerzte unendlich und am liebsten hätte sie sich einfach fallen gelassen, ohne je wieder aufzustehen. Wenn sie in diesem Moment eine Pause gemacht hätte, wäre sie vermutlich nicht mehr aufgestanden. So schleppte sie sich weiter ohne darauf zu achten, welche Hindernisse in ihrem Weg lagen. Ihr rechter Fuß hakte sich in einer quergewachsenen Baumwurzel ein, sie verlor das Gleichgewicht und schlug mit ihrer gesamten Körperlänge auf dem kalten Boden auf. Benommen erhob sie ihren Kopf vom Erdboden und blinzelte benommen. Langsam und mit einem schmerzerfüllten Stöhnen rollte sie sich auf den Rücken und starrte in den blauen Himmel, der durch die dichten Baumkronen schimmerte. Die Blätter leuchteten in einem satten Grün und die Sonnenstrahlen brachen an einigen Stellen bis zum Waldboden durch. Hannah schloss erschöpft die Augen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste einfach aufstehen und weitergehen. Sie musste! Was blieb ihr auch anderes übrig? Vögel kreisten singend hoch über den Bäumen, kleine Waldbewohner huschten durch das Unterholz und der Bach plätscherte leise. Der Bach? Wurde sie nun schon von Halluzinationen heimgesucht oder hatte sie tatsächlich Wasserrauschen gehört? Plötzlich waren alle Schmerzen vergessen und Hannah sprang auf. Leise, aber so schnell wie möglich, folgte sie dem Geräusch des Wassers. Einige hundert Meter weiter wurde der Wald lichter, das Wasser lauter und nun vernahm sie sogar Gelächter. Hannah schlich bis an die Waldgrenze und hinter dem letzten Baum, bevor sie auf einer kleinen Wiese stand, blieb sie stehen und versteckte sich. Aus schon fast gewohntem Reflex sah sie auf zum Himmel, der an diesem Tag wohl noch keine Überraschung bereit hielt. Dann beobachtete sie fünf junge Mädchen, die an dem Bach saßen und Wäsche wuschen. Ihre Kleidung war ärmlich, machte aber einen recht sauberen Eindruck. Sie knieten am Flussufer und neben ihnen standen Körbe mit schmutziger Wäsche. Die Mädchen lachten und erzählten, während sie die Kleidungsstücke und Betttücher immer wieder ins Wasser tunkten und schrubbten. Hannah hielt inne, überlegt kurz, doch dann rannte sie los und stürmte auf den Fluss zu. Am Ufer ließ sie sich auf die Knie fallen, schöpfte eifrig mit ihren Händen Wasser und trank daraus. Sie konnte kaum genug bekommen und trank ohne aufzusehen. Noch nie war Wasser so köstlich und herrlich gewesen. Sie hätte ewig trinken können. Es war erstaunlich klar, kühl und schmeckte einfach wundervoll. Nachdem sie genug getrunken hatte, wusch sie ihr Gesicht und ihre Hände. Dann setzte sie sich auf ihren Hinten, ließ sich nach hinten fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie schloss die Augen, atmete tief auf und entspannte sich das erste Mal. Die Sonne wärmte ihre Glieder und die Kleider. Aller Schmerz und Hunger schien vergessen zu sein und sie fühlte sich unerklärlicherweise wohl. Plötzlich wurde die Sonne über ihrem Gesicht verdunkelt und dank der bösen Vortagserinnerung, schreckte sie mit dem Oberkörper nach oben. Ihr Kopf prallte mit dem eines der Mädchen zusammen, das sich über Hannah gebeugt hatte. Beide quiekten kurz auf vor Schmerz und ihre verwirrten Blicke trafen sich. Die Mädchen hatte sie völlig vergessen in ihrem Wahn endlich wieder etwas trinken zu können. Hannah sprang auf die Füße und die Mädchen musterten sie neugierig. „Guten Tag, MyLady.“, sagte eines der Mädchen und deutete einen Knicks an. Hannah zog verwundert, schon fast belustigt, die Augenbraue nach oben und sagte nur: „Hi.“. Fragende Blicke prasselten auf Hannah nieder und diese schüttelte nur mit dem Kopf. Wo war sie hier nur gelandet? „Das bedeutet „Guten Tag“ in meinem Land.“ Die Mädchen lächelten und nickten, auch wenn ihnen diese seltsame Person nicht geheuer war. Sie starrten Hannah an und warteten wohl auf ein weiteres Wort von ihr. Im Grunde war Hannah zufrieden, denn sie hatte das Ende des Waldes und einen Bach gefunden, hatte getrunken und sich gewaschen. Nun musste sie nur noch eine Stadt finden, in der sie etwas zu essen und ein Bett finden konnte. Hatte sie all diese Ziele erreicht, war es an der Zeit sich neue zu stecken und zu überlegen, wie sie ihrer misslichen Lage entkommen konnte. So fragte sie die fünf Mädchen, die sie noch immer gebannt ansahen: „Wo liegt die nächste Stadt?“. Eines der Mädchen schien besonders von Hannah angetan und rief hastig: „Meine Arbeit hier ist getan. Ich werde euch in die Stadt begleiten. Meine Herrin wartet schon auf mich.“. Hannah zog erneut die Augenbraue nach oben und schüttelte verwundert den Kopf. Allerdings musste sie sich wohl vorerst daran gewöhnen, dass an diesem seltsamen Ort alles möglich war. Hannah bedankte sich bei dem Mädchen und sofort holte dieses seinen Wäschekorb und winkte Hannah mit sich. Langsam trotteten die beiden am Flussufer entlang. Das Mädchen musterte Hannah immerzu aus ihrem Augenwinkel heraus, was Hannah als belustigend empfand. Sie war hierzulande wohl eine Attraktion. Wenige hundert Meter weiter kamen sie an eine kleine Holzbrücke, die über den kleinen Bach führte. Sie gingen darüber und folgten einem kleinen Pfad. Im Gehen fragte das Mädchen: „Aus welchem Lande stammt Ihr?“. „New York City.“, antwortete Hannah nur knapp. Sie war sich noch immer nicht im Klaren darüber, ob es eine gute Idee war, den hier Ansässigen zu viel von sich zu erzählen. Immerhin hatte sie keine Ahnung wo sie war, wie sie hierher gekommen war und ob sie den Leuten vertrauen konnte. Allerdings räumte sie ein, dass dieses junge Ding wohl kaum an ihrer misslichen Lage beteiligt war und es keinen Grund gab ihr feindselig gegenüber zu sein. So setzte Hannah ein freundliches Lächeln ihrer Antwort hinzu und sah wieder auf den Pfad. Das Mädchen schien mit ihrer Antwort nicht viel anfangen zu können, was Hannah nicht weiter verwunderte. Sie fühlte sich, als wäre sie auf einem anderen Planeten gelandet. Nachdem sie dem Pfad eine Weile gefolgt waren, gingen sie über einen kleinen Hügel und als sie die Spitze erlangt hatten und ins Tal hinabblickten, erstreckte sich eine gigantische Festung vor ihnen.
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Die Kehrseite der Medaille

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche



Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.