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Alt 01.07.2005, 00:36   #1
männlich j.j.remigi
 
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Dabei seit: 04/2005
Ort: Luzern CH
Beiträge: 146

Standard zu "Wie entsteht ein Gedicht"

zu "Wie entsteht ein Gedicht", aber irgendwie passt es da doch nicht so recht rein.

Ein Rezept kann auch ich Euch nicht geben. Da ist zuerst ein GEFÜHL oder eine Geschichte. Und dann drehe ich die Worte im Kopf zum GEDICHT, wie einen guten Wein auf der Zunge, wenn ich ihn geniesse . Und daneben läuft wie ein zweiter Film, bereits die WIRKUNG der Worte, und vor meinen Augen nehmen die Worte GESTALT an.

PS: Gedichte schreiben ist manchmal ein Ringen nach Worten, die einen Kern umtanzen, ich hoffe, du ringst dich auch durch, den ganzen Text zu lesen. ;-))


… ZUM GEDICHT

Memori (Erinnerung ich bin)

Erinnerung ich bin
durch Zeit gemacht, durch Zeit gewandelt.
Euch zu mahnen,
ist mein Sinn.
Ihr habt ihn mir gegeben
durch Euer Leben
- und nehmt ihn fort sogleich.
So weicht der Schuld mein Unterfangen,
Euch zu dienen, Euch zu langen eine Hand,
die hilfreich sich erbieten will!
Nun denn:
Ich bin die Scham, die zu verdecken
Euer längstes Tuch nicht reicht!

…EIN GEFÜHL
In meinem Gedicht „Memori“ handelt die Erinnerung, indem sie spricht. Sie spricht im Jetzt, aber dieses Jetzt lässt sich zeitlich nicht einbetten. Sie stellt fest, ihre eigentliche Aufgabe könne sie nicht erfüllen. Denn dazu müssten ihr die Menschen helfen. Weil die Menschen sie im Stich liessen, erinnerten sich die Menschen nur widerwillig an sie. Sie sei die Scham. An sie werde sich der Mensch ewig erinnern, und sie werde er immer zu verdecken versuchen, solange sie Scham sei.

… WORTE GESTALT
Der Titel „Memori“ enthält in seinem Wortstamm „Memo“ zwei Aussagen, die zum Gedicht passen: 1. Versteht man unter einem Memo eine Mitteilung. 2. Erinnert Memo an: „in memoria“, also zum Gedächtnis. Das Gedächtnis hat mit dem Erinnerungsvermögen des Gehirns zu tun. Man könnte den Titel „Memori“ aber auch ganz einfach als das Spiel „Memori“ ansehen.
Das Lesen des Gedichts wird erschwert durch die ungewöhnliche Stellung der einzelnen Satzglieder im einleitenden Satz. Es ist kein Satz, den man normalerweise spricht; hier stockt der Leser. Zudem wird er zum Einsetzen eines Satzzeichens verleitet. Jegliches Satzzeichen nach dem Wort „Erinnerung“ verändert den Sinn des Satzes, und, weil der Leser dann vom falschen Absender ausgeht, den Sinn des ganzen Gedichts. Dass nach dem ersten Teilsatz „ Erinnerung ich bin, kein Komma steht, macht das Gedicht zum Spiel: ob alles, was der Verfasser (also ich) schreibt, auf ihn bezogen wird!

Das „Ihr“, am Anfang des zweiten Satzes stehend, lässt aus einer Feststellung einen Vorwurf werden. „Euer Leben“, grossgeschrieben, richtet die Aussage auf den Leser. Er, als Empfänger soll sich dem Vorwurf nicht entziehen können. Ein Gedankenstrich unterbricht den Vorwurf, er macht den folgenden Teilsatz wieder zur Feststellung.

Die gedankliche Verbindung durch „so“ im nächsten Satz ist schlichter als durch ein „Deshalb“ oder „Deswegen“. Das Ausrufezeichen an seinem Ende versinnbildlicht einen Aufschrei der Verzweiflung. Die Verzweiflung ist es, die zwei Sätze in einen fliessen lässt. Sie werden durch ein Komma abgetrennt. Ein Komma ist die schwächste Art der Trennung.
„Eine Hand reichen“ ist die stärkste Form, Hilfe anzubieten. Dadurch macht man dem Gegenüber verständlich, man sei bereit zu helfen, mit allem, was man habe.

„Nun denn:“ macht auf eine Konsequenz aufmerksam. Die einzige Konsequenz, die es in diesem Fall gebe, weil die Erinnerung selbst damit nicht einverstanden sei. Aber das scheint unumgänglich. Auch der Doppelpunkt, diesmal in der Zeichensetzung, ist eine Konsequenz. Vielleicht die letzte; man nimmt Distanz zu etwas, was man nicht mit sich vereinbaren kann.

Das Wort „Scham“ in den Zusammenhang mit Erinnerung zu bringen, schockiert. Es provoziert. Die Scham bezeichnet eine Körperstelle. Scham empfinden ein Gefühl. Über beides spricht man nicht – ausser man kann den inneren Widerstand, der sich regt, überwinden. Überwinden ist ein innerer Kraftakt. Man wendet ihn nur an, wenn man keine andere Möglichkeit mehr sieht.

Den Text während dem Lesen zu verstehen, ist schwierig. Nur nach und nach versteht der Leser. Er zwingt sich, mit den Problemen, die der Text stellt, auseinanderzusetzen. Probleme lösen heisst Möglichkeiten finden, die man nicht kennt. Daher, sich intensiv mit dem Text auseinanderzusetzen: Eine Frage des Vergessens!



… DIE WIRKUNG

Somit ist das Wort „Scham“ meiner Ansicht nach der Schlüssel zum Text. Er wird allgemein mit der Erzählung der Vertreibung aus dem Paradies in Verbindung gebracht. Im Paradies, so die Erzählung, kannten weder Adam noch Eva Schamgefühle. Erst mit der Vertreibung wurden sie sich ihrer Scham bewusst. Und damit der Erbschuld, die wir immer noch haben.
Von dieser Feststellung gehe ich aus.

Die Erinnerung wird durch Zeit gemacht. Gäbe es keine Zeit, wäre das Erinnern unmöglich. Erinnern setzt etwas Vorhergegangenes voraus. Die Erinnerung im Gedicht sei durch die Zeit gewandelt, sagt sie. Sie kann nun durch die Zeit gegangen sein, wie man durch eine Stadt geht, vom einen Ende zum anderen. Sie kann aber auch eine Wandlung durchgemacht haben, also umgewandelt worden sein. Ein Haus wird so stark umgebaut, dass nur noch wenig vom ursprünglichen zurückbleibt. Was zurückbleibt, erfüllt nur noch einen Teil seiner zugedachten Funktion innerhalb eines Ganzen: Im Fall der Erinnerung ist das das Mahnen. Sie sieht ihre gegenwärtige Zweckerfüllung im Mahnen. Eine Notiz ist auch eine Hilfe. Sie mahnt einen an etwas wichtiges.

Das Bewusstsein des „Ich-bin“ macht unseren Geist aus. Ein Bewusstsein kommt nur mit dem Vermögen, sich zu erinnern, zustande. Ohne die Erinnerung gäbe es kein Bewusstsein, ohne die Zeit auch nicht. Den Geist der „Ich-bin“ gibt es nur dank der Entwicklung unseres Gehirns. Wegen des Gehirns bezeichnet sich die Menschheit als das höchstentwickelte Wesen – sonst sei er nicht Mensch.
Darin liege die Begründung ihres Sinns, den wir ihr gegeben hätten, sagt die Erinnerung. Der Sinn des Erinnerns sei, aus Fehlern zu lernen. Eine wirkliche Entwicklung ist unmöglich, ohne aus Fehlern zu lernen.

Schilderungen während und nach einem Krieg gleichen sich immer wieder. Die Totenwelt, und damit die Erinnerung, tritt in verschiedenen Arten von Vorstellungen ganz nahe an die Welt der Lebenden (Max Frisch: Nun singen sie wieder/ Wolfgang Borchert: Draussen vor der Tür/ etc.). Bei einzelnen kommt es sogar zu einem ineinanderfliessen der beiden Welten. Das „zu dem Menschen hintreten“ beengt die Lebenden. Den Menschen kommt es vor, als folgten ihnen die Toten wie Schatten. Einen Schatten kann man nicht abschütteln, nicht verjagen und nicht verleugnen. Die Toten sprechen meist über Fehler, die sie gemacht haben, damit sie nie wieder geschähen. Der Mensch ist sich jedoch bewusst, dass er diesem Anspruch der Erinnerung nicht gerecht werden kann. Das ist sein innerer Widerspruch, der ihn schuldig macht.

Die Erinnerung erinnert uns noch immer. Sie wird nie aufhören, zu sein. Auch in der nächsten Generation nicht.

In memoria
Mensch zu sein,
dem Sinn der Erinnerung
aber nie gerecht zu werden.
Das ist die Scham,
das Trauma der Menschheit
-die Erbschuld.

Die Erinnerung vergisst ihr Angebot niemals – denn sie ist das Gedächtnis, auf dem der Geist aufbaut. Das ist die Antwort, die sich im Gedicht meiner Ansicht nach finden lässt.
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