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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 30.09.2023, 12:21   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Französisch

Als 1963 meine siebte (reguläre) Runde in der Goethe-Realschule in Offenbach begann, wurde uns als freiwilliges Zusatzfach Französisch angeboten. Die "Goethe" war darin ein Vorreiter, was darauf gründete, dass in diesem Jahr das deutsch-französische Jugendhilfswerk in Kraft trat, zu dessen Programm der Schüleraustausch in den Frühjahrs- und Sommerferien gehörte. Außerdem war Offenbach ein früher Vogel auf dem Gebiet der Völkerversöhnung: Seit 1955 verband die Stadt eine Partnerschaft mit Puteaux, einer kleinen Stadt am westlichen Rand von Paris.

Für unsere Schule betreute ein Englischlehrer, mit über fünfzig Jahren ein gestandener Pädagoge, der nochmal etwas auf die Beine stellen wollte, das Projekt und warb um rege Teilnahme am Schüleraustausch. Er rannte offene Türen ein, denn die Aussicht, kostengünstig zwei oder mehr Wochen in Puteaux zu verbringen, was im Klartext Paris bedeutete, schürte die Begeisterung.

Das alleine war es aber nicht, was mich dazu verführte, mir eine Zusatzlast an Lernstoff aufzubürden. Französisch war in den 60ern "in", beinahe so, als müsse man dem berauschenden Erfolg der Beatles etwas Handfestes entgegensetzen. Und da gab es einiges, das sich sehen lassen konnte: Brigitte Bardot poussierte mit Hans Sachs, den sie später heiratete, und machte am Strand von St.-Tropez den Bikini gesellschaftsfähig. Dalida sang über den Tag, als der Regen kam, der Bretone Pierre Brice machte auf der Leinwand als "Winnetou" die weibliche Welt vom Teenager bis zur Oma verrückt, nicht wenig später besang Gilbert Bécaud eine bezaubernde Russin namens Nathalie, und es dauerte nicht lange, da löste die stimmgewaltige Mireille Mathieu den Spatz von Paris ab und sang sich mit "Mon Crédo" in die Herzen der Deutschen hinein. Allmählich vergaß man, dass Alain Delon unserer "Sissi" das Herz gebrochen hatte, denn schließlich war der Krieg vorbei, und auch der Après-Krieg musste endlich überwunden werden.

Es gab also eine Menge Gründe, Französisch zu lernen.

Unsere Lehrerin war eine betagte Dame in weißem Kittel und mit schlohweißem Haar. Sie hatte etwas Großmütterliches an sich, Drill und Strenge waren nicht ihre Sache. Heute würde man sagen: Sie hat den Unterricht moderiert. Sie las vor, wir lasen nach. Sie erklärte, wir hörten zu. Sie gab Hausaufgaben auf, schaute sie aber nicht nach und hörte auch keine Vokabeln ab. Vielleicht lernten wir deshalb mit Eifer, denn nur ein einziger Mitschüler meldete sich vom Französischkurs ab, und der hatte bis dahin nur teilgenommen, weil seine Eltern ihn dazu genötigt hatten.

Lustig ging es zu, als unsere Lehrerin zu Beginn das Alphabet mit uns durchging. Wir kamen bis "g", was nicht sonderlich lernbehaftet gewesen war, denn die Buchstaben lauteten nicht anders als im Deutschen, in dem wir sowohl das harte wie das weiche "g" kannten. Dann verstieg sich unsere Lehrerin, offensichtlich aus Erfahrung, zu der Vorbemerkung: "Jetzt kommt ein Buchstabe, über den Schüler mit schlechtem Charakter lachen." Wir spitzten die Ohren. "Es ist ein Buchstabe, der im Französischen nicht gesprochen, sondern nur geschrieben wird, und der einige Besonderheiten aufweist, die ihr später noch lernen werdet." Sie machte eine kleine Pause, drehte sich um, malte das kleine "h" an die Tafel und sagte: "Das ist ein Asch."

Wie auf Kommando prustete die gesamte Klasse los. Völlig klar, dass in den hellwachen Gehirnen von dreizehn- bis vierzehnjährigen Schülern automatisch hinter das große "A", ein "r" eingefügt wurde.

Bekanntlich ist unsere Denke dafür gemacht, alles, das nicht "rund" ist, zu ergänzen. Sieht der Mensch eine gebogene Linie, in der ein Teilstück fehlt, ergänzt das Gehirn sofort das fehlende Segment und konstatiert: Das ist ein Kreis. Oder ein Oval – was auch immer, aber eine geschlossene Form, die benannt wird. Bekannt ist auch, dass Menschen, die über einen Schwarzweiß-Film sprechen, ihn immer so beschreiben, als hätten sie ihn in Farbe gesehen. Im Gehirn sind Muster angelegt, und diese Muster schließen den Kreis und fügen Farben automatisch hinzu.

Soviel zu der Präventivmaßnahme unserer Lehrerin.

Drei Jahre später, im Frühjahr 1966, waren wir "reif" für den Schüleraustausch. Die Franzosen waren zuerst dran und kamen in den Osterferien nach Offenbach. Sie müssen sich tierisch gelangweilt haben, denn auch die benachbarte Metropole Frankfurt dürfte im Vergleich zu Paris abgeschnitten haben wie ein Zwergpinscher gegen eine Dogge. Aber es gab ja ein Programm, z.B. eine Fahrt an den Rhein zur Loreley, an der auch wir, die Kinder der Gastfamilien, teilnahmen. Offensichtlich hatten einige der Franzosen abends zuvor die Sachsenhäuser Kneipen entdeckt und kräftig dem Äppelwoi zugesprochen, denn sie hingen mit grünen Gesichtern in ihren Sitzen. Heute frage ich mich, was gewesen wäre, hätten wir so ein Programm mit den Russen aufgezogen … Wodka und so.

Nebenbei bemerkt hatte mich damals zum ersten Mal ein Junge geküsst, natürlich keiner von uns, sondern einer der Franzosen. Der hatte es ordentlich drauf, denn Flirten und Küssen gehört in Frankreich zur Sozialisierung der Männer. Deshalb darf man so einen Flirt nicht ernst nehmen. Trotzdem war mit noch lange danach heiß, und ich bin mir sicher, dass ich mindestens eine Stunde lang mit einer derart knallroten Birne unterwegs gewesen war, als hätte der Teufel persönlich ein Streichholz an mich gelegt. Wäre nicht peinlich gewesen, wenn man Einfluss darauf hätte nehmen und die Sache abstellen können. Statt dessen sah mir jeder ewig lange an: Guck mal, die da hat der Patrick [so hieß der knutscherfahrene Schlingel], auch rumgekriegt."

In den Sommerferien waren wir dran und reisten per Bahn nach Paris. Unsere Unterkunft in Puteaux war ein Schulsaal, in den man Betten aufgestellt hatte. Sonst gab es nichts, unsere Koffer waren unsere Schränke. Zum Waschen ging es in ein Nebengebäude mit Räumen, in denen sich Becken wie in einer Jugendherberge aneinanderreihen. Das Abendessen fand in einem anderen Nebengebäude statt. Wir waren damit glücklich, denn ohne Erwartungen angekommen. Höhere Standards kannten in den 60ern auch in Deutschland nur wenige Kinder und Jugendliche.

Wir entdeckten Paris, und das war, was zählte!

Es war eine tolle Zeit, vor allem aber zwei Wochen an Erfahrung. Zunächst sahen wir von der Métro-Station in Puteaux aus auf gerader Linie die Rue della Grande Armée entlang den Arc de Triomphe stehen und entschlossen uns, das "bisschen Strecke" zu Fuß zu gehen. Wir waren gelackmeiert, denn da der Bogen auf einer Anhöhe stand, hatte uns die Entfernung getäuscht. Es dauerte eine satte Stunde, bis wir dort waren, und da hatte sich meine Freundin und Schulkameradin ein paar dicke Blasen an den Fersen gelaufen. Aber sie beklagte sich nicht. Wer, zum Teufel, kommt auf die Idee, in nagelneuen, nicht eingelaufenen Schuhen auf Städtetour zu gehen? Meine Freundin Karin!

Natürlich waren wir auf dem Eiffelturm, was damals noch in überschaubarer Zeit möglich war. Da gab es noch keine endlosen Schlangen, die per Aufzug nach oben wollten. Für Leute, die gut zu Fuß sind, ist es nie ein Problem gewesen, wenigstens die erste Plattform zu erreichen. Ich bin später noch oft in Paris gewesen, aber Anstellen am Eiffelturm kam nicht mehr in Frage.

Ich habe viele große oder einfach nur interessante Städte in meinem Leben besucht: Berlin, Potsdam, München, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Stuttgart, Jena, Rostock, Greifswald, Stralsund, Frankfurt/Oder; Amsterdam, Brügge, Ostende; Paris, London, Rom, Venedig; New York, San Francisco, New Orleans, Chicago, Baltimore, Toronto, Seattle, Vancouver, St. Louis, Memphis, Tampa, Natchez, Los Angeles, Santa Barbara, Salt Lake City, Atlanta, Savannah, Miami, Denver, Orlando, Ocean City, Boston … In allen war ich gewesen, sie alle habe ich gesehen.

Und noch einige mehr. Aber Paris leuchtet über sie alle hinaus. Für mich ist sie die schönste Stadt der Welt. Trotz ihrer Mängel. Jeder weiß: Paris steht auf hohlem Untergrund. Der Baustoff für die schönen, nach festen Vorgaben gebauten Häusern, um dem Stadtbild ein harmonisches Bild zu garantieren, wurden vom Boden unter der Stadt genommen. Der Untergrund von Paris ist ein einziges Maulwurfslabyrinth.

Was soll's? Noch hält, was vom Untergrund übrig ist, und die Métro fährt seit über hundertvierzig Jahren ohne "systemrelevanten" Zwischenfall.

Das Beste am System: Die Franzosen kommen ohne Kontrolleure aus. Mir wurde von Insidern gesagt, das sei so, und tatsächlich habe ich in der Métro nie Kontrolleure erlebt. Auch im Straßenverkehr läuft manches anders als in Deutschland. Wenn kein Auto in Sicht ist, geht ein Franzosen über die Straße, egal ob die Ampel auf Rot steht. In Frankreich ist das Rot einer Ampel keine Verpflichtung, sondern eine Empfehlung mit Warnhinweis, die Entscheidung zu warten, oder zu gehen, bleibt beim Fußgänger. Auch war ich mal Zeuge, wie ein Motorradfahrer auf einem breiten Gehweg an zwei Polizisten vorbeibretterte, die ihm entspannt etwas über seine Manieren hinterherriefen, ohne gleich seine Nummer aufzuschreiben.

Könnte ich es mir leisten, würde ich gerne in Paris leben. Nicht der Liebe wegen, sondern weil ich diese Stadt mit Luft zum Atmen verbinde. Vornehmlich gilt sie als die Stadt der Lichter. Aber für mich ist sie eine Stadt der Aufsässigkeit. Sie ist alles, was ich mit Berlin nicht verbinde. Diese deutsche Stadt, die ich auch liebe, aber die immer als wehrlos und beschützenswert daherkommt. Paris war immer wehrhaft, Berlin immer verwundbar.

Aber ich sitze fest in meine Offenbach, in das ich hineingeboren wurde, und das deshalb unter all den Städten – groß, klein, Haupt-, was immer - die Nummer eins bleiben wird. Nach all meinen Ausflügen kam ich immer wieder zurück und war glücklich, wieder zu Hause zu sein. Jede Stadt gibt etwas, Offenbach gab mir die Liebe zum Kino. In den 50er und 60er Jahren war sie eine Kinostadt par excellence. So viele Kinos in einer Stadt, die erst einmal Großstadt werden wollte, war schon was! Das waren keine Kleinwandkinos, sondern richtige Säle.

Aber das ist ein anderes Thema.

Paris blieb ich verbunden und war immer wieder in diese Stadt zurückgekehrt. Und ich danke noch heute dem Verwalter im Nazi-besetzten Paris, Dietrich von Choltitz, dass er sich Hitlers Befehl verweigerte und nicht halb Paris in die Luft sprengen ließ, obwohl es ihn den Kopf hätte kosten können.

Leben in Paris – ein Traum, der bleiben wird.
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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