Sankt-Nimmerleins-Tag

[AndereDimension]

Sankt-Nimmerleins-Tag

Wenn ich an Heilig Abend denke,
gewinnt die Wehmut an Gewicht,
dann malt sie zeitverzerrte Bilder,
und jedes lügt mir dein Gesicht.

Doch wenn ich etwas weiter denke,
dann klopft die Wehmut nicht mehr an,
dann lag ein Wunsch auf meinen Lippen,
den nur der Tod erfüllen kann.

[ANOUK]

Hallo AnDi

"gewinnt die Wehmut an Gewicht" liest sich wunderschön.
(Das ganze Gedicht liest sich wunderbar, aber das sticht für mich persönlich besonders positiv hervor)

"dann lag ein Wunsch auf meinen Lippen [...]"
(lag-Lippen) ebenfalls sehr schön.

"Jedes lügt mir Dein Gesicht" finde ich eine sehr gelungene Formulierung!!!

Du scheinst all Deine Bilder und Wortspiele immer locker aus dem Ärmel zu schütteln. Das macht Deine Gedichte auch stets zu etwas Besonderem. Nichts wirkt bemüht...
Toll!
Außerdem ist es Dir wunderbar gelungen, diese melancholische, gedrückte Stimmung, die sich ebenfalls rund um die Festtage einstellen kann (jenseits von Kinderlachen und Hochglanztanne) einzufangen.

lG,
Anouk

[Ilka-Maria]

Zitat von AndereDimension

Doch wenn ich etwas weiter denke,
dann klopft die Wehmut nicht mehr an,
dann lag ein Wunsch auf meinen Lippen,
den nur der Tod erfüllen kann.

Lieber AnDi,

Du musst mir auf den Sprung helfen. Mit der ersten Strophe komme ich klar, sie ist mal wieder brillant geschrieben und ich kann, was das Interpretieren angeht, eine Menge mit ihr anfangen. Das Problem für mich ist Strophe zwei.

Weshalb steht der vorletzte Vers in der Vergangenheit?

Lieben Gruß
Ilka

[ANOUK]

@ Ilka @ Andi

zunächst bin ich auch über das LAG (Vergangenheitsform in der 3. Zeile 2. Strophe) gestolpert, da ich festgestellt habe, dass das Vorangegange im Präsens geschrieben ist.
Ich erklärte es mir damit, dass das LI sich rückblickend an die Weihnachtstage erinnert.

"doch wenn ich etwas weiter ( mein Kopf ergänzte an dieser Stelle ein "weiter ZURÜCK" ) denke,
dann klopft die Wehmut nicht mehr an,
dann LAG ein Wunsch auf meinen Lippen [...]

So, wie AnDi es geschrieben hat, schaut es für mich aus, als reflektiert das Li im nachhinein seine Gefühle, die es an Weihnachten hatte und stellt fest, dass diese nicht -wie fälschlich zunächst angenommen- von Wehmut, sondern vom Todeswunsch geprägt waren.

Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass AnDi sich aus Versehen in der Zeit vertan hat, es scheint eher, als habe er das LAG (Vergangenheitsform) ganz bewusst gewählt.

Es sei denn, ich überinterpretiere.


lg,
Anouk

[Ilka-Maria]

Zitat von ANOUK

Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass AnDi sich aus Versehen in der Zeit vertan hat, es scheint eher, als habe er das LAG (Vergangenheitsform) ganz bewusst gewählt.

Ich kann mir ein Versehen bei AnDi auch nicht vorstellen, aber trotzdem: Es passt nicht. Der zweite Vers der Strope steht in der Gegenwart und beginnt mit "dann", verweist also in die Zukunft. Der nächste Vers beginnt ebenfalls mit "dann", man könnte im Grunde ein "und" zwischen die beiden Verse setzen, weil sie einer Aufzählung gleichkommen: dann passiert dies, und dann passiert das. Trotzdem hat AnDi die Vergangenheit gewählt. Der letzte Vers steht wieder in der Gegenwart und verweist obendrein in die Zukunft ("kann"). Damit komme ich nicht klar.

[ANOUK]

@ Ilka

Hm, wenn es so gemeint war, wie ich vermutet habe, dann hätte er ggf. besser

ES lag ein Wunsch auf meinen Lippen geschrieben (anstelle von DANN lag ein Wunsch auf meinen Lippen)

den nur der Tod erfüllen kann ( mag ja für Vergangenes wie Zukünftiges gelten) -- Der Wunsch, den das LI hegte (rückblickend oder nicht sei mal dahingestellt) kann nur der Tod erfüllen, gestern wie heute wie morgen.

Mir stellt es sich nach wie vor so dar (wg. "zeitverzerrte Bilder"), dass das LI an glückliche Tage zurückdenkt, wo der/die andere Person noch anwesend/lebendig war, "lügt mir dein Gesicht" gibt Anlass zur Vermutung, dass in der Wehmutsphase ums Weihnachtsfest herum diese Person bereits nicht mehr anwesend/lebendig war. Und dann wiederum stellt das LI im Nachhinein fest, dass diese Phase doch weniger von Wehmut als von Todessehnsucht geprägt war, dass bereits da schon der Wunsch nach einem echten "Wiedersehen" vorhanden war, quasi einer Wiedervereinigung durch den eigenen Tod.... Ich finde es daher nicht weiter verwunderlich, dass der letzte Satz wieder im Präsens geschrieben ist, denn den Wunsch KANN nur der Tod erfüllen ( und der Wunsch ist ja allem Anschein nach noch nicht erfüllt worden, denn das LI lebt ja noch)

Bin mal gespannt, wie AnDi uns das erklärt

lG,
Anouk

[Wolfmozart]

Bemerkenswerte Lyrik mit Tiefgang.
Gern gelesen.

wolfmozart