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Alt 27.03.2010, 20:58   #1
Aporie
 
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Standard Mutters Angst vor dem Weg ins Altersheim

Als ich sie im Spital besucht hatte, winkte sie fröhlich mit dem Gipsarm, um darauf aufmerksam zu machen, wie kregel sie noch sei. Bloß ein kleines Missgeschick, ist halt dumm gelaufen.
„Du musst dich einrollen, wenn du hinfällst“, sagte ich, um mithalten zu können, „so wie es die Torhüter machen.“ Meine Mutter weiß Bescheid. Am liebsten sieht sie sich Sportsendungen an; sie lässt kein Fußballspiel am Fernsehen aus.
„Hä? Du vergisst, ich bin einundneunzig. Da gibt es nichts mehr einzurollen.“
Das ist genau die Art, wie unsere Gespräche noch heute verlaufen. Sie in ihrer Widerrede ein Stück näher an das heranführen, was man selber denkt. Meine Mutter trinkt. Ein Gläschen Cognac (sagt sie) am Mittag und am Abend. Ich habe niemals die Absicht gehabt, ihr das zu verbieten, bis heute nicht. In ihrem Alter gibt es nicht viele Dinge, die mehr Spaß machen als ein Gläschen Cognac.
Ich möchte nur, dass sie kontrolliert trinkt und kontrolliert hinfällt.
„Du weißt, warum du hingefallen bist, oder?“ habe ich damals gesagt.
„Nein – man hat keinen Alkohol im Blut gefunden.“
Alles klar und sehr clever von ihr, mir mit ihrer Antwort auch gleich das
Argument aus der Hand zu schlagen. Ich hätte es mir denken können. Falscher Anfang. Ich beugte mich über sie und küsste sie auf die Wange. Sie wollte auch auf die andere geküsst werden und zeigte das mit dem Finger an.
In der Woche darauf hatte ich ein halbes Dutzend Altersheime inspiziert.
„Nein“, sagte meine Mutter, als sie wieder aus dem Spital entlassen worden war, „ich will nicht in ein Altersheim. Und schon gar nicht in das Zimmer einer Verstorbenen.“
Das ließ sich aber nicht umgehen: im schönsten Altersheim, das man mir gezeigt hatte, wurden nur nach Todesfällen Zimmer frei. Allerdings gab es eine Warteliste, aber in drei Wochen waren wir dran. Das Zimmer, in dem sie auch heute noch wohnt, ist groß, geräumig und sonnig, es ist ebenerdig und hat einen Ausgang in einen kleinen Park. Vor dem Fenster blühte gerade eine Linde, als Mutter einen ersten Augenschein nahm. Doch sie blickte in das leere Zimmer wie in ein offenes Grab.
„Dein Vater hat immer darauf geachtet, dass wir nie im Parterre wohnen müssen“, nuschelte sie in meinen Jackenärmel. Als wir wieder in ihrer Wohnung waren, holte ich die Cognac-Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank, „Nein“, sagte Mutter, „ich will hier nicht weg.“
„Aber ich kann dich nicht länger allein in deiner Wohnung lassen.“
Sie brach in Tränen aus. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal hatte weinen gesehen. Vielleicht als Vater starb. Aber das ist bald vierzig Jahre her. Ich setzte mich neben sie auf die Couch, streichelte ihren kleinen geschrumpften Kopf, das schüttere Haar. Ich dachte an meine Schwester, an den kalten Ton in ihrer Stimme, als sie sagte „Und warum nimmst du sie nicht zu dir? In deine Luxuswohnung?“ Die Frage hatte mich schon beschäftigt, bevor sie gestellt wurde. Mutter würde nie so etwas fragen. Mutter weiß, dass man im Alter nur frei sein kann, wenn man alleine lebt. Ich musste sie jetzt einzig davon überzeugen, dass ich auf ihrer Seite stand, ich musste ihr laut sagen, dass Freiheit auch für mich das höchste Gut im Leben sei und dass ich es niemals dulden würde, dass man die ihre beschränkt, ihr etwa den Cognac oder das Rauchen im Zimmer verbieten würde. Und dass sie einen eigenen Haustürschlüssel haben würde.
„Ist das wahr?“
„Ein Altersheim ist kein Gefängnis.“
Sie griff nach meiner Hand und sagte; “Und was soll mit meinen Möbeln geschehen?“
O, das war immerhin ein Gedankenschritt nach vorn. „Deine Möbel kannst du mitnehmen.“ Natürlich nicht alle, aber das sagte ich ihr jetzt noch nicht.
„Magst du etwas Lachs? Ich habe Lachs mitgebracht.“ Lachs ist Mutters Leibspeise. Sie schüttelte den Kopf.
„Du musst mehr essen!“
Bevor ich ging, räumte ich den Lachs in den fast leeren Kühlschrank und legte eine Tafel Schokolade aufs Bett, aber als ich nach zwei Tagen wieder kam, lag der Lachs noch immer unangerührt im Kühlschrank und die Schokolade daneben. Ich schmierte vom Butter, den ich mitgebracht hatte (viel Kalorien!) ein dickes Stück auf eine vertrocknete Brotscheibe von Aldi und legte zwei Lachsschnitten drauf.
„Ich gehe nicht weg, ehe du das gegessen hast“, sagte ich.
Meine Schwester kam und half beim Packen. Wir fanden überall Geldscheine. Unter der Bettwäsche, in der Bibel, zwischen Briefschaften. Am Tag, bevor die Möbelpacker kamen, schlief Mutter bei mir. Ich zeigte ihr das Briefpapier, das ich am Computer für sie angefertigt hatte. Ich war sehr beeindruckt von der vornehmen neuen Adresse meiner Mutter: SCHULTHESS VON MEISS-STIFT.
„Schulthess“, sagte Mutter, „hieß der übelste Hausmeister, den wir je hatten. Er wohnte im Parterre.“
Wir füllten die Anmeldeformulare aus. Mutter wollte, dass ich unter Beruf SÄNGERIN eintrage. „Aber du warst Jodlerin“, sagte ich. „Wenn man SÄNGERIN liest, stellt man sich gleich eine Oper vor.“
Sie nahm mir das Formular aus der Hand , hielt das Papier näher an die kurzsichtigen Augen, schließlich hob sie die Brille von der Nase, weil die beim Lesen nur stört und bohrte ihren Blick wie einen Stachel ins Kleingedruckte. Natürlich war auf dem Formular nichts über den Wahrheitsgrad der Angaben zur beruflichen Tätigkeit zu lesen. Sie beharrte auf SÄNGERIN. „Schließlich habe ich im Radio gesungen und Schallplatten gemacht. Mit dem Walzer Kari und dem Geissbergchörli.“
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