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Alt 20.02.2017, 18:47   #1
weiblich Damaris
 
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Standard Grenzenlos

Der Hörsaal des Universitätsklinikum ist gut gefüllt, ich wähle einen Platz in der dritten Reihe am Gang. Da ich morgen wieder Frühschicht habe, möchte ich so bald als möglich heim und ins Bett kommen.
Eine einzige Frau steht vor dem Rednerpult. Sie ist von mittlerer Statur, durchschnittlich attraktiv, um die Fünfzig. Zögerlich beginnt sie zu sprechen, während sich der Hörsaal weiter füllt. Bald übertönt sie die Geräusche der Zuspätkommer mit einer Stimme, die an Kraft gewinnt. Schnell macht sie klar, sie ist genug, uns zu begeistern. Dabei wirbt sie nicht, appelliert nicht an Gutmenschlichkeit, verspricht keinen Lohn durch Erfüllung. Ihre Aussagen sind abschreckend, doch ihre Ausstrahlung verkehren diese ins Gegenteil, so dass wir sie beneiden um ihren Job mit unterdurchschnittlicher Bezahlung, überdurch-schnittlich hohen Arbeitszeiten und miserablen Freizeitangeboten beim internationalen Rettungsdienst.
Anlass seiner Gründung 1971 war ein Einsatz des Roten Kreuzes in Nigeria während des Biafra Krieges. Nigeria blockierte die Lebensmittelzufuhr nach Biafra, was eine schwere Hungersnot zur Folge hatte, somit einem Genozid gleichkam. Da sich das Rote Kreuz zum Schweigen verpflichtet hat, brauchte es ein neues Gebilde, welches nicht nur in der Lage ist, vor Ort zu helfen, sondern auch Unrecht in der Öffentlichkeit anzuprangern. Médecins Sans Frontières - MSF / Ärzte ohne Grenzen war geboren. Bereits 1999 wurde die Organisation mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Momentan klagt Ärzte ohne Grenzen die gezielten Klinik-Bombardements an, benennt diese als ein Mittel der Kriegsführung, unter anderem um potentielle Soldaten bereits im Vorfeld unschädlich zu machen.
Die „Ärzte ohne Grenzen“ erhalten sich ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität, in dem sie sich ausschließlich aus Privatspenden finanzieren. Bis 2016 nahmen sie zu einem kleinen Prozentsatz Mittel der Europäischen Union an. Wegen des, von ihnen kritisierten, Umgangs der EU mit Flüchtlingen, sind ihnen die Gelder nicht mehr sauber genug.
Ärzte ohne Grenzen arbeitet mit Hilfsorganisationen zusammen, ist aber keine, denn sie betreut keine langfristigen Objekte in Entwicklungsländern. Vielmehr konzentriert sie sich auf das Leisten von Nothilfe, baut Gesundheitszentren in Krisengebieten auf, um die Basisgesundheitsversorgung und psychosoziale Unterstützung der Bevölkerung zu gewährleisten. Sie installiert auch Wasser- und Sanitäranlagen, falls das zur Bekämpfung der Notsituation beiträgt, beispielsweise bei einer Choleraepidemie. Ebenso sind die Mitarbeiter dieser Organisation auf dem Mittelmeer im Einsatz, um vom Ertrinken bedrohte Menschen zu retten.
Welcher Krisenherd es auch sein mag - die Mutter-Kind-Versorgung nimmt einen hohen Stellenwert ein. Als Arzt sollte man einen Kaiserschnitt durchführen können.
Leider gewinnt die Kriegschirurgie immer mehr an Relevanz. Da diese im Medizinstudium praktisch keine Rolle spielt, werden die medizinischen Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen hierin geschult.
Die Zentrale der Organisation befindet sich in Genf. Circa 35 000 Mitarbeiter aus 24 Nationen, davon 300 Deutsche, sind in 60 Ländern aktiv. Den größten Anteil stellen Ärzte und Pflegekräfte, aber auch andere Berufsgruppen wie Hebammen, Psychologen, Epidemiologen, Apotheker, Laboranten, Logistiker und Handwerker sind im Einsatz. Voraussetzungen für die Mitarbeit sind eine abgeschlossenen Ausbildung, 2 Jahre Berufserfahrung, Erfahrungen in Supervisions- und Ausbildungstätigkeit, Reise- beziehungsweise Berufserfahrung in Entwicklungsländern, Tropentauglichkeit, Kreativität / Flexibilität und Toleranz, fließendes Englisch in Wort und Schrift, gute Kenntnisse in einer weiteren Fremdsprache, Verfügbarkeit für 6 bis 12 Monate innerhalb von kurzer Zeit.

Auf die Publikumsfrage, wann man den über den Einsatzbeginn informiert werde, antwortet die Referentin:
„Beim ersten Einsatz passiert das schon etwa einen Monat im voraus.“
„Wie soll das gehen?“ fragt der Fragesteller erstaunt.
„Bei mir war es so, dass mein Arbeitsvertrag gerade auslief. So war ich dann ein halbes Jahr arbeitslos, bevor ich eingesetzt wurde. Übrigens übernimmt ab dem Einsatzzeitpunkt Ärzte ohne Grenzen alle laufenden Kosten.“
„Wo ist man untergebracht?“, will eine junge Frau wissen.
Die Unterkunft kann angenehm sein, aber auch nur ein Moskitozelt in einer offenen Halle in mitten vieler anderer Moskitozelte.“

Sie zeigt uns Bilder davon und von wackeligen Bambuspfaden über sumpfigen Boden zur Toilette, die wenig mit den uns bekannten stillen Örtchen gemein hat, und Duschen aus einem Beutel oben an einem Pfahl befestigt, im Freien ohne Sichtschutz. Erzählt uns von endlos langen Schichten und Freizeit ohne Freiraum im beengten Quartier.

„Es ist schon frustrierend, wenn man in der Unterkunft hockt und die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen spazieren munter draußen am Zaun vorbei. Aber dafür werden wir nie gekidnappt, die Anderen schon öfters“, erzählt sie schmunzelnd.
Ein junges Mädchen fragt, welche Aussichten sie nach dem Abschluss des Studiums zum Pflege-Bachelor bei Ärzte ohne Grenzen habe.
„Sehr gute, auch in der Logistik, da sind die Pflegekräfte viel besser als wir Ärzte.“
Endlich erkennt das mal jemand, denke ich und beneide die Jugend um ihre Möglichkeiten.

Dann erzählt uns die Referentin von ihrem Bewerbungsgespräch. Drei lange Stunden, in denen sie mündlich sowie schriftlich auf deutsch, englisch, französisch und auf Herz und Nieren geprüft wurde.

Wenn ich bis dahin noch mit dem Gedanken gespielt habe, mich zu bewerben – jetzt bin ich raus.
In der U-Bahn träume ich von einen mit großen Schritten durch den Dschungel marschierenden, munter pfeifenden Mann, der mit einem Netz eingefangen und nach oben aus meinem Bild gehievt wird. Unsere Referentin sitzt in ihrer Höhle und lacht so laut, dass ich aufwache, genau an meiner Haltestelle.
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