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Alt 23.06.2007, 16:07   #1
Erblassenheit
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 21


Standard Paradies

Ein ohrenbetäubender Knall erschüttert die Wände des Hotels, bevor diese unter ihrer Last plötzlich zusammenbrechen.
Eigentlich hat Kerim den Knall gar nicht wahrgenommen. Nur einen kurzen Bruchteil unsäglicher Schmerzen, dann Ruhe. Aber es war seine Wahl, und er stand dazu. Immer noch.

* * *

Das Gebäude sah aus als hätte eine riesige Faust auf es eingedroschen. Stahlträger waren nach außen gebogen, die umherfliegenden Trümmer hatten die Wände einiger Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite eingeschlagen, Glassplitter spiegelten die Sonne über Jerusalem gegen die das zerstörte Gebäude umgebenden Häuser, und ließ die Szenerie unwirklich, wie eine Zauberwelt, erscheinen. Das Stimmengewirr der Journalisten aus aller Herrenländer, die Sirenen der Rettungswagen, die Schreie der Verletzten und das Klagen der Angehörigen verschmolzen zu einer Symphonie der Trauer und des Schmerzes.
Ein alter Mann saß auf einem großen Trümmerteil. Seine Kleidung war versengt und ein tiefer Schnitt klaffte in seiner Brust. Er starrte ungläubig auf das Schauspiel, und langsam fand eine Träne den Weg über die blutigen Wangen.
Ein Jugendlicher lag zwischen den Trümmern des Hotels. Sein Arm war zerrissen, seine Kleidung hatte sich in seine Haut eingebrannt, und seine schmerzerfüllten Schreie wurden langsam zu einem mitleiderregendem Wimmern, und verhallte schließlich ungehört. Er war ein weitere Toter auf einer langen Liste.
„...heute Nachmittag um 14 Uhr...“, berichtete einer der Reporter, „... Attentat auf ein Hotel in Jerusalem...“, ein anderer.
„...Der Attentäter hatte wohl religiöse Motive“, schallte es aus allen Radios und Fernsehern.

* * *

Die vergilbten Koranseiten flogen leicht wie Schnee zu Boden, und färbte sich dort rot vom Blut der Männer die erschossen mit aufgerissenen Augen auf dem gekacheltem Boden lagen.
Zwei Soldaten standen in mitten des Gemetzels, und sahen sich mit bleichen Gesichtern um. Sie hatten all diese Menschen umgebracht.
Ein Piepsen ertönte, und einer der Soldaten schrak auf. Vor ihnen saßen zitternd zwei Jungen in eine Ecke gekauert, einer ungefähr 13, und der andere vielleicht 5. Der ältere Junge schob sich schützend vor den jüngeren. Einer der Soldaten erhob sein Sturmgewehr, doch der andere drückte es wieder nach unten und schüttelte den Kopf, dann gingen sie 15 Leichen und zwei Halbwaisen hinterlassend.
Kerim umarmte seinen kleinen Bruder. Sie weinten. Gerade als sie mit dem Gebet beginnen wollten waren zwei israelische Soldaten hineingestürmt, und hatten ihren Vater, Onkel, Großvater und alle anderen Männer in der Moschee erschossen, und Kerim hatte ihnen nicht helfen können. Er musste zusehen wie sie blutend zusammensackten.
Nur seinen Bruder konnte er noch schnell in eine Ecke ziehen, und Allah hatte ihnen das Glück gewährt zu überleben.
Kerims Bruder rannte zur Leiche ihres Vaters und versuchte ihn aufzuwecken, doch er wachte nicht auf.
Kerim setzte sich auf den Boden, wippte vorn und zurück, und weinte.
Irgendwann trafen Sanitäter und die Frauen der Toten ein. Das Schluchzen der Frauen hallte an den Wänden der Moschee, und wurde zu einem Echo der Trauer.
Kerims Trauer wurde zu Wut und bald verlangte er Rache. Rache für den Tod seines Vaters.

* * *

Kerim saß auf der alten WohnzimCDPouch und blickte in das vermummte Gesicht eines vollkommen in schwarz gekleidetem Mannes. Eine große Kanne Schwarztee stand vor ihnen auf dem Tisch, und zwei kleine Gläser gefüllt mit dem dampfenden Getränk.
Der Verhüllte nahm einen Schluck, dann erhob Kerim das Wort „und meine Familie bekommt eine lebenslange Rente, wenn ich es tue?“
Der Mann nickte.
„Und ihr zahlt die Operation für meinen Bruder?“, fügte Kerim hinzu.
Abermaliges nicken des Mannes.
Kerim schwieg. Sein Blick heftete an dem Dampf der vom Tee hinauf stieg, und er dachte nach.
Nach einer Weile erhob sich der in schwarz gehüllte Mann, sagte mit seiner rauen Stimme „Melde dich, wenn du es dir überlegt hast. Allah wird es dir danken, Salam!“, Und ging.
„Salam!“, rief Kerim dem Mann hinterher.

Als Kerims Mutter mit seinem Bruder vom Arzt kam brachte sie, wie immer, schlechte Nachrichten.
Nichts hatte sich verbessert, seit sie die Nachricht vor zwei Jahren von Dr. Tabrah erklärt bekamen, dass nur eine teure Operation in einem gut ausgerüstetem Krankenhaus das Leben von Kerims Bruder retten konnte.
Kerim sah in das eingefallene Gesicht seines kleinen Bruders. Die Augen standen ein wenig heraus, seine Arme und Beine waren so dünn, dass er sich kaum aufrecht halten konnte, aber er lächelte seinen großen Bruder an, obwohl er nicht herumrennen, und spielen wie andere Kinder konnte, und sein Leben an einem dünnen Faden hing.
Für ihn, dachte Kerim, war es wert zu sterben.

* * *

Wer ist dein Gott? – Allah ist mein Gott

Wer ist dein Prophet? – Mohamed ist mein Prophet

Was ist das Wort Gottes? – Der Koran ist das Wort Gottes

Was ist die einzig wahre Religion? – Der Islam ist die einzig wahre Religion

Laillahheillallah Mohammesenrasullullah

Kerim ging die Fragen noch mal durch, die ihm ein Engel stellen würde, bevor er Durchgang ins Paradies bekommen würde.
Er würde direkt ins Paradies kommen, Das hatten sie ihm versprochen und Kerim glaubte ihnen.
Eine Frau lächelte ihn an, während er die Stufen zum Eingang des Hotels bestieg. Er sah bestimmt sehr nobel aus in dem Anzug den sie ihm gegeben hatten. Die Frau ahnte ja nicht, dass sich ein Sprengstoffgürtel unter dem Anzug befand. Kerim sah sie nicht länger an und betrat das Hotel.
Warum es sich um dieses Hotel handelte, hatte man ihm nicht gesagt. Sie hatten ihm nur den Gürtel gegeben und losgeschickt.
Er sollte sich in ein Restaurant setzten, warten bis genug Ungläubige um ihn waren, und die Bombe zünden.
Also nahm Kerim Platz und bestellte ein Glas Wasser.
Er sah zum Tisch rechts neben ihm. Ein Mann mit kariertem Hemd stand an einem Stehtisch und nippte an einer Flasche Bier. Links neben Kerim saß ein dicker Europäer und stopfte schwer schnaufend ein Pork Steak in sich hinein.
Kerim kam es fast hoch, als er sah, wie sehr diese Ketzer die Gebote Allahs missachteten.
Er fasste in seine Hosentasche und suchte nach dem Zünder. Plötzlich tippte ihn jemand von der Seite an. Ein kleiner Junge, der ihn in einer ihm fremden Sprache ansprach.
Er strahlte Kerim mit großen Augen an. Kerim spürte einen Klos im Hals, aber er wusste nicht warum. Die Mutter des Jungen kam und zog ihn fort, da fiel es Kerim ein:
Der Junge sah aus wie sein Bruder!
Zweifel kamen in Kerim auf. Er wollte all die Unschuldigen im Gebäude retten, aber die Ungläubigen mussten sterben. Der Junge lachte, als er sich nochmals umschaute, und in Kerims Gesicht sah.
In diesem Moment fand Kerim den Zünder und drückte den Auslöser.
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