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Alt 17.07.2007, 07:51   #1
Syrinx
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 61


Standard Die Flucht Teil I

Die Landstraße

Als das Mädchen 18 und der Junge 19 wurden, verließen sie das Heim, in dem sie solange, wie sie nur denken konnten, lebten. Es waren aber nur 5 Jahre. Die Zeit davor haben sie vergessen, oder wie ihr Psychologe sagte, verdrängt, da sie so Schreckliches erlebt hatten. Vorher, vor dieser ewig scheinenden Zeit, sollen sie eine Familie gehabt haben, wurde ihnen gesagt. Vieles gab es heute nicht mehr, was es früher einmal gegeben hatte und jeden Tag mußten sie von neuem beginnen, da sie vergessen hatten, was einmal war. Ein Schutzmechanismus der sich aufgebaut hatte, um das Grauen der Vergangenheit im Dunkel der vergessenen Erinnerung zu belassen. Nur trennte dieser Mechanismus nicht die bessere jüngere Vergangenheit von der schlechteren, älteren. So entdeckten sie jeden Tag etwas Neues, Positives wie Negatives.
Sie kamen die Landsraße hinunter. Zwischen den hügeligen Bergkuppen blutete der Horizont.
„Wir brauchen ein Zimmer und Geld, um es zu bezahlen“, sagte er zu ihr.
„Wie sollen wir das finden?“
„Wir müssen nur suchen, weil, wer sucht, der findet“, dachte er laut, den netten Prediger vor Augen, ein Bild der Güte, daß sich in seinem bildhaften Gedächtnis eingegraben hatte, um in Notzeiten, wie ein Heiliger zu erscheinen.
„Wer sagt das, dein Therapeut?“ spöttelte sie.
„Ne, das hab ich mal als Kind gehört; ich weiß auch nicht wo, irgendwo in Nirgendwo“; er versuchte in seinem Dunkel etwas zu finden, sah nur Bilder, „vielleicht Weinachten, als es noch von Bedeutung war“.
„Wer weiß, wer es dir gesagt hat; hat er dich gemocht?“
„Warum?“ fragte er.
„Wenn er dich nicht mochte, wird er es böse mit dir gemeint haben.“
„Ich weiß nicht, wer es gesagt hatte.“
„Hatten sie es danach gut mit dir gemeint?“ beharrte sie. Entweder war ein Mensch gut oder böse, war er schlau oder dumm, hilfsbereit oder gefährlich. Sie meinte es den Menschen sofort ansehen zu können, an ihren Gesichtern, an ihren Augen.
„Ich weiß nicht, woran erkennt man das?“ wollte er wissen.
„Vielleicht, wenn du dich an deine Vergangenheit erinnerst. Ich kann mich an meine Vergangenheit nicht erinnern. Dr. Schwärzer holt das aus mir heraus, ist aber so schrecklich, daß ich es gleich wieder vergesse, ist keine gute Vergangenheit.“ Ihre grünen Augen sahen in den Himmel, sahen eine Sternschnuppe fallen. Wozu war das noch gut, daß ein Stern vom Himmel fällt, überlegte sie.
„Mir ist kalt, was mache ich nur dagegen?“ unterbrach der Junge die eingetretene Stille.
„Mir ist nicht kalt, habe Schuhe an.“
„Hab vergessen, sie mir anzuziehen“, bemerkte er, als er zu seinen nackten Füßen hinuntersah. „Wenn du mir einen Schuh gibst, ist mir vielleicht nur halb so kalt und dir nur halb so warm.“
„Du hast aber größere Füße wie ich“, entgegnete das Mädchen.
„War ja nur‘ne Idee, tut mir leid.“
„Muß dir nicht leid tun, kann ja nichts dafür, daß ich kleine Füße habe.“
Sie gingen weiter; der aufkommende Vollmond ließ die sie umgebende Landschaft unwirklich aussehen, so unwirklich, wie ihnen ihr Leben schien. Am Waldrand, oberhalb des Feldes bemerkte das Mädchen ein heraustretendes Reh mit Kitz. Sie freute sich über diese Lebewesen, die ihr so elegant und lieblich erschienen. Das Reh beleckte das Kitz, das darauf wild springend und ausschlagend, voll Lebensfreude und Übermut, über die Wiese sprang. So muß das Leben immer sein, dachte sie.
Sie kamen an einem Buswartehäuschen vorbei und sahen dort eine lumpige Gestalt liegen.
„Laß uns mal den Penner fragen, was er gegen die Kälte tut,“ sagte der Junge frierend.
„Hallo, Herr Penner, was können wir gegen die Kälte machen?“ fragte das Mädchen höflich.
„Mach dir‘n paar warme Gedanken und laß mich in Ruhe!“ keifte der alte Mann heiser, der für diese Art von Spott nichts übrig hatte und drehte sich auf die andere Seite, um seinen Träumen der guten alten Zeit nachzugehen, ins Nebelland seines Rausches.
„Was sind denn nur warme Gedanken?“ fragte das Mädchen vorsichtig.
„Verpisst euch! Saubande! Kann man nich mal hier seine Ruhe ham.“
Erschrocken über diesen bösen Ton, beschloß das Mädchen zu gehen. Sie konnte in den Augen nichts erkennen, nur Leere, das machte ihr Angst.
„Mir ist so kalt“, jammerte der Junge, diesem Gefühl vollkommen ergeben.
„Denk an was Warmes.“
„An was denn nur?“
„An die Sonne“ sagte sie mit leuchtenden Augen, froh über diesen warmen Gedanken.
„Ich sehe aber keine Sonne. Ich kann mich nicht mal an die Sonne erinnern“, sagte er.
„Sonne ist gelb und rund und macht die Pflanzen wachsen.“ Beim letzten Wort machte sie mit ihren Armen eine ausholende Bewegung, voller Begeisterung. Sie konnte diese warme Welt, eine duftende Blumenwiese sehen.
„Dann laß uns das Gelb suchen“, sagte der Junge und beschleunigte seinen Schritt. Durch die veränderte Geschwindigkeit verlor sie den Anschluß an ihre schönen, bunten Bilder und sah sich um.
„Wo nur, hier ist alles grau“, erkannte sie traurig.
„Der Penner hatte alte, gelbe Zeitungen.“
„Aber Zeitungen sind doch nicht warm“, sagte das Mädchen.
„Und gelbe Zähne. Sind meine Zähne gelb? Ähh“, zeigte er ihr seine Zähne.
„Geht so“, sagte sie und sah im Mondlicht einen Vogel auf einem Zweig sitzen, was sie wieder in Begeisterung ausbrechen ließ. „Guck mal da, ein Spatz, der friert auch nicht.“
„Woher willst du das wissen?“
„Er zittert doch gar nicht.“
„Sieht auch ganz schön dick aus, ist dann kein Wunder; ich bin dünn“, sagte der Junge.
„Der plustert sich auf“, erinnerte sich das Mädchen.
„Wie macht er das nur? Hält er die Luft an?“ fragte er.
„Weiß nicht, mir wird jetzt aber auch kalt, hier fühl mal meine Hand.“ Sie hielt ihre Hand an seine Wange.
„Uhh, kalt“, bemerkte er und zuckte zurück. „In meiner Hosentasche ist noch Wärme.“
„Ich will wieder ein Bett und eine Decke“, sagte sie, sich erinnernd und wunderte sich, nur Gutes aus der nahen Vergangenheit zu wissen.
„Aber nich in der Klappse“, erinnerte er das Mädchen und weckte sie aus ihren Träumereien.
„Nein, da ist es warm, aber so kalt, dort lebt man nicht mehr“, sagte sie, nun auch frierend. „Aber man hat da keine Probleme“, fügte sie hinzu.
„Ne, man schläft nur so vor sich hin, auch wenn man wach ist, alles ist ein Traum.“
„Nein, ich will nicht mehr träumen, will leben. Mir is nur so kalt.“
„Laß uns in ein Haus gehen“, sagte der Junge.
„Die sind doch nicht offen.“
„Doch, es muß eins offen sein.“
„Die, die offen sind, sind kalt.“
„Dann müssen wir ein verschlossenes aufbrechen, um Wärme zu finden“, beharrte der Junge.
„Das ist aber verboten“, sagte sie mit zitternden Lippen.
„Is aber erlaubt, zu erfrieren, oder was?“
„Häuser sind nur für Leute, die Geld haben“, überlegte sie weiter.
„Dann müssen wir Geld besorgen.“
„Aber wie?“ fragte sie. Geld war ein abstrakter Begriff für sie. Wo sie herkamen gab es kein Geld, und an die Zeit vor dem Heimaufenthalt konnte sie sich nicht erinnern.
„In‘ne Zeitung gucken, wegen Arbeit und Geld verdienen“, sprach der Junge seinen Geistesblitz aus.
„Die kostet aber Geld.“
„Vielleicht finden wir‘ne alte Zeitung.“ Sie überlegten, wo sie zuletzt eine Zeitschrift gesehen hatten. Der Blick in die Vergangenheit verdunkelte sich, jedoch nicht der Blick in die nahe Vergangenheit, die vor Augenblicken noch Gegenwart war.
„Der Penner hatte alte Zeitungen“, sagte sie.
„Die halten ihn warm, der gibt uns bestimmt keine.“
So gingen die beiden die Landstraße entlang, die kein Ende zu nehmen schien und überlegten, wie sie aus dieser Situation ohne fremde Hilfe herauskommen sollten. Bisher sind ihnen alle Entscheidungen abgenommen worden. Das war nicht immer ein angenehmer Zustand. Die Schlafenszeit hätten sie zu gerne selbst bestimmt, auch das Fernsehprogramm, und noch viel mehr hätten sie den Fernsehraum solange in Anspruch genommen, wie es ihnen paßte. Ja, ihnen wurde viel vorgeschrieben, aber im Leben soll man auch nicht immer alles bekommen können, was man möchte und das müßten sie auch lernen. Nur konnten sie gerade jetzt dieses Gelernte am wenigsten gebrauchen. Vor ihnen zweigte ein Parkplatz ab, den sie als willkommene Abwechselung betraten.
„Da steht ein Altpapiercontainer“, sagte sie und zeigte darauf, sprang ein paar mal in die Luft und klatschte vor Freude in die Hände.
„Woher weißt du das?“ fragte der Junge zurückhaltend.
„Steht doch drauf“, sagte sie strahlend und zeigte auf den Schriftzug.
„Oh“, sagte er errötend und trat etwas verunsichert von einem Fuß auf den anderen, „ich kann nich, äh - lesen“.
„Wieso, warst du nicht in der Schule?“ fragte sie herumtänzelnd.
„Doch, aber ich hab‘s nich lernen können“, sagte er verärgert, „weiß auch nich wieso, war auf‘ner Sonderschule“, fügte er, sich entschuldigend, hinzu.
„Kannst du denn das A, B, C auch nicht?“, fragte das Mädchen und blieb vor ihm stehen.
Für so dumm mochte er nun auch nicht gehalten werden, denn das was ihm gesagt wurde, konnte er behalten. Er behielt mehr, als alle anderen, jede Kleinigkeit, jeden Gesichtsausdruck und jede Missetat gegen ihn. Damit konnte er sich tagelang beschäftigen und in sich versunken dasitzen und die Wand seines Zimmers anstarren.
„Kannst du denn das A, B, C nicht?“, fragte sie ihn noch einmal und wunderte sich, warum sie es eigentlich konnte. Wie kam es dazu?
„Doch, hab ich mal auswendig gelernt,“ sagte er und demonstrierte ihr, „a, b, c, d, e, f, g, h, i, j, k, l, ...“
„Is ja gut, glaub ich ja“, sagte sie etwas laut und sah ihn verwundert an. Denn er hob die Hände schützend, abwehrend vor sein Gesicht und kniff die Augen mit flatternden Lidern zusammen, um sich zu entschuldigen, „kann nur nich die Buchstaben lesen, schlag mich aber bitte nich, kann sie nämlich trotzdem nich lesen.“
„Wieso sollte ich dich denn schlagen?“ wunderte sich das Mädchen.
„Wenn ich n-nich l-les-sen kann, n-nützt das Sch-schlagen nämlich a-auch n-nix.“
„Wozu soll auch Schlagen gut sein? Tut nur weh“, sagte sie und nahm seine Hand, um ihn zu beruhigen.
„Weiß auch n-n-nicht. W-w-wenn man was f-f-falsches m-macht, wird m-man gesch-sch-schlagen,“ sagte er und fing an, am ganzen Körper zu zittern. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn sanft an sich, „brauchst keine Angst zu haben, beruhige dich, ich bin doch da“. So standen sie auf dem Parkplatz und wärmten sich in der helfenden Geste. Das Mädchen dachte über seine Worte nach und fragte ihn, als sein Zittern aufhörte, „wer sagt denn, was richtig ist?“.
„Weiß auch n-nich, muß m-man a-ber w-wissen. Ich w-weiß aber n-nich, was man m-mir nich sagt.“
Das Mädchen freute sich, daß das Schweigen beendet war; bei so nahem Kontakt fühlte sie sich unwohl, aber wollte ihn wieder aufheitern und hüpfte fröhlich etwas zurück. „Man darf bei Rot nicht über die Ampel gehen“, sagte sie.
„Ja, das w-weiß ich“, sagte er und beruhigte sich.
„Woher weißt du das?“ fragte sie ihn weiter.
„Weiß n-nicht, hat mir wohl jemand gesagt“, sagte er.
„Hat er es denn gut mit dir gemeint?“
„Keine Ahnung, weiß ja nicht, woher ich das weiß.“
„Weißt du denn jemand, der es mit dir gut gemeint hat?“ fragte sie ihn und mußte es sich auch selbst fragen.
„Muß ich mal überlegen“, sagte der Junge und zog die Augenbrauen hoch.
„Vielleicht dein Lehrer?“
„N-ne, der hat m-mich im-mer geschlagen.“
„Warum denn?“
„Weiß n-nicht, weil ich vielleicht n-nich l-lesen konnte,“ sagte er.
„Aber gelernt hast du es doch auch nicht durch die Schläge, oder?“
„N-ne, kann im-mer noch nich lesen“, sagte er und grinste, „hat dem n-nämlich überhaupt nichts gen-nützt, hat dann nämlich einen Herzanfall gekriegt“, sagte er und fing an zu lachen. „Hab dann, wie er so am B-boden liegt einen St-t-tuhl genommen und solange auf ihn eingeschlagen, bis er g-ganz tot war.“
„Oh, das war aber ganz böse“, sagte sie und blieb stehen. Die Kälte kroch ihr wieder in die Glieder und sie fing an zu zittern. „Ich will wieder zurück, mir ist so kalt.“
„Ja“, grinst der Junge und starrt vor sich hin, „bis er tot war“. Bei dieser Bemerkung machte er ruckartige Bewegungen mit seinen Armen, um diese Tat noch einmal zu demonstrieren, sie noch einmal zu erleben. Was war das für eine Genugtuung für ihn. „Und niemand hat mich seit dem mehr geschlagen. Sie haben mich dann ihn diese Anstalt gebracht.“
„Wo ist nur die Sonne?“ fragte das Mädchen, erschrocken über das Verhalten des Jungen, „ich brauche die Sonne, die Wärme“.
Der Junge sah in den Nachthimmel, „da ist aber keine Sonne, es gibt keine Sonne, da ist nur der Mond“ und zeigte mit seinem Finger in die Endlosigkeit. Sein Blick war trübe.
„Ja“, sagte das Mädchen und freute sich, nicht ganz verlassen zu sein, „der Mond; er wird von der lieben, warmen Sonne angeschienen; die Sonne macht den Mond leuchten“.
„Die Wärme hat der Mond aber für sich behalten“, sagte der Junge und packte das Mädchen grob am Arm, „der Mond ist kalt, es ist immer kalt; es gibt keine Sonne, die wärmt, sie ist nur grell und tut in den Augen weh“.
„Aua, laß mich los, du tust mir weh“, rief sie mit aufgerissenen, grünen Augen und versuchte sich loszureißen, doch sein Griff war fest, krampfartig kräftig, vom Bewußtsein nicht gelenkt.
Das Mädchen bekam Angst und rüttelte ihren Arm hin und her, „aua, das tut mir doch weh“; sie schlug mit ihrer Faust auf seine Hand.
Der Junge blähte seine Brust auf, „du schlägst mich? Du schlägst mich ja. Niemand schlägt mich mehr, nie mehr, niemand, du auch nicht“. Er ballte seine andere Faust zu Stein und schlug ihr mit all seiner unterbewußten Kraft ins Gesicht, Blut schoß ihr sofort aus der Nase und grüne Seen wurden ihre Augen. Der Kopf flog zurück; doch der Junge riß sie mit einer kräftigen Bewegung wieder zu sich und schlug erneut zu.
„Du schlägst mich nicht!“ brüllte er sie an und traf sie hart an der Schläfe. Darauf sackte sie zu Boden. „Wer mich schlägt, den mache ich kalt.“
So lag das Mädchen am Boden und der Junge hielt ihren Arm fest im Griff, fiel auf seine Knie, griff einen Backstein der am Parkplatzrand lag und zum Ausbessern der Schlaglöcher diente. Nun wurde er einem anderen Zweck zugeführt, mit großer Gewalt. Ein Reh mit einem Kitz verschwanden am Waldrand, aufgeschreckt durch dumpfe Schläge und einem verzerrten Lachen.
„Was ist mit dir?“ fragte das Mädchen verängstigt und hielt ihre Hände vor das Gesicht. Der Junge lag am Boden und krampfte zuckend und um sich schlagend.
„Was ist denn mit dir? Warum hilft uns denn niemand?“ Sie sah sich um, suchte nach einem Menschen, der helfen könnte, doch da war niemand. Sie waren allein, mit sich selbst allein.
Das Zucken ging in ein Zittern über, um dann zu verebben. Sie kniete sich zu ihm und strich ihm mit ihrer Hand das verschwitzte Haar von der Stirn.
„Es ist alles gut, alles ist gut, sei ganz beruhigt, ich bin ja da.“
Langsam fanden die Worte durch den Nebel seines Geistes in sein Bewußtsein. Er hielt die Augen verschlossen und genoß die ihm zukommende, mütterliche Zärtlichkeit, die sanften Worte.
Sie faßte ihn unter den Achseln und zog ihn auf ihren Schoß, um ihn im Arm zu halten, „alles wird gut, ich bin ja da, ich helfe dir“.
Der Junge öffnete seine Augen und blickte verstört um sich, „was ist passiert, wo bin ich?“.
„Ich weiß nicht wo wir sind, aber ich bin hier“, antwortete das Mädchen, glücklich über das Erwachen des Jungen.
„Was ist denn – passiert? Mein Fuß tut mir weh. Wer hat mir das getan?“
„Niemand hat dir was getan, ich bin doch hier. Du bist plötzlich umgefallen und hast so schrecklich gezuckt und gezittert und mit deinem Fuß an den Straßenpfeiler getreten.“
„Wo bin ich denn?“

Den Rest gibt es morgen. Der Text war zu lang.
Syrinx ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.07.2007, 08:20   #2
Syrinx
 
Dabei seit: 06/2007
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Standard Die Flucht

Die Flucht Teil II

„Ich weiß es doch nicht, auf einem Parkplatz, an einer Landstraße“, sagte das Mädchen.
So lag der Junge im Arm des Mädchens und wußte nicht, ob er darüber nun glücklich sein sollte oder verängstigt.
„Wenn ich dir helfe, kannst du dann aufstehen?“
„Ich will’s versuchen“, sagte der Junge und stand, auf das Mädchen gestützt, mit wackeligen Beinen, auf.
„Mir ist so kalt“, zitterte er.
„Mir auch“, sagte das Mädchen, „aber es kann nicht immer Nacht bleiben“.
„Und wenn doch?“
„Dann bin ich immer noch da.“
„Ich weiß nicht; ich weiß gar nicht mehr, wie die Sonne aussieht.“
„Bald werden wir die Sonne sehen, sieh in den herrlichen Sternenhimmel, keine Wolke, bald sehen wir die Sonne“, lachte das Mädchen, nun wieder glücklich, einen fröhlichen Gedanken gefunden zu haben und diese schreckliche Situation überstanden zu haben.
Der Junge freute sich über seine Begleitung, die ihm so viel Hilfe und Wärme zukommen ließ, „ja, laß uns weitergehen.“
„Wohin werden wir wohl gehen?“ fragte das Mädchen.
„Ich weiß nicht – irgendwo hin, vielleicht nirgendwo hin – ich weiß nicht.“
„Wo wollten wir eigentlich hin?“ fragte das Mädchen.
„Weg wollten wir, woanders hin, wo hin, wo die Sonne scheint, wo die Sonne wärmt. Ob wir den Ort wohl finden?“
„Bald muß die Sonne aufgehen, dann sind wir da.“
„Ja, sie muß bald aufgehen, mir ist so kalt“, sagte der Junge zitternd.
So gingen die beiden durch die Nacht, Arm in Arm, sich gegenseitig wärmend, über eine endlos scheinende Landstraße.
„Wir müssen doch bald ein Haus finden, ein Dorf“, sagte der Junge.
„Ja, ein warmes, gemütliches Haus.“
„Ja, wo es was warmes zu essen gibt.“
„Ein warmes Zimmer, vielleicht mit einem Kamin und warmen, prasselndem Feuer“, träumte das Mädchen den Gedanken weiter.
„Einem Sofa mit einer kuscheligen Wolldecke“, lachte der Junge.
„Und einer netten alten Frau, die uns was zu essen gibt“, sagte das Mädchen und schluckte etwas Wehmut hinunter.
„Und einem Fernseher mit meinem Lieblingsprogramm“, ergänzte der Junge.
Sie gingen beide in ihre Träume gehüllt weiter, doch ihnen wurde wieder kalt.
„Verdammt, hier ist kein Haus, weit und breit“, sagte der Junge ärgerlich über die Kälte.
„Da hinten kommt ein Auto, vielleicht kann es uns mitnehmen zum nächsten Ort“, rief das Mädchen fröhlich und hüpfte auf die Straße, um es zum Anhalten zu winken.
Der Wagen kam schnell näher, der Sportauspuff röhrte.
„Vorsicht“, rief der Junge, „der sieht dich vielleicht nicht, es ist doch dunkel“.
„Der muß mich aber sehen, „hallo“, rief das Mädchen fröhlich, „anhalten!“.
„Vorsicht, der ist zu schnell!“
Die Reifen quietschten, der Frontspoiler setzte mehrmals auf, der Wagen schleuderte. Der Junge kniff die Augen zu und drehte sich weg, als wolle er sich schützen.
Mit einem Wimmern endete das Quietschen und der Wagen stand, die Scheibe wurde elektrisch heruntergelassen und der donnernde Baß heruntergedreht. „Bist du wahnsinnig, ich hätte dich fast über den Haufen gefahren, du Irre!“, brüllte eine rauhe Stimme.
„Eh, frag die Schnitte doch was sie will“, rief eine andere Stimme aus dem Wageninnern.
„Was is’n los, was willste?“ fragte der Fahrer.
„Wir wollen mit in den nächsten Ort, wo es warm ist“, sagte das Mädchen etwas eingeschüchtert von der Rauheit des Wortes.
„Mitfahren will se, Mann.“ „Soll se doch mitfahren.“ „Komm las die Alte rein“, tönten alkoholisierte Stimmen aus dem Auto.
Der Junge stand am Straßenrand und sah sich das Geschehen an.
„Aber wir sind zu zweit“, sagte das Mädchen, „uns ist kalt“.
„Wir haben nur Platz für einen“, sagte der Fahrer.
„Los, Mann“, tuschelte jemand im Hintergrund, so daß es nicht nach außen drang, „las dir was einfallen, die Braut is geil“.
„Äh, wir können dich mitnehmen, bis in den nächsten Ort, da lassen wa dich raus und holen deinen Freund, ist doch in Ordnung, oder?“
„Oh, ja“, freute sich das Mädchen und hüpfte zum Wagen. „Ihr seid wirklich nett.“
„Klar sind wir das.“
„Und wie“, rief jemand aus dem Wagen.
„Die kommen gleich dich holen, ich fahre zuerst, ja?“ rief das Mädchen zum Jungen.
„Ich weiß nicht“, sagte er.
Sie stieg in den Wagen auf die Rückbank, zwischen zwei betrunkene Männer und sah in ihren Blicken Gier. Obwohl sie darum gebeten hatte, wieder aussteigen zu dürfen, fuhr der Wagen mit quietschenden Reifen und röhrendem Auspuff, unter besoffenem Gelächter ab.
Der Junge wartete lange, bis er es vor Kälte nicht mehr aushielt und ging die Landstraße weiter hinunter, in der Hoffnung, bald die Ortschaft zu finden, wo das Mädchen in dem warmen Haus mit der netten, alten Frau, dem Sofa, dem Kamin und dem Fernseher auf ihn warten würde. Doch die Landstraße war endlos.
Ein Vogelkonzert begann und der Himmel errötete. Der Junge war zu müde zum frieren, zu müde zum laufen. Der Duft einer Blumenwiese wehte zu ihm herüber. Die Sonne stieg langsam herauf schreckte die Nacht hoch, daß sie sich langschattig verkroch.
„Oh, die Sonne, die Blumenwiese, es wird wärmer.“
Er ging von der Straße auf diese Wiese und atmete die Luft, das Leben, tief ein, ein Leben das dort schlief, für immer.
„Da liegt doch jemand“, flüsterte der Junge zu sich selbst, „da ist sie doch“ und lief über die Wiese, dem Waldrand entgegen, wo ein Feldweg, von der Landstraße abzweigend, endete. Er kam näher und wurde langsamer, bis er vor dem Mädchen stehenblieb.
„Hallo, da bist du ja, sieh die Sonne, da ist die Sonne endlich und die herrliche Blumenwiese“, sagte der Junge mit trüb glänzenden Augen. Doch das Mädchen rührte sich nicht und starrte mit weit offenen Augen nach Nirgendwo. Er setzte sich zu ihr ins Gras und zupfte ihre zerrissenen Kleider zurecht.
„Dir wird kalt, wenn du dich nicht wieder richtig anziehst. Sieh, die Sonne, endlich ist die Sonne da, sieh doch.“ Das Mädchen starrte nach Nirgendwo.
„Endlich sind wir da, wo wir hinwollten, nicht wahr?“ Er griff ihre Hand, „uh, du bist aber kalt“ und legte sich zu ihr. Er sah glücklich in die Sonne; er sah sehr lange in die Sonne, bis der Morgentau seine Lider benetzte, oder waren es Tränen? Er sah in die Sonne, bis er blind war.
Eine Glocke läutete und jemand rief, „essen kommen“.
„Komm“, sagte das Mädchen zum Jungen, „wir müssen zum Essen“.
„Was?“, fragte der Junge aus seinen Träumen gerissen, „wo bin ich?“
„Warte, ich helfe dir, wir müssen essen.“ Sie sprang fröhlich auf und führte den blinden Jungen zurück in die Psychiatrie. Er war glücklich, daß er diesen Menschen, der so nett zu ihm war, hatte.
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