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Alt 17.07.2007, 07:47   #1
Syrinx
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 61


Standard obdachlos

Diese Kurzgeschichte erschien in der Obdachlosenzeitschrift in Göttingen:


Die wahren Göttinger

Laßt mich diese kleine Göttinger Geschichte einmal erzählen. Etwas sehr schönes habe ich gesehen, ein niedliches Pärchen. Sie umarmten sich auf dem Bürgersteig mitten in der Stadt.
Sie freuten sich, daß sie endlich einander gefunden hatten, was sicherlich fast einem Wunder nahe kam und im weiteren zu erläutern wäre.
Man sah ihren Gesichtern an, wie viel Elend sie durchgemacht hatten, wie viel Elend sie jetzt zur Zeit noch ertragen.
Man sah aber auch ihre Freude in ihren Augen, das alles nun vergessen zu können, zu wollen, zu müssen. An ihrer Kleidung sah man aber auch, daß es nicht geschehen wird.
Nicht, daß sie sich bald nicht mehr lieben werden, nein, das will ich nicht sagen.
Man könnte denken, da haben sich wirklich zwei gefunden; sie passen ja wirklich perfekt zusammen. Würden sie heiraten, meinen Segen hätten sie.
Beide sahen sich sehr ähnlich, hatten beide die gleiche Hautfarbe, ja sogar die gleiche Haut, ziemlich rot, ziemlich vertrocknet. Sarkastisch könnte man quasi sagen, so alt wie sie aussehen, können sie nicht mehr werden. Mag vielleicht sogar so sein.
Sie hatten beide die gleiche stumpfe Leerheit in ihren verliebt blickenden Augen. Daß solche zerlebten Augen, noch dieses lebende Feuer von Liebe auszustrahlen vermochten. Das würde ich gerne in all diesen Leuten scheinen sehen. Natürlich wird es das nicht geschehen, jedenfalls nicht in diesem Leben, in dieser Welt.
Ja, ja, da läuft einer verdreckt, langhaarig und barfuß in dieser Stadt herum. Sarkasmus nennt ihn Jesus. Dieser läuft sogar teilweise barfuß im Winter, wenn man schon beschuht kalte Füße bekommt.
Ja, dieser wird sicher nicht mehr das Licht in seinen Augen zu strahlen bekommen. Obwohl, so manche Frau seines Standes wäre noch zu erwähnen. Eine theoretische Möglichkeit bestünde da noch, die wohl stark zu bezweifeln wäre, aber eine Erwähnung in diesem Zusammenhang wert ist.
Das erste Mal, als ich eine dieser Frauen durch die Stadt gehen sah, war ich doch erschrocken, wohl darüber, mit diesem Auftritt nicht gerechnet zu haben, aber auch darüber, aus meinem Leben gerüttelt worden zu sein, eine Waagschale meiner Probleme auf der einen Seite und auf der anderen die ihrigen, vor meinem geistigen Auge, woraus sich mein Weltbild wieder gerade rückte, so wie es des öfteren geschehen muß.
Diese Frau kleidete sich durchaus weiblich, so daß es jedenfalls zu erkennen war, was nicht unbedingt in dieser Volksgruppe häufig war. Bei manchen Frauen auch in meiner Volksgruppe muß man doch manches mal genau hinsehen, um das Geschlecht zu erkennen, da es in unseren Konversationen zur besseren und einfacheren Verständigung beiträgt, oder, wo ich über Liebe spreche, gerade auf diesem Sektor zu einigen peinlichen Situationen kommen kann und zu einigem Erschrecken vor sich selbst, sich mit seiner entdeckten Zweigeschlechtlichkeit auseinandersetzen zu müssen, um es am Ende auf einen Informationsfehler zu schieben und sich für wieder ordentlich in Ordnung zu halten, schaut man nicht genau hin.
Ea wäre aber auch noch die andere Frau zu erwähnen, die einen Literaturtip für eine kleine Spende verteilen wollte, ein Buchtip für ein belangloses Werk über Körnerfresser. Ich wollte ihr schon mal was gutes zu lesen gebe, aber ich fand sie nicht wieder. Schade. Vielleicht ist sie nun längst versunken in ihrer Welt, dort ertrunken, aber Bücher können schwimmen, eine Zeit lang, dann gehen sie wohl auch unter.
Hätte sie nicht diese Hautfarbe und diese Haut, wäre sie sicher eine attraktive Frau. In ihren Kleidern findet man ebenfalls Tücher, die aber bunter sind, als erstgenannt sie trägt. Damit scheint sie etwas Farbe in ihr Leben zu tragen, um ihre Farblosigkeit besser ertragen zu können.
Auch wenn die Sonne scheint, erscheint ihr Leben farblos, ihre Welt kalt und schmerzvoll, ihr Leben mit Sehnsucht beschwert, einer Sehnsucht, so einfach und doch so viel komplexer, als die unserer Welt.
Und da stand dieses Pärchen auf dem Bürgersteig, küßte sich und brachte es auf den Punkt. Es sind die wahren Göttinger, denn als Obdachlose wohnen und leben sie in der ganzen Stadt, wer weiß wo?
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