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Alt 11.12.2017, 11:52   #1
weiblich Visolela
 
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Standard Soll ich, soll ich nicht?

So, jetzt ist es also passiert. Obwohl ich natürlich immer wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, hat es mich doch ziemlich umgehauen. Meine Gefühle schwanken zwischen Hass, Wut, Erleichterung und Freude. Ach ja, und ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen. Weil ein winziger Teil meines "Ichs" sich freut. Darf man das? Darf man sich freuen, wenn die eigene Mutter im Begriff ist, zu sterben?

So, jetzt ist es raus. Meine Mutter stirbt und ich freue mich darüber. Ein bisschen. Ein bisschen bin ich auch traurig deswegen. Aber nicht so sehr, wie ich sein sollte, fürchte ich. Aber kann man es mir verdenken? Seit mehr als zehn Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen, nicht mit ihr gesprochen. Hab ich sie in dieser Zeit vermisst? Nein, eigentlich nicht. Ich habe eine Mutter vermisst, aber nicht meine Mutter. Ich hätte gerne eine Mutter gehabt, mit der ich reden kann, die mich ernst nimmt und versteht, mit der ich mich zum Shoppen verabreden kann oder zum Kaffee trinken, eine Mutter, mit der ich lachen und weinen kann. So eine Mutter habe ich nie gehabt. Ich hatte eine Mutter, die mich physisch und psychisch misshandelt hat, mehr als dreißig Jahre lang. Bis es mir endlich gelungen ist, mich von ihr frei zu machen und jeglichen Kontakt zu ihr abgebrochen habe. Dennoch, eine gewisse Sehnsucht ist geblieben. Nach einer Mutter, die so ist, wie Mütter sein sollen. Lieb und verständnisvoll, manchmal auch sauer, klar, aber immer bereit zur Versöhnung. Pustekuchen, das gab es nicht für mich. Und jetzt, wo sie bald tot ist, wird mir klar, dass es das niemals für mich geben wird. Niemals. Vorbei. Vorbei die Träume von Hoffnung, dass wir uns irgendwann doch wieder annähern, dass wir Mutter und Kind sein können, ohne dass sie mir weh tut. Zu spät. Und zu spät für Erklärungen ihrerseits. Zu spät für Entschuldigungen. Ist ihr Verhalten mir gegenüber überhaupt zu entschuldigen? Von mir? Von der Gesellschaft? Vielleicht nicht. Aber trotzdem...

Was sie wohl sagen würde, wenn ich sie ein letztes Mal besuchen würde? Würde sie sich freuen? Oder würde sie noch auf dem Sterbebett mit mir schimpfen und mich fertig machen? Ich kann es nicht sagen. Hat sie mittlerweile eingesehen, dass sie sich mit gegenüber falsch verhalten hat? Bereut sie es, nun, so kurz vor dem Ende? Soll ich ihr einen Schritt entgegen gehen, den Anfang machen? Vielleicht hat sie nach allem nur nicht den Mut, ihrerseits den ersten Schritt zu machen? Aber wer garantiert mir das? Wer sagt denn, dass es eine Versöhnung in letzter Minute geben würde? So viele Fragen, so viel Ungewissheit. So viel Angst. Ich will mir nicht noch einmal von ihr weh tun lassen. Aber vielleicht käme es dazu.Wie oft habe ich jetzt schon das Wort "vielleicht" geschrieben? Ich will es nicht nachzählen. Aber es sind zu viele. Alles ist Unsicherheit. Und diese Unsicherheit hemmt mich. Ich weiß ja, eigentlich "gehört" es sich so, sie zu besuchen, in dieser Zeit. Aber ich will nicht. Alles in mir sträubt sich dagegen. Und doch...

Sie ist doch meine Mutter. Wie würde, wie soll ich reagieren, wenn jemand aus meiner Familie sich bei mir meldet und mich bittet, meine Mutter zu besuchen? Wenn sie sagen, dass sie mich sehen will? Soll ich dann zu ihr fahren? Um was zu tun? Um ihr ein letztes Mal zu sagen, dass sie mein Leben zerstört hat? Dass ich bis heute nicht in der Lage bin, ein "normales" Leben zu führen? Soll ich ihr meinen Hass, meine Wut, meine Enttäuschung ins Gesicht schreien? Soll ich die Zähne zusammen beißen, oberflächlich mit ihr reden, dreißig Jahre ignorieren?
Das Telefon klingelt.Meine Tante ist dran. Sie sagt, wenn ich meine Mutter noch einmal sehen will, sollte ich mich so bald wie möglich auf den Weg machen.

Soll ich, soll ich nicht?
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