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Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

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Alt 07.08.2023, 07:56   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der schweigsame Gast

Mein Vorzimmer hat sich allmählich geleert
bis auf einen einzigen, schweigsamen Gast,
er harrt des Termines, der niemals verjährt,
denn Zeit hat für ihn keinen irdischen Wert
und wandelt sich nimmer zur gramvollen Last.

Er liefert ein Ticket, das ich nicht gebucht,
zur zwingenden Reise, von mir nicht ersehnt,
ihr Endpunkt gefürchtet, mithin nie gesucht,
im Sinn nicht verstanden und dreifach verflucht,
ein Fahrplan, der sich in die Ewigkeit dehnt.

Was hilft's?
Was gilt's?

Die Welt gehört dem Knochenmann,
er kommt zur Tür, klopft sachte an,
zeigt mir die Sanduhr, mild gesinnt,
durch die das letzte Körnchen rinnt.
Jetzt ist auch fünf vor Zwölf vorbei,
und seltsam: Mir ist's einerlei.

07.08.2023
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Alt 07.08.2023, 10:14   #2
männlich Erhard Gratz
 
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In Fünfzeilern kunstvoll gereimt, mit einer einschneidenden Zäsur und endend in einer abgeklärten Melancholie, - das ist sehr gut. Das kleine Stolpern in Vers zwei ist kein Problem.
Ich habe Deinen Gast zu einem meiner Favoriten gemacht.

Gruß, Erhard
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Alt 07.08.2023, 14:56   #3
weiblich Candlebee
 
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Ein Gast, der jeden einmal besucht. Absolut gelungen, wie ich finde. Den Einstieg mag ich besonders.

"Mein Vorzimmer hat sich allmählich geleert
bis auf einen einzigen, schweigsamen Gast."

Zunächst kam mir der Tod nicht in den Sinn, aber je weiter ich gelesen habe, umso klarer wurde das Bild.

Nette Grüße, Candlbee
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Alt 07.08.2023, 15:38   #4
weiblich Ilka-Maria
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Ich danke euch für die posiitiven Rückmeldungen, will aber nicht verhehlen, dass ich eine Stichwortgeberin hatte, nämlich die wunderbare französische Schauspielerin Fanny Ardant, die mittlerweile 76 Jahre alt ist und mir mit dem "Vorzimmer des Todes" den Aufhänger zu meinem Gedicht gab. Oft genügt so ein Begriff, um die eigene Phantasie anzukurbeln.

Liebe Grüße
Ilka
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Alt 08.08.2023, 09:28   #5
weiblich Ottilie
 
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Hübsches Kokettieren mit dem Unvermeidlichen... Ein bisschen feilen könnte man an Metrum+Rhythmus, siehe Hinweis von E. Gratz... Bleibt die Frage: Redet man sich die "Keinangst" ein? Sollte sie wirklich vorhanden sein, hätte das Leben wohl keine große Bedeutung mehr...
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Alt 08.08.2023, 10:01   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
Ein bisschen feilen könnte man an Metrum+Rhythmus, siehe Hinweis von E. Gratz...
Diesen angeblichen Stolperer gibt es nicht. Der Rhythmus ist in Vers eins und zwei absolut identisch.

Mein Vorzimmer hat sich allmählich geleert
xXxxXxxXxxX
bis auf einen einzigen, schweigsamen Gast, ...
xXxxXxxXxxX

Wie auch in den übrigen Langversen.
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Alt 08.08.2023, 10:14   #7
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879

Liebe Ilka-Maria,
ach ja, da war doch noch was - das Gedenken ans Unausweichliche getreu dem Wort: Memento mori. Das LI kommt zu dem Schluss: Mir ists einerlei. In stoischer Ruhe, in Abgeklärtheit nimmt es die Tatsache zur Kenntnis, dass unser Leben recht kurz bemessen ist und wir Menschen schaffen uns Bilder vom "Gast", die ganz unterschiedlich ausfallen. Da gibt es den Knochenmann mit dem Stundenglas, die antiken Göttinnen, die den Faden bemessen und abschneiden, den "Freund Hein" und alle unsere Vorstellungen haben etwas mit der Angst vor dem Lebensende zu tun. Auch die christlich geprägte Erziehung verhindert nicht, dass wir mit Schrecken an das Unausbleibliche denken und offensichtlich hilft die Hoffnung auf die ewigen Seligkeiten im Jenseits nicht weiter. Da lob ich mir das Bild vom kraftvollen Hermes, dem Psychopompos mit der Fackel, die er im Moment des Todes umkehrt und auslöscht und die Seele der Toten ins Jenseits geleitet und Bilder von einer Höllenfahrt nicht kennt.
Wir trauern um die Toten und eigentlich wäre eine Freudenfeier angebracht.
Dein Gedicht mit einigen (gewünschten -?-) metrischen Hopsern macht nachdenklich und hängt dem Warnschild "memento mori" einen Nebensatz an: "aber zum Fürchten gibt es keinen Anlass".
Keiner weiß und keiner hat es erlebt, was "dann" kommt. Bleibt ein zweiter Spruch, den ich mir zu eigen gemacht habe: Carpe diem!
Liebe Grüße,
Heinz

Nebenbei: Die "Holperer" haben sicher etwas mit der individuellen Betonung der einzelnen Verse zu tun.
Die von Dir exemplarisch erwähnten Verse:

"Mein Vorzimmer hat sich allmählich geleert
bis auf einen einzigen, schweigsamen Gast"

kann man auch so lesen:
Mein Vorzimmer hat sich allmählich geleert
bis auf einen einzigen, schweigsamen Gast,

XXxxXxxXxxX
xxXxXxxXxxX
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2023, 10:19   #8
weiblich Ottilie
 
Dabei seit: 05/2021
Beiträge: 341

Standard Gibt es nicht...

Diesen angeblichen Stolperer gibt es nicht. Der Rhythmus ist in Vers eins und zwei absolut identisch.

Was dreien auffällt, einer aber nicht, muss deswegen noch lange nicht ad absolutum existieren. Es ist ein altes Problem: Was der eine/die einen als rhythmisch korrekt empfinden, sprechen/lesen andere anders.
Ottilie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2023, 10:25   #9
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
Es ist ein altes Problem: Was der eine/die einen als rhythmisch korrekt empfinden, sprechen/lesen andere anders.
Tja, aber es ist nicht mein Problem, deshalb war ich auf Erhards Hinweis nicht eingegangen. Es spielt keine Rolle, wieviele Leser die gleiche falsche Wahrnehmung teilen. Wer sich seiner Sache absolut sicher ist, darf gerne konkrete Verbesserungsvorschläge machen, mit denen ich - vielleicht - etwas anfangen kann. Und wer sich nicht sicher ist, könnte im Duden nachschauen, wie man ein Wort betont, im Falle von "allmählich" nämlich auf der mittleren, langgezogenen Silbe.
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Alt 08.08.2023, 10:26   #10
männlich Erhard Gratz
 
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Ilka, ich bin mir da nicht sicher.

Du liest:
bis auf einen einzigen schweigsamen Gast ...
Normalerweise würde ich lesen:
bis auf einen einzigen schweigsamen Gast ...

Was macht das Wörtchen "auf" so betonungswürdig?
Erhard Gratz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2023, 10:30   #11
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Erhard Gratz Beitrag anzeigen
Ilka, ich bin mir da nicht sicher.

Du liest:
bis auf einen einzigen schweigsamen Gast ...
Normalerweise würde ich lesen:
bis auf einen einzigen schweigsamen Gast ...

Was macht das Wörtchen "auf" so betonungswürdig?
Ich bin mir absolut sicher, dass meine Hebungen stimmen. In deinem Beispiel lässt du die ersten drei Wörter unbeachtet; so einfach geht das aber nicht, es gibt keine vier unbetonten Silben hintereinander. Und im übrigen betonst du ab "einzigen" genau, wie ich es tat.

Bei einsilbigen Wörtern, die zunächst keine Eigenbetonung haben, ergibt sich aus dem Metrum, ob sie betont werden oder unbetont bleiben. Also wo ist das Problem?

[QUOTE Heinz]
kann man auch so lesen:
Mein Vorzimmer hat sich allmählich geleert
bis auf einen einzigen, schweigsamen Gast,
[/QUOTE]

Nein, auch so funktioniert es nicht. Wenn der Auftakt "Mein" betont wird, bekommt das Wort eine falsche Bedeutung. Man müsste automatisch fragen: "Und dein/sein/ihr Vorzimmer? Hat sich das auch geleert?"

Und wer bereits "einen" betont, braucht das Wort "einzigen" als Verstärkung nicht mehr. So betont kein Mensch, weder in der Lyrik, noch in der Prosa. Anders wäre es, zu sagen: "Die eine, und sonst keine." Dann läge die Betonung auf der ersten Silbe.

Komischerweise fragt niemand danach, weshalb die Abschlußstrophe zu kurzen Versen wechselt. Das wäre doch wesentlich interessanter.
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