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Alt 12.05.2024, 19:57   #1
weiblich Inka
 
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Standard Einige Bücherschätze….

...besitze ich noch aus meiner Kinderzeit in der ehemaligen DDR (1945-1959), die ich nach Jahrzehnten hervorkramte und voller Neugier und Freude zu lesen begann.

Zunächst „Spätzchen und ihre Freunde“ von J. Karnauchowa und „Nikitas Kindheit“ von Leo Tolstoj.

Bei „Spätzchen“ - ihr Name ist eigentlich Tanja -, wo sich das Leben auf einem Dorf abspielt, konnte ich mich etwas damit indentifizieren, obwohl ich kein „Junger Pionier“ war. Ich bewundere sehr die große Hilfsbereitschaft und Solidarität anderen Menschen gegenüber.

In dem Buch von Tolstoj beeindrucken mich immer wieder die liebevollen Anreden, z.B. Mütterchen oder auch mal Großmütterchen.

So mussten wir übrigens unsere Oma väterlicherseits nennen. In Ostpreußen setzte man ja auch sehr oft ein „chen“ hinter einige Wörter, was irgendwie zärtlicher klingt.

Ich staunte, dass sich Kinder untereinander seinerzeit sogar siezten?

Da mir eine Geschichte in dem Buch besonders gefiel (das er übrigens seinem Sohn Nikita Alexejewitsch Tolstoj widmete), schrieb ich einige Passagen ab. Ob es den Lesern auch gefällt?

Gelbschnabel saß auf einem Grasbüschel in der prallen Sonne in der Ecke zwischen der Treppe und der Hauswand und blickte voller Entsetzen auf Nikita, der auf ihn zukam. Das war noch ein ganz kleiner grauer Star, der offenbar versucht hatte, aus dem Nest zu schlüpfen, aber die ungeübten Flügel hatten ihn nicht getragen. Gelbschnabels Herz schlug verzweifelt. Er dachte: „Nicht mal mehr „piep“ werde ich sagen können, gleich wird er (Nikita) mich fressen.“ Er selbst wusste genau, wie man Würmer, Fliegen und Raupen frisst.

Der Star wurde auf das Fensterbrett des nach dem Garten zu geöffneten und mit weißem Mull bespannten Fensters gesetzt. Gelbschnabel verkroch sich gleich in die Ecke. Er war bemüht, zu zeigen, dass er sein Leben nicht billig verkaufen würde.

Draußen, vor den weißen Nebeln des Mulls, rauschten Blätter und im Strauch zankten sich Spatzen, dieses Diebesgesindel. Von der anderen Seite blickten Nikitas große bewegliche Augen mit einem unverständlichen und bezaubernden Ausdruck. „Ich bin verloren“, dachte Gelbschnabel, Aber Nikita fraß ihn auch an diesem Abend nicht auf, sondern legte nur Fliegen und Würmer hinter den Mull. „Er mästet mich“, dachte Gelbschnabel und schielte nach einem roten augenlosen Wurm, der sich wie eine Schlange vor seiner Nase hin und her wand. „Ich werde ihn nicht fressen, es ist kein richtiger Wurm, Betrug!“

Die Sonne ging hinter den Blättern unter. Graue einschläfernde Dämmerung verhüllte ihm die Augen. Der Kopf sank immer tiefer in die Federn. Sich für jeden Fall zornig aufplusternd, schwankte Gelbschnabel vornüber, dann wieder hintenüber und schlief ein.

Ihn weckten die Spatzen, die sich auf dem Fliederzweig zankten. Das Licht wurde blauer. Die Vögel begannen zu singen und durch die Blätter fiel auf den Gelbschnabel ein warmer, greller Sonnenstrahl. „Ich werde weiterleben“, dachte Gelbschnabel. Nikita trat heran, steckte seine Hand durch den Mull, öffnete die Finger und streute Fliegen und Würmer auf das Fensterbrett.
Als Nikita wegging, richtete sich Gelbschnabel auf und dachte: „Er hat mich also nicht gefressen, obgleich er es gekonnt hätte. Also frisst er keine Vögel, nun, dann ist nichts mehr zu befürchten.“

Dann kam eine Krähe ans Fenster geflogen. Sie schnarrte, lief hin und her, wackelte mit dem Schwanz und tat nichts Vernünftiges. Ein Rotkehlchen sang lange von dem heißen Sonnenlicht, von honigsüßem Klee. Gelbschnabel wurde sogar traurig. Es pulste in seinem Kehlchen. Er verspürte Lust, zu singen – aber wo? Doch nicht am Fenster, hinter dem Netz!

Er durchwanderte von neuem das Fensterbrett und erblickte ein fürchterliches Tier: Es ging, nein, schlich auf weichen, kurzen Pfoten, kroch mit dem Bauch auf dem Boden hin. Es hatte einen runden Kopf mit einzelnen Schnurrbarthaaren, die nach oben standen, und seine grünen Augen, die schmalen Augenschlitze, brannten in teuflischer Wut.

Gelbschnabel hockte sich hin und rührte sich nicht. Der Kater, Wassilij Wassiljewitsch, sprang gewandt in die Höhe, grub seine langen Krallen in den Rand des Fensterbrettes, starrte durch den Mull Gelbschnabel an und öffnete das Maul. Herrgott, im Maul blinkten gelbliche Zähne, größer als Gelbschnabels Schnabel…Der Kater schlug mit der kurzen Pfote und zerrte und riss an dem Mull. Gelbschnabel blieb das Herz stehen und seine Flügel sanken herab, aber in diesem Moment erschien Nikita, packte den Kater am gesträubten Fell und warf ihn zur Tür hinaus. Wassilij Wassilijewitsch jaulte beleidigt auf und lief davon.

„Es gibt kein Tier, das stärker wäre als Nikita“, dachte nach diesem Zwischenfall Gelbschnabel, und als Nikita wieder herankam, ließ er sich am Köpfchen streicheln.

So lebte nun im Hause außer dem Kater und dem Igel eine dritte Tierseele: Gelbschnabel. Er war sehr selbständig, klug und unternehmungslustig. Er liebte es, zuzuhören, wenn die Menschen sich was erzählten, und wenn sie sich an den Tisch setzten, lauschte er mit schiefem Köpfchen. Wenn Mütterchen Gelbschnabel sah, pflegte sie stets zu sagen: „Guten Tag, mein kluges Vögelchen!“ Gelbschnabel sprang sofort auf die Schleppe von Mütterchens Kleid und fuhr sehr zufrieden hinter ihr her. So lebte er bis zum Herbst, wurde groß und bekam ein rabenschwarzes Gefieder, lernte ausgezeichnet russisch sprechen und lebte beinahe den ganzen Tag im Garten.

Im August lockten ihn wilde Stare zu sich, lehrten ihn fliegen, und als im Garten die Blätter fielen, flog Gelbschnabel mit den Zugvögeln übers Meer nach Afrika.

P.S. Es ist im Grunde genommen nur eine ganz einfache Geschichte, aber dieser Schreibstil, diese Sprache haben mir es angetan und bin da irgendwie hin und weg.

Antiquarisch wird „Spätzchen und ihre Freunde“ einige Male noch zwischen
Euro 8.00 – 60,00 angeboten.


„Nikitas Kindheit“ zwischen Euro 1,19 – 92,19
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