Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 02.04.2010, 17:10   #1
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


Standard Eine Tomate und ein Mädchenhaarzopf...

.... und was sie miteinander zu tun haben

Mein erstes Erinnern beginnt mit einer Ohrfeige. Nicht die, die mein Vater mir kurz darauf gab. Das ist nur die erste Erinnerung an seine Hand. Ich war bereits fünf Jahre alt (was vorher war, liegt im Dunkeln) und stand in einem Garten, in dem mehrere Reihen von Tomatenstauden sich dicht aneinanderdrängten. Der Junge, dessen Vater der Garten gehörte, stand neben mir. Ich war auf dem Weg zum Kindergarten, und der Junge hatte mich über den Gartenzaun hinweg zu sich gewunken. Er war mindestens doppelt so alt und entsprechend kräftiger und größer. Er sah er auf mich herab, zeigte auf eine der fetten roten Früchte und fragte „Willst du eine Tomate?“ Tomaten waren damals das einzige Gemüse, das ich wirklich mochte. Blumenkohl etwa löste bei mir sofortige Brechreize aus. „O ja, gern!“ sagte ich, und als ich zu dem Jungen aufblickte, gab er mir die Ohrfeige. Obwohl ich mich des metaphorischen Zusammenhangs sogleich bewusst wurde - Tomate hieß in der Umgangssprache der damaligen Jungs auch Ohrfeige -, sagte ich wiederum Ja, als er mich fragte „Willst Du noch eine Tomate?“ Ich hielt die erste Frage für eine Art von Scherz, wie er unter etwas älteren Jungs üblich war, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand so gemein sein könnte, einen derartigen Scherz zu wiederholen. Möglicherweise wusste ich auch bereits, sei es aus eigener Erfahrung oder aus frühreifen Beobachtungen, dass Scherze sich entwerten, wenn man sie wiederholt. Der Junge jedoch holte nun mit der linken Hand aus und gab mir eine Ohrfeige auf die rechte Backe.
Als ich weinend weglief, vergoss ich keine Tränen, weil meine dem Doppelsinn nach wahrscheinlich tomatenrot angelaufenen Wangen mir weh taten, mich schmerzte die Erkenntnis, dass ich nicht darauf vorbereitet war, Anderen ausgeliefert zu sein, wenn ich sie beim Wort nahm. Auf dem Weg zum Kindergarten, der auch der Weg war, an dem der Tomatengarten lag, beschloss ich, fortan auf der Hut zu sein bei der Begegnung mit anderen Knaben und mein Interesse vermehrt auf Mädchen zu richten.

Da war zum Beispiel Rosemarie, die mir allein schon ihres Namens wegen schon immer wie eine Blumenknospe erschien, neben der mir Namen wie Max, Rolf oder Hugo wie Steinschleudern vorkamen. Rosemaries Haar war streng und glatt nach hinten gezogen, wo es sich in gebündelten Strähnen, schmiegsam in sich verschlungen, als lange dicke Zöpfe über ihre Schultern fiel. Als ich mich an diesem Tag mit leichter Verspätung zu den andern Kindern nieder hockte, die bereits in das Spiel mit Bauklötzen vertieft waren, saß Rosemarie nur wenig von mir entfernt auf dem Boden. Ich war noch ganz benommen von den falsch ausgelegten Tomaten und noch nicht zum Mitspielen bereit. Stattdessen blickte ich eine gute Weile lang auf Rosemaries über ihren Rücken baumelnde Zöpfe. Einem an mir ziehenden Drängen folgend, machte ich mich auf den Knien von hinten an sie heran. Mit wohl noch immer geröteten Backen zupfte ich an einem der beiden Zöpfe. Rosemarie warf den Kopf herum, und der Zopf, den ich nicht in meiner Hand hatte, flog dabei über ihre Schulter nach vorn. Obwohl ich den anderen noch immer nicht losließ, verwandelte sich Rosemaries Blick auf mich und meine roten Wangen aus einem verschreckten Anflug von Unwilligkeit sogleich in Sanftmut, als sie mir in die Augen sah, und sie wertete die ebenfalls doppelsinnige Bedeutung, am Zopf gezogen zu werden, als eine Geste der Zärtlichkeit, und täuschte sich nicht in dem, was gemeint war: Ich wollte ihr Haar berühren. Meine Hand dort streicheln zu lassen, wo es eng über ihrem Kopf lag, wagte ich nicht, oder es kam mir etwas übertrieben vor. Sie am Zopf zu zupfen, lag im Schatten einer zweideutigen Auslegung, und ich war froh zu sehen. dass Rosemarie der richtigen auf der Stelle gewachsen war und sich nicht täuschte wie ich zwischen Tomate und Tomate.

Geändert von Aporie (02.04.2010 um 21:02 Uhr)
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2010, 16:33   #2
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


Ich überlege gerade, ob ich die grinsende Katze durch die Lippen von Angelina Jolie ersetzen und sie dauernd reden lassen soll, dann könnte ich nämlich sagen: Viele schauen hin, aber keiner sagt etwas dazu.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2010, 18:15   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.113


Aporie, ich konzentriere mich im Forum mehr auf die Lyrik als auf Geschichten, aber diese hier habe ich mit Vergnügen gelesen - sogar bis zum Ende.

Du hast ein starkes erzählerisches Talent. Und Einfälle!

Zitat:
neben der mir Namen wie Max, Rolf oder Hugo wie Steinschleudern vorkamen
Da mußte ich lachen, das ist sehr gut. Mir würden noch ein paar weitere Namen hierzu einfallen.

Und das hier:

Zitat:
benommen von den falsch ausgelegten Tomaten
Einfach klasse!

Ja, und dann die Geschichte als Ganzes betrachtet: Gewalt und Gemeinheit muß nicht wieder in Gewalt und Gemeinheit münden, sondern steht Zärtlichkeit und Liebe nicht im Weg. Das gibt Hoffnung.

Ich weiß nicht, weshalb, aber bei dieser Geschichte mußte ich an den Roman "Liebe in den Zeiten der Cholera" denken. Nicht im erzählerischen oder inhaltlichen Vergleich, sondern was die Atmosphäre angeht.

Beste Grüße
Ilka-M.


P.S.:

Ich habe eben Deinen Klage-Kommentar gelesen. Also, Aporie, ein bißchen Zeit zum Lesen und Kommentieren mußt Du Deinen Fans schon lassen! Bleib mal auf dem Teppich! Schließlich ist Ostern.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2010, 19:37   #4
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


Standard Liebe Ilka Maria

Das Psssssssst im PS bereitete mir doppeltes Vergnügen bei der Vorstellung, dass Du den Schritt über mir auch ohne den ausgerollten Teppich gemacht haben könntest. Jedenfalls war es ein Schritt auf mich zu und nicht über mich hinweg Deshalb lasse ich den nun zwischen uns ausgerollten Teppich liegen, samt all den falsch ausgelegten Tomaten.

Ostern als Fest der Versöhnung am Zopf gepackt
grüsst Dich herzlich

Aporie
PS Fans habe ich trotzdem nicht, nur Leser
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2010, 19:52   #5
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.113


Jetzt habe ich mal ausführlich kommentiert und bekomme von Dir so einen Scheiß um die Ohren gedonnert!

Nee, vergiß mich einfach. Den Köder mach ich nicht mehr.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2010, 20:21   #6
weiblich Tiffy
 
Benutzerbild von Tiffy
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Reutlingen
Alter: 38
Beiträge: 350


Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Du hast ein starkes erzählerisches Talent. Und Einfälle!
Der Meinung schließe ich mich an. Das deine Geschichten authentisch sind habe ich, so weit ich mich erinnern kann, schon einmal erwähnt. Raffinierte Wortwahl, Stil.
Beim Lesen der Erzählung musste ich an mein inoffizielles Patenkind, ebenfalls 5 Jahre alt, denken. (Tomatenliebhaber)
Habe mich gefragt, wie er sich in dieser Situation verhalten würde.
Ich glaube er hätte sich, gutgläubig wie er ist und nachdem es in seinem kleinen Köpfchen ausgiebig gerattert hat, ebenfalls eine zweite Backpfeife eingefangen.
Mit Mädels möchte der kleine Kerl allerdings (noch) überhaupt nichts zu tun haben. Da hält er stets einen Sicherheitsabstand ein. Nichts mit Zöpfe ziehen!
Ich frage mich jetzt natürlich wieder, ob die Geschichte frei erfunden ist oder ob sie der Wahrheit entspricht. Ich gehe, zumindest teilweise, von der zweiten Annahme aus.

Gruß Tiffy

Der Kommentar war überflüssig
Tiffy ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2010, 21:39   #7
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


[
Zitat:
Nee, vergiß mich einfach.
Ilka-Maria

Je nun, dann rollen wir den Teppich halt wieder ein und stellen Karfreitag nach.

Zitat:
Ich frage mich jetzt natürlich wieder, ob die Geschichte frei erfunden ist oder ob sie der Wahrheit entspricht. Ich gehe, zumindest teilweise, von der zweiten Annahme aus.
Tiffy

Ich glaube, diese Frage hier schon einmal ausführlich beantwortet zu haben.
Wenn man aus Erlebtem eine Geschichte macht, verändert sich die Wirklichkeit oft. Hier stimmt jedes Detail überein. Es handelt sich tatsächlich um meine frühesten Erinnerungen. Ich sehe die Tomatenstauden noch vor mir, so wie das kleine Mädchen mit den Zöpfen. Von hinten und von vorn. Selbst die Farbe ihres Höschens (hellblau) ist noch in mir wach. Der Junge, der mir die beiden Ohrfeigen gab, ist von seiner Erscheinung her im visuellen Gedächtnis etwas verblasst. Aber die Ohrfeigen und mit welchen Worten er sie einleitete, sind mir unvergesslich. Erfunden ist nur, dass ich am gleichen Tag am Zöpfchen gerissen habe (das war womöglich ein paar Tage später oder umgekehrt) und dass Rosemarie in Wirklichkeit Myriam hieß, was nach komplizierteren Metaphern verlangt hätte.

Beste Grüße (den einen davon muss ich offenbar vergessen) und frohe Ostern

Aporie
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.04.2010, 19:44   #8
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


Standard b]Eine Tomate und ein Mädchenhaarzopf in voller Länge [/b]

Da man hier auch Überarbeitungen oder Neufassungen bereits in den Strang gestellter Geschichten anfügen darf: Hier die endgültige Fassung an einem Stück.
Mit der Bitte um Entschuldigung für deren Länge
und lieben Grüßen an die, die sie trotzdem lesen

von Aporie


Eine Tomate und ein Mädchenhaarzopf

Ich wollte schon als Kind ein Erwachsener sein, was mich, als ich es endlich wurde, nicht daran hindern konnte, mich nun kindischer zu benehmen als vorher. Ich hatte mich gut darauf vorbereitet, hatte viel gelesen, war in der Schule sehr aufmerksam, hatte an Erwachsenen genau beobachtet, wie sie sich in bestimmten Situationen verhielten, und während andere Kinder Verstecken spielten oder mit Bauklötzen Türme bauten, legte ich mich unter einen Baum ins Gras oder setzte mich zwischen alten Leuten auf eine Parkbank und machte das verträumte Gesicht von Kindern, die über das Leben nachdenken. Als mich dann das Leben selbst zu einem Erwachsenen machte, zeigte es sich von einer Seite, die ich nicht bedacht hatte. Die Zeit, auf die ich so lange gewartet hatte, verging nun so rasch, dass ich auf das jeweilige Gebot der Stunde gar nicht angemessen reagieren konnte, und was von mir verlangt wurde, traf mich meistens auf dem falschen Fuß und entsprach überhaupt nicht den Schritten, die ich für mein Leben als Erwachsener vorbereitet hatte.

Wie immer, wenn etwas schnell in einem abläuft, muss man Kopf und Sinne auf die unmittelbare Gegenwart richten und gleichzeitig die möglichen Folgen falschen Handelns bedenken. Vielleicht ist das der wichtigste Grund, dass ich das, was ich oft nur mit mangelhaftem Erfolg hinter mich gebracht hatte, ebenso rasch wieder vergass. Ich blickte nicht zurück, sondern beharrlich vorwärts. All dies hat nun dazu geführt, dass ich mich erst im Alter mit meiner Kindheit beschäftige, und nun etwas ratlos vor diesem brachen Feld stehe, in das ich, statt seine Früchte zu ernten, immer nur Vorstellungen gepflanzt habe.
Wenn andere Menschen über ihre frühesten Kindheitserinnerungen sprechen, hat ihr Leben schon vom zweiten oder dritten Jahr an Spuren hinterlassen, während sich der Nebel über meinen Erinnerungen erst zu lichten beginnt, wenn ich mir als einem fünfjahrigen Knaben auf seinem Weg in den Kindergarten begegne. Zwar glaubte ich manchmal, flüchtige Bilder aus früherer Zeit aufscheinen zu sehen, aber als ich vor ein paar Wochen im Fotoalbum meiner Mutter blätterte, stieß ich auf täuschend ähnliche Momentaufnahmen aus dem Vorbewusstsein. In Wirklichkeit hatte ich mich nur an ein Foto erinnert, das ich mir so lange und so oft angesehen hatte, bis es sich als Erinnerung abspielen konnte.

Meine erste Erinnerung beginnt mit einer Ohrfeige. Nicht die, die mein Vater mir kurz darauf gab. Das ist nur die erste Erinnerung an seine Hand. Ich war fünf Jahre alt und stand in einem Garten, in dem mehrere Reihen von Tomatenstauden sich dicht aneinanderdrängten. Der Junge, dessen Vater der Garten gehörte, stand neben mir. Ich war auf dem Weg zum Kindergarten, und der Junge hatte mich über den Gartenzaun hinweg zu sich gewunken. Er war mindestens doppelt so alt und entsprechend kräftiger und größer. Er sah auf mich herab, zeigte auf eine der fetten roten Früchte und fragte „Willst du eine Tomate?“
„O ja, gern!“ sagte ich, und als ich zu dem Jungen aufblickte, gab er mir die Ohrfeige. Obwohl ich mich des metaphorischen Zusammenhangs, wie ich es heute ausdrücken würde, sogleich bewusst wurde - Tomate hieß in der Umgangssprache der damaligen Jungs auch Ohrfeige - sagte ich wiederum Ja, als er mich fragte „Willst Du noch eine Tomate?“ Ich hielt die erste Frage für eine Art von Scherz, wie er unter etwas älteren Jungs üblich war, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand so gemein sein könnte, einen derartigen Scherz zu wiederholen. Möglicherweise wusste ich auch bereits, sei es aus eigener Erfahrung oder aus frühreifen Beobachtungen, dass Scherze sich entwerten, wenn man sie wiederholt. Der Junge jedoch holte nun mit der linken Hand aus und gab mir eine Ohrfeige auf die rechte Backe.
Als ich weinend weglief, vergoss ich nicht Tränen, weil meine dem Doppelsinn nach wahrscheinlich tomatenrot angelaufenen Wangen mir weh taten, mich schmerzte die Erkenntnis, dass ich nicht darauf vorbereitet war, Anderen ausgeliefert zu sein, wenn ich sie beim Wort nahm. Auf dem Weg zum Kindergarten, der auch der Weg war, an dem der Tomatengarten lag, beschloss ich, fortan auf der Hut zu sein bei der Begegnung mit anderen Knaben und mein Interesse vermehrt auf Mädchen zu richten.

Da war zum Beispiel Rosemarie, die mir in der Erinnerung wie eine Blumenknospe entgegenwächst, allein schon ihres Namens wegen, neben dem mir Namen wie Max, Rolf oder Hugo wie Steinschleudern vorkommen. Ich erinnere mich an einen Blick aus Rosemaries Augen, obwohl ich sie zunächst nur von hinten sehe, das streng und glatt über den Kopf gezogene Haar, das in gebündelten Strähnen, schmiegsam in sich verschlungen, als lange dicke Zöpfe über ihre Schultern fällt.
Als ich mich an jenem Tag mit leichter Verspätung zu den andern Kindern niederhockte, die bereits in das Spiel mit Bauklötzen vertieft waren, saß Rosemarie nur drei Armlängen von mir entfernt auf dem Boden. Ich war noch ganz benommen von den falsch ausgelegten Tomaten und noch nicht zum Mitspielen bereit. Stattdessen blickte ich eine gute Weile lang auf Rosemaries über ihren Rücken baumelnde Zöpfe. Einem an mir ziehenden Drängen folgend, machte ich mich auf den Knien von hinten an sie heran. Ich streckte die Hand aus und zupfte, mit wohl noch immer geröteten Backen an einem der beiden Zöpfe. Rosemarie warf den Kopf herum, und der Zopf, den ich nicht in meiner Hand hatte, flog dabei über ihre Schulter nach vorn auf ihre Brust, die noch nicht die zugespitzten Formen angenommen hatte, die mich später an Frauen so sehr beeindrucken sollte. Obwohl ich den anderen Zopf noch immer nicht losließ, verwandelte sich Rosemaries Blick auf mich und meine roten Wangen aus einem verschreckten Anflug von Unwilligkeit sogleich in Sanftmut, denn als sie mir in die Augen sah, wertete sie den ebenfalls doppeldeutigen Begriff, am Zopf gezogen zu werden, als eine Geste der Zärtlichkeit, und täuschte sich nicht in dem, was gemeint war: Ich wollte ihr Haar berühren.
Meine Hand dort streicheln zu lassen, wo es eng an ihrer Haut lag, hätte ich nicht gewagt, oder es wäre mir etwas übertrieben vorgekommen. Das Mädchen am Zopf zu zupfen, lag im Schatten einer zweideutigen Auslegung, und ich war froh zu sehen. dass Rosemarie der richtigen auf der Stelle gewachsen war und sich nicht täuschte wie ich zwischen Tomate und Tomate.

Zurückblickend auf diesen Tag, mit dem mein Erinnern beginnt, fällt mir der Unterschied zwischen der Ambiguitätstoleranz des Knaben, der ich damals war, und jener des Mädchens auf. Meine bestand darin, dass ich die Doppeldeutigkeit zwar schon reflektierte, bevor ich die zweite Ohrfeige bekam, mich aber nach der ersten dennoch blitzartig entschloss, an das Gute im Menschen zu glauben, obwohl ich noch keine Ahnung hatte von der Bergpredigt. Als ich drei oder vier Jahre später den Satz „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ zum ersten Mal las, war ich erst hell begeistert, nicht nur von Jesus, sondern auch von mir selbst, denn schließlich hatte ich im Alter von fünf Jahren, obwohl mit Jesus nur aufgrund frommer Sprüche meiner Mutter vertraut, sozusagen exemplarisch gehandelt. Doch mein Stolz darauf geriet schon nach wenigen Sekunden ins Wanken, da ich inzwischen auch gelernt hatte, die Faust zu machen. Ich ließ das verwirrende Gedankenspiel mit einem Unentschieden enden, weil ich den Kern des Guten in diesem Satz zwar bejahen konnte, nach ihm zu handeln, mir jedoch als Feigheit erschienen wäre. Es ging mir dabei wie mit ein paar anderen Bibelworten, die ich inzwischen kannte, und die ich des Öfteren hervorkramte, um sie altklug und überheblich als lapidaren Kommentar zwischen Fragen und Bemerkungen anderer Kinder zu streuen. Wahrscheinlich nicht aus Frömmigkeit, sondern weil ich den Eindruck erwecken wollte, ich hätte die Weisheit mit Löffeln gegessen, wobei ich, was mich selbst betraf, stets darauf achtete, mich an einem solchen Löffel niemals zu verschlucken. Als ich mir zum Beispiel die Zehn Gebote näher ansah, fanden neun davon meine spontane Zustimmung. Aber dieses befremdliche Sechste erinnerte mich sogleich wieder an Rosemarie, und das Verbotene zog mich so sehr an, dass ich geradezu danach gierte, bei der nächstmöglichen Gelegenheit weit heftiger dagegen zu verstoßen. Obwohl meinem Körper einige Voraussetzungen dafür noch immer fehlten, betrachtete ich nachts im Bett liegend das kleine Zipfelchen zwischen meinen Beinen mit großer Andacht, etwa so, wie ich bei der Ersten Kommunion die Hostie betrachtet hatte, mit der Vikar Willfinger vor meinen Augen ein Kreuz schlug, bevor er mir den Fleisch gewordenen Herrn in den Mund schob.

Die Ambiguitätstoleranz des Mädchens war jedoch. wie ich nun feststellen muss, in ihrer stofflichen Relevanz viel zielgerichteter und feiner gewirkt als die meine. Es kannte die eine Bedeutung sehr wohl, denn auch andere Knaben rissen an Rosemaries Zöpfen. Die ihr sehr geläufige Bedeutung schloss sie jedoch reflexartig aus, als sie mir in die Augen sah. Während ich im alles entscheidenden Moment auf die Tomate geblickt hatte, sah Rosmarie mir ins Gesicht und wusste sofort Bescheid: So blicken Knaben nicht, wenn sie einem übel wollen.
Aus heutiger Sicht und dem Halbwissen des Knaben um ihre Bedeutung entwickelte sich aus dieser spielerisch kindlichen Begegnung der rote Faden, an dem ich weiterhin spinnen sollte, angesichts all der körperlichen Verlockungen, mit denen ich mich später von Frauen umgarnen ließ. Mein Reißen an Rosemaries Zopf und der Blick, den mir das kleine Mädchen als Antwort schenkte, so weiß ich nun, steht nicht von ungefähr am Anfang meines Erinnerns.

Auch Rosemaries Mutter sah wohl Rot, als ihr gewahr wurde. mit wem ihre kleine Tochter sich da einließ, und sie verbat Rosemarie, sich weiterhin den von ihr so genannten Doktorspielen hinzugeben, zu denen ich Rosemarie angeblich verführt hatte. Doch mein Verlangen war damals weit harmloser. Ich erinnere mich noch heute an das Hellblau ihrer Unterhose (metasprachlich würde mir jetzt Rosa besser gefallen, aber um bei der Wahrheit zu bleiben), es war tatsächlich Hellblau, und so soll es in meiner Erinnerung auch bleiben, die mir, während ich an ihr arbeite, zusehends unzuverlässiger vorkommt, weil ich nie genau weiß, wo sie auf Wirklichkeit und wo sie auf Erfindung baut.

Jedenfalls riss ich Rosmarie nie das Höschen herunter, ich beließ es dabei, an dessen kurzen Beinstößen zu fingern, die Haut darunter blieb unberührt, so wie ich vorher Rosemaries Haar, obwohl daran reißend, nicht dort berührte, wo ich ihre Haut hätte spüren können. So also sahen Mädchenunterhosen aus. Dieses Geheimnis zu lüften und es sogar mit Händen berühren zu können, genügte mir vollkommen.
Rosemarie, die genau genommen Myriam hieß, was jedoch, wäre ich bei der Wahrheit geblieben, nach komplizierteren Metaphern als Blumenknospe verlangt hätte, öffnete ihre Knospe nicht mir, sondern sehr viel später Jungs wie Max, Rolf oder Hugo, wobei ich das so genau gar nicht wissen konnte. Es blieb nur als schmerzliche Ahnung zurück, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, weil sich meine Eltern nach einer günstigeren Wohnung umsehen mussten. Beim Abschied am Tag vor dem Umzug ergab sich die Gelegenheit, uns zum ersten (und letzten) Mal zu umarmen.

Danach sahen wir uns nie mehr. Nur zufällig lernte ich an einem vom Art Directors Club Schweiz veranstalteten Essen Rosmaries kleinen Bruder kennen, der zu der Zeit, als ich seine Schwester am Zopf riss, noch gar nicht auf die Welt gekommen war und nun als Grafiker in einer Basler Werbeagentur arbeitete. Als ich mich bei ihm nach Rosemarie erkundigte, sagte ihr Bruder, dass sie jetzt in Rimini lebe, verheiratet mit einem Italiener, der Battisti hieße. Obwohl er danach auch betrunken war, setzte ich mich in seinen Porsche, weil er sich anerboten hatte, mich nach Hause zu fahren. Erst als ich gestern damit begann, zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen zurückzufinden und dabei auf Rosemarie stieß, wurde bei der Suche nach der Zeit, in der wir uns kurzfristig ineinander verloren hatten, der Wunsch in mir wach, bei Google und bei youtube zu recherchieren, um Rosemarie wieder in ihre mich einst so betörende Gegenwart holen zu können. Ihrem Bruder kann ich nicht mehr um nähere Auskunft bitten. Schon vor mehreren Jahren hat er seinen Porsche auf dem Weg nach Paris an einen Baum im freiburgischen Jura gefahren und war sofort tot. Doch Battisti und Rimini sind mir haften geblieben. In einem Eintrag bei Google fand ich einen Giovanni Battisti, der sechs Jahre nach seiner Pensionierung verhaftet wurde, weil er kurz vor seinem Rücktritt Versicherungsgelder unterschlagen haben soll. Er sitzt jetzt in Untersuchungshaft im Carcere di San Marino, der auf dem Foto in Google aussieht wie ein Ferienhaus für den Mittelstand, allerdings so üppig vergittert wie die die Villen der Reichen. Nun erinnerte ich mich auch, dass mir Rosemaries Bruder erzählt hatte, ihr Mann wäre Direktor einer Versicherungsgesellschaft des Stadtstaates San Marino. Über Rosemarie, die sich nun wohl Rosa Maria oder vielmehr Myriam oder Mariam Battisti nennt (um sicher zu gehen, habe ich alle drei Vornamen eingegeben), fand ich leider weder bei Google noch bei youtube einen Eintrag. Den Gedanken, dass sie, während ihr Mann im Gefängnis sitzt, womöglich bereits in einem Grab des Cimitero Municipale von Rimini liegt, verdrängte ich erfolgreich, obwohl mir die Nähe zu Federico Fellini, der im gleichen Friedhof untergebracht ist, als ein sehr geeigneter Ort erscheinen würde, Rosemarie nur noch als meine erste Kindheitserinnerung fortleben zu lassen.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.05.2010, 13:24   #9
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Hallo Aporie,

habe bis jetzt nur die kürzere Rohfassung gelesen. Längere Texte haben es, wie ich selbst merken musste, in einem Forum mit Schwerpunkt Lyrik schwer. Ich werde die endgültige Fassung aber heute noch lesen.

Erster Kommentar meinerseits: Die Kindheit ist gut zurückgeholt. Drei Psychen, die schon in der Skizze deutlich erkennbar und glaubhaft gestaltet sind.

Liebe Grüße gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.05.2010, 22:36   #10
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Hallo Aporie,

die Rohfassung bleibt für mich am eindrucksvollsten und wird durch die umrahmende Reflexion, die manchen guten Gedanken enthält, aber das Situative und gefühlsmäßig Unmittelbare der Rohfasung vermissen lässt, eher verschüttet.

Liebe Grüße gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.05.2010, 16:02   #11
männlich Whomas
 
Dabei seit: 05/2010
Ort: Erlangen - Bamberg (wechselnd)
Alter: 34
Beiträge: 16


Ich schließe mich gummibaum da an.
Die Grundfassung, ohne das Einleitungs- und Schlussgeplänkel, finde ich hervorragend. Sehr schön erzählt, aber in dem gesamten Werk geht es ein wenig unter.
Whomas ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Eine Tomate und ein Mädchenhaarzopf...



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Menschen erkennen Sephallas Sonstiges Gedichte und Experimentelles 0 03.05.2008 23:22
Erkennen Thorbald Gefühlte Momente und Emotionen 0 04.01.2008 16:17
Die Schwierigkeit mit den richtigen Wörtern lichtelbin Kolumnen, Briefe und Tageseinträge 6 13.02.2007 18:48
Die Bedeutung des Todes EngelDerMuse Düstere Welten und Abgründiges 4 26.08.2006 13:28


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.