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Alt 17.08.2010, 17:59   #1
weiblich Viktoria
 
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Standard Beschützer

Beschützer

Die Welt lag groß vor mir, immer näher kam ich dem tiefen blau, immer mehr wurde die endlose Nacht verbannt, bis sie schließlich ganz dahinschwand. Es war schön, wieder den blauen Himmel zu sehen und eine Aufgabe zu haben. Eine Aufgabe, für die ich alles gegeben hätte: Jeanne beschützen. Ich konnte sie nicht berühren, nicht mit ihr reden, nicht mit ihr zusammen sein, und doch spendete mir der Gedanke, sie wenigstens sehen und als ihr Schutzengel begleiten zu dürfen unheimlich viel Trost.
Ich zog meine großen Flügel ein undsetzte zum Sturzflug an, ich konnte es kaum erwarten. Die Menschen würden mich zwar als Sternschnuppe wahrnehmen, die es am Tag eher selten gab, aber ich wollte zu ihr. Man würde mich nicht dafür verurteilen. Ich stürzte hinab, immer höher wurde die Geschwindigkeit, die mir meine braunen, kurzen Haare um den Kopf wirbeln ließ. Dann breitete ich knapp über dem Boden meine Schwingen aus und landete. Da war es also, mein ehemaliges Haus. Jeanne lebte immer noch dort. Als ich durch die Tür schritt, ohne sie zu öffnen, fühlte ich mich ein Stück weit zu Hause, doch etwas war anders: Hier fühlte es sich traurig an, verlassen und verzweifelt und nicht fröhlich und Optimismus, wie vor meinem Tod. Keines der vielen, riesigen Fensterließ sie nach außen dringen. Die Trauer sammelte sich und es schien so, als würde sie von den weißen Wänden zurückgeworfen.
Auf einmal bekam ich Angst vor dem, was sich mir gleicht zeigen würde. Wie würde sie aussehen? Wie war sie mit dem Verlust umgegangen? Was, wenn sie nicht damit fertigwurde? Ich mochte gar nicht daran denken.
Nach einem Moment des Innehaltens beeilte ich mich, ins Wohnzimmer zu gehen. Erschrocken fuhr ich zusammen. Vor mir saß nicht die Jeanne, die ich gekannt und geliebt hatte. Vor mir saß keine lebenslustige junge Frau, vor mir saß eine Person, die so aussah, als hätte sie jeder Wille des Weiterlebens verlassen.
Die langen braunen Haare hatte sie unordentlich zu einem Dutt zusammengenommen und einzelne Strähnen hingen ihr in das gesenkte Gesicht. Sie betrachtete ein Buch, ein Album, wie es schien, während ihr ungeheure Mengen von Tränen die Wangen hinunterliefen.
Ich ging langsam auf sie zu, wollte ihr auf die Schulter fassen, ihr sagen, dass ich da war, dass es mir gut ging, doch es klappte nicht. Natürlich nicht. Ich fasste einfach durch ihre Schulter hindurch, wie ein Geist, meine Worte waren für sie unhörbar.
Ich hasste mich selbst für das, was ich ihr antat, obwohl ich nichts dafür konnte, dass ich diese Welt hatte verlassen müssen.
Ich stellte mich hinter sie, betrachtete mit ihr das Album, in dem lauter Bilder von uns, vor allem aber von mir klebten. Von unserer Hochzeit in der wunderschönen alten Kirche, von den Flitterwochen am blausten Meer mit dem weißestem Strand, den wir je gesehen hatten. Von den Jahren, die wir gemeinsam verbracht hatten.
Immer, wenn sie weiterblätterte wurden ihre Tränen, so schien es mir, größer und ihr Schmerz wurde unerträglicher. Schließlich schlug sie die letzte Seite auf, auf der meine Todesanzeige heftete. Sie starrte eine halbe Ewigkeit auf diese Seite, ich hatte die Augen schnell von dem Text abgewandt und mich wieder vor sie gestellt, um ihr in die grünen Augen zu schauen. Sie hatten jeglichen Glanz verloren. Wieder durchzuckte mich ein ungeheurer Schmerz und eine weitere Welle des Selbsthasses brach über mich herein. Tosend schien sie mich zu umgeben und nicht wieder loszulassen. Sie war tückisch und musste schmerzhafter sein, als das Höllenfeuer, das ich hatte ansehen müssen, als ich durch das große Tor in Gottes Welt getreten war. Wie hatte ich darum gefleht, wieder in meinen Körper zurückzudürfen, zu meiner Jeanne. Doch es hatte nichts genützt. Gott war nicht gnädig, ich war sein Gefangener. Mein Körper war nicht verloren gewesen. Es wäre ihm mit Sicherheit ein leichtes Gewesen, mich zurück zu schicken. „Alles hat seinen Sinn“, hatte er mir geantwortet. Ich habe nie daran geglaubt, dass dem so ist. Und wie könnte ich es bei diesem Bild auch tun? Ich wunderte mich, warum man mich nicht in die Hölle sandte, obwohl ich so stark an Gott zweifelte.
„Joël“, flüsterte Jeanne auf einmal. Immer und immer wieder sagte sie meinen Namen mit ihrer traurigen, brüchigen Stimme. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht an der Sofalehne.
Ich versuchte ihr über die Schulter zu streichen. Wieder funktionierte es nicht.
Wieso stimmte es nur nicht, dass man sich von einem Gebäude stürzen konnte und dann wieder ein Mensch war? Es würde mich meine Ewigkeit kosten, doch sie bedeutete mir nichts. Es war mir egal, ob meine Seele nach meinem Tod verloren ging, ich wollte wieder bei ihr sein und sie trösten. Doch man hatte mir gesagt, dass das nicht ging und Gott würde nicht gegen seine eigenen Gebote verstoßen, oder? Also schenkte ich diesen Worten glauben. Doch einen Versuch war es Wert. Ich breitete meine Flügel aus und stieg einfach ungeachtet aller Wände möglichst hoch hinauf und dann setzte ich wieder zum Sturzflug an. Wieder gab es den Fall, der sich so befreiend anfühlte, doch diesmal breitete ich meine Flügel nicht aus und stürzte ungebremst zu Boden.
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