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Alt 16.06.2010, 19:39   #1
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Standard Auswanderung in den Hakapiktod - Teil I

Sie werden zu späterem Zeitpunkt vielleicht dazu geneigt sein, mir das Schreiben dieser Worte und den damit verbundenen Denkprozess nicht zuzutrauen, zumal ich an einem gänzlich ungeeigneten Ort weile, wenn es sich darum handelt, Niederschriften jedweder Art zu leisten. Gehen wir jedoch einmal davon aus, ich hätte Sie bereits sowohl davon überzeugt, dass mein prostatagroßes Gehirn über ausreichend Kapazität verfügt und nach entsprechender Stimulation zu eruptiven Ergüssen fähig ist, als auch davon, dass ich in einigen jener lichten Momente einen Weg gefunden habe, diese Zeilen zu verfassen und sie Ihnen auf raffinierte Weise zukommen zu lassen. Dieser erste Schritt des Zutrauens in meine Fähigkeiten ist nämlich für den folgenden Verlauf unerlässlich, denn ich habe Ihnen etwas zu berichten, was zu glauben Ihren gesamten guten Willen erfordern wird.
Verzeihen Sie mir diesen Anfall von Pathos, ich bitte inständig darum, obgleich mir jenes Ersuchen – wenn ich ehrlich bin und das habe ich mir zumindest vorgenommen – nur als kleiner Kniff zur nachträglichen Legitimation dienen sollte, sodass ich im Vorhinein pathetisch sein konnte und nun den Anschein erwecke, mich zeichnete die menschliche Gabe der kritischen Selbsteinschätzung aus, was mich Ihrem Herzen ein Stück näher rücken lassen sollte. Das waren meine Spekulationen und Hoffnungen, welche ich jedoch mit meinem Bekenntnis selbst zerschlagen haben dürfte. Anders betrachtet – oder genauer, wie sie möchten – ist es mir dadurch vielleicht sogar gelungen, meine ursprüngliche Zielsetzung noch zu übertreffen und mir statt Ihrem Herzen Ihre Anerkennung in Bezug auf meine Aufrichtigkeit zu sichern, wenn ich nicht auch diesen zweiten Kniff, der darin bestand, Ihnen vom ersten zu erzählen, verraten hätte. Falls Sie mir meine Verkniffenheit verzeihen möchten, beginne ich nun ausgestattet mit solch fabelhaften Wesenszügen meinen erbaulichen Bericht darüber, wie ich in die Lage geriet, in der ich bin.

Nicht nur der Himmel ist nicht mehr schwarz, nein, auch der Boden ist nicht mehr weiß, was eine zwei- oder dreifache Verneinung ist, ich weiß es nicht, und eine doppelte Bestrafung wäre, wenn man den Himmel gern schwarz und den Boden gern weiß hätte. Früher war der Himmel schwarz, das heißt nur bei Nacht und ohne Wolken und nicht nur, denn Sterne gab es ebenfalls, wobei ich eigentlich sagen möchte, dass meine Wortwahl zu Beginn eine unglückliche war und ich besser den Raum zwischen den Sternen als schwarz oder noch besser, den Raum zwischen den Sternen als nicht mehr schwarz hätte bezeichnen sollen. Dasselbe ließe sich auch über den Boden sagen, nur weißer, oder nicht mehr weißer, aber ich verschone Sie damit, wenn es Ihnen beliebt, denn es bringt uns nicht voran und tatsächlich hat sich wenig geändert: Ich bin lediglich an einem anderen Ort.
In Anbetracht des verzerrten Bildes meines geistigen Zustandes, das vielleicht in Ihnen aufkommen mag, bemühe ich mich im Folgenden, etwas klarer auszudrücken, was im Grunde unklarer nicht sein könnte, jedenfalls für mich. Sollten Sie so gnädig sein und mir diesen missglückten Versuch, einen Anfang zu finden und das Eis brechen zu wollen, verzeihen, dann machen Sie das, wobei wir damit in gewisser Hinsicht bei einem Kern der Angelegenheit sind. Dass nun gerade Eis einer jener Kerne sein soll, mag Sie gegebenenfalls verwundern, womit Sie nicht Unrecht hätten, denn zum einen ist Eis eventuell kein besonders geeigneter Kern – je nach dem, woran Sie denken – und zum anderen handelt es sich genau genommen um das Verschwinden von Eis. Wenn Sie mögen, glauben Sie es und gestatten mir, einen Moment in den Zeiten vor dem Eisschwund zu verweilen, sodass Sie mein Unheil gründlicher hinterblicken können, falls Sie das möchten. Seien Sie unbesorgt: Die grauen Stunden werden nicht lange auf sich warten lassen, zumal es aus jenen weißen Tagen nicht allzu viel zu berichten gibt, was Sie nicht langweilen würde. Ich neige dazu, wie Sie vielleicht bemerken, mir die Dinge im Voraus schwieriger zu machen, als sie im Grunde sein müssten, was Sie, falls Sie es noch nicht wahrgenommen haben sollten, leicht an meinem vorangegangenen Satz erkennen können, wo ich unnötig Ihre Erwartungen schürte, indem ich die überwiegend langweiligen weißen Stunden erwähnte und somit indirekt auf die erstklassige Spannung der darauffolgenden Zeit verwies, was es allerdings erstens zu beweisen und zweitens literarisch umzusetzen gilt. Aber gut – oder schlecht – alles der Reihe nach; obwohl ich schon jetzt darauf verweise und Ihnen garantieren kann, dass ich zuweilen den roten Faden verlassen und Sie auf nebensächliche Pfade führen werde, die in aller Regel im Nirgendwo, doch sicherlich mit nichts Gehaltvollem enden werden.
Wie es nun auch immer sei, ich bin im Eis geboren, zumindest ist mir nichts Gegenteiliges bekannt und soweit ich vergessen konnte, lebte ich dort bis zu jenen Zeiten, auf die ich mit meinem Bericht ziele. Ich verbrachte mein Leben also ausschließlich in jener kalten Gegend, die Sie meines schlechten Wissens nach Arktis nennen, ich möchte mich da nicht festlegen. Genauer gesagt an der Küste, falls man in diesem Fall davon sprechen kann, denn das Meer war dort meist zugefroren, was mir sehr entgegen kam, denn ich war – bin – Robbenjäger. Ich habe eine gewisse Ahnung davon, was Sie Meerschwein oder Meerschweinchen nennen, wobei das Warum vielmehr ein Verdammtnochmalwarum sein müsste, denn wenn ein Tier diesen Namen verdiente, was ich nicht ernsthaft glaube, dann ist es die Robbe. Sie könnten nun fragen, warum ich meine, dass sie den Schweinen ähnlicher sind als Meerschweine, von denen ich gerade zugab, nur eine gewisse Ahnung zu besitzen. Schließlich ist anzunehmen, ich wüsste nicht mehr vom Aussehen eines Schweines als vom dem eines Meerschweines, denn dieser beiden Arten Verbreitungsgebiet überschneidet sich von mir aus miteinander, aber keineswegs mit dem Gebiet um den Polarkreis, wo ich mich von meiner Geburt bis irgendwann danach aufhielt; und ich werde Ihnen diese Frage beantworten, falls Sie sie gestellt haben sollten: Ich verrate es Ihnen nicht; noch nicht oder nie, das kommt darauf an, ob ich mich später noch daran erinnern werde, dass ich es Ihnen zu erzählen erwägte. Jedenfalls habe ich die Meerschweine massenhaft erlegt, wobei es Ihnen gestattet ist, die Mundwinkel zu verziehen oder sich einen tadelnden Blick in die Augen zu pressen, denn ich weiß mittlerweile, was ihr Menschen im Süden oder Westen, ich weiß es nicht, davon haltet oder zu halten gezwungen seid. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass Blut auf Schnee blutiger aussieht als auf anderen Untergründen und man es kilometerweit sehen kann oder aber damit, dass ihr die anderen Schweine töten könnt, also die Erdschweine oder wie sie im Genaueren heißen mögen. Ich hingegen bin gezwungen, es für redlich zu halten, denn ich ernährte mich lange Zeiten des Jahres fast ausschließlich von ihnen, wobei ich erwähnen könnte, dass es nicht viel Auswahl gab, aber ehrlicherweise muss ich sagen, dass sie einfach vortrefflich schmecken.
Es ist schwierig, ein Meerschwein zu erlegen, zumindest auf die Weise, wie ich sie betrieb; Sie können es sich denken. Wenn das Meer vom Eis bedeckt war und ich mich in jenen Gebieten aufhielt, in denen ich mich vorsätzlich aufhielt und wo die Strömungsverhältnisse das Eis immer wieder aufbrechen ließen, ging ich auf die Jagd, denn die Meerschweine neigten dazu, sich genau dort in großer Zahl einzufinden. Ihre Schwäche ist, dass sie Luft atmen müssen, obwohl ich andererseits auch Erzählungen darüber hörte, dass einige es nicht mehr täten, aber die sind tot - wohl hingefallen.
Die Lebenssüchtigen allerdings steckten in regelmäßigen Abständen ihre Köpfe durch die aufgetanen Spalten im Eis, wobei schwer zu beurteilen ist, ob nur dieser oder vielleicht auch Teile des restlichen Körpers aus dem Wasser ragten, denn sie sind bis auf einige kümmerliche Stoppeln hydrodynamische Ganzkörperglatzen - vielleicht, weil es ihnen gefällt, aber ich glaube nicht.
Schnappten sie nach Luft, schnappte ich mir sie, könnte ich sagen und würde es, wenn das Fangen auch nur im Entferntesten mit der Einfachheit dieser acht Worte zu vergleichen wäre oder jene zumindest den schlichtesten Gemütern als literarisch gehaltvoll erschienen, aber das ist bedauerlicherweise nicht der Fall. Sie sind schnell, vorsichtig und man kann sie im Grunde nur erlegen, wenn sie gerade nicht schnell und vorsichtig sind, was selten passiert und nicht nur ärgerlich ist, weil man dadurch kaum eines fangen kann, sondern auch des leeren Magens wegen. Ich war genötigt, beschwerliche Strecken über das Eis zurückzulegen, um die besten Fangplätze zu erreichen und, dort angelangt, viel Geduld mit ihnen zu haben. Hat man sie hingegen erst einmal aus dem Wasser gelauert, ist es leicht, sie zur Mahlzeit zu machen, wobei das Töten auch nicht schwieriger ist, denn sie haben glücklicherweise Hände ohne Arme und Finger, die direkt aus dem Körper herauswachsen und nur ein Bein mit seltsamem Fuß, das ihnen beim Schwimmen hilfreich sein mag, aber ihnen in dieser speziellen Situation das Überleben nicht unbedingt vereinfacht.
Rätselhaft bleibt, wie und warum sie ihren Lebensraum zu großen Teilen ins Wasser verlegten, denn mir wurde berichtet, sie wären einst Tiere gewesen, die sich an Land bewegten und erst durch einen langwierigen Prozess der Anpassung zu dem geworden, was sie heute sind. Zwar würde es ihre seltsame Körperform erklären und vor allem die Andeutungen schweinischer Altlasten darin, doch kann ich das nicht recht glauben; wie hätte das von Statten gehen sollen? Eines von Ihnen müsste schließlich einmal damit angefangen haben, aus nebeligen Gründen dabei geblieben sein und zu allem Überfluss auch noch sämtliche Artgenossen von seinem Plan überzeugt haben, wofür ich keine einleuchtende Motivation erkennen kann. Wie dem auch sei, ich muss es nicht wissen, denn mir war ausschließlich daran gelegen, sie zu töten, was keinen langwierigen Prozess der Anpassung erforderte, sondern vielmehr außerordentlich schnell ging.
Nun deutete ich vorhin schon an, dass das Meer nicht ganzjährlich zugefroren blieb, was das Erlegen von Meerschweinen vorübergehend unmöglich machte. Zumindest auf meine Weise. Ich ließ infolgedessen das Wasser hinter mir und verlegte mich auf die Jagd kleinerer Felltiere in einem spärlich bewachsenen Gebiet, das keine nähere Bezeichnung verdient und von mir deshalb auch keine erhält; auch die Tiere nicht. Zu jener Jahreszeit geschah es mir, dass ich in eine tiefere Form meines Ernstes verfiel, was ich nicht ohne Hintergedanken an den kurz bevorstehenden Nebenpfad, den ich zu beschreiten gedenke, auf diese Weise formuliere.
Sprächen wir von einem makellosen Ernst, würde ich Ihnen ohne Bedenken beipflichten, dass dieser keinen Schwankungen in seiner Intensität unterworfen ist, sondern vielmehr eisern seine Bahn zieht und durch nichts aus der Balance zu bringen ist. Das macht ja gerade seine Fehlerlosigkeit aus, gesetzt dem Fall, dass es ihn oder sie – je nach dem, auf was Sie diesen Nebensatz nun beziehen möchten – tatsächlich gäbe. Meine Meinung darüber lauerte bereits hinter dem Konjunktiv zuvor und möchte nun hervorspringen, wobei ich hoffe, dass Sie es nicht als aufdringlich empfinden, wenn ich sie gewähren lasse. Sie ist grundsätzlich recht ungestüm, vermag sich jedoch in den meisten Fällen hinter Anstand und Paraphrasierung zu verbergen, um an ihr Ziel zu gelangen; was immer das ist, ich weiß es nicht. Hier ist sie, lasst uns sie aufhalten und daran scheitern. Wir waren erfolgreich: Vollkommenheit gibt es nicht und somit folglich auch nicht im Ernst, was sich daran zeigt, dass er dem Drängen von Besorgnis, Angst, Begierde und was weiß ich unbeirrt erliegt. An diesem Satz lässt sich übrigens herrlich die Unvollkommenheit meines Tiefgangs und meiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit erkennen, falls Sie weitere Beweise für die Richtigkeit meiner Aussage benötigen und an meiner fein ausgearbeiteten Grundthese Zweifel hegen sollten. Mein Ernst wurde demzufolge bloß ernster und näherte sich der Perfektion auf lauten Sohlen; leise, aber hörbar, was in diesem Fall genügt, um laut wie ein brechender Hängegletscher zu sein. Innere Ruhe einzuleiten oder gar zu erzeugen, liegt ihm ebenso fern, was wohl hauptsächlich seiner Unzulänglichkeit zu verdanken ist, was ich keinesfalls ironisch meine, denn wer ließe sich schon gerne von sich selbst anschweigen, um so in einem katatonischen Zustand der Geistlosigkeit seinen Frieden zu finden. Viele wahrscheinlich; schwer zu schätzen. Sie wären im Recht, mir vorzuwerfen, selbst auf Nebenpfaden den Faden zu verlieren, weshalb ich ihn jetzt wieder aufnehme und allmählich um die Stange des Zielfähnchens wickel. Hinaus wollte ich einerseits auf die Folgen der angesprochenen Ernstvertiefung und andererseits aus diesem Ödland, sobald ich es betrat. Doch einerseits vor andererseits, damit sich die Verstrickung erschließen kann. Ich sprach nicht ohne Grund von einer tieferen Form des Ernstes, denn ernsthaft bin ich usw., usw., usw.
Ich ahnte schon zu Beginn, dass der Gedanke nicht fertig zu stricken sei und gestehe, dass ich dieses ernstbehaftete Thema willkürlich aus einer Laune heraus einwarf, ohne zu wissen, worauf ich hinaus wollte und nur um zu sehen, wie weit ich diesen Schwachsinn treiben kann. Erschreckend, wie gering mein Durchhaltevermögen ist, aber für Sie macht es ohnehin keinen Unterschied, ob ich mein Gedankenkind jetzt oder später, geistlos oder sinnvollendet, mit fester Hand oder behutsam im Moor ertränke. Das ist meine Angelegenheit. Ich hingegen hätte zumindest einige Schlüsse daraus ziehen können, aber ich glaube nicht. Meine Warnung, dass dieser Fall eintreten würde, wollten sie ja nicht ernst nehmen und ich möchte an dieser Stelle hinzufügen: Es wiederholt sich gewiss, doch beim nächsten Mal wird alles besser, wie man so sagt; also nicht ich, denn ich schreibe es und glaube nicht daran. Sollte Ihnen das in der Nase kitzeln oder Sonstwas Sonstwo, steht es Ihnen mit meinem Segen frei, diese Seiten auf Ihre Weise für alle Zeiten unlesbar zu machen, wie auch immer das aussehen mag. Ich möchte Ihnen da keine Grenzen setzen, zumal ich Ihrer Kreativität in diesem Fall weitaus mehr zutraue als meiner, wenn das nicht allzu herablassend klingt. Wenn doch, exkrementiere ich darauf, denn ich habe es ja schließlich geschrieben - Logik nennt sich das vielleicht, ich weiß es nicht. Nun gut, es fällt langsam auf, dass ich ausfallend werde. Verzeihen Sie es mir, ich wollte Ihnen nur ein wenig zu nahe treten – oder näher treten, wenn Ihnen das besser gefällt; mir übrigens nicht, ich stehe zur ersten Version. Da nun einige Hindernisse aus dem Weg geräumt zu seien scheinen, möchte ich Ihnen jetzt offenbaren, wie ich diesen Bericht unlesbar machen würde; vielleicht als Anregung oder als Beweis dafür, dass Ihre Methode tatsächlich einfallsreicher wäre: Ich äße ihn.
Obschon dieses Thema keinesfalls als erschöpft gelten kann und sicherlich noch zu mancher Skurrilität zu gebrauchen wäre, wende ich mich wieder dem Hauptpfad zu, um Ihnen zu demonstrieren, dass mein Verstand noch nicht vollständig denaturiert ist. Das ist wichtig, wobei ich der Wahrheit zuliebe berichtigend anfüge, dass ich damit eigentlich meine, es sei nicht vollkommen ausgeschlossen, dass es wichtig ist. Schade, dass man nur auf sich selbst stolz sein kann, ansonsten könnten Sie es jetzt auf mich sein, obwohl Sie erst einmal einen passenden Grund dafür finden müssten, denn ich habe keinen parat.
Lassen wir diesen labyrinthischen Satz hinter uns und gehen zur Abwechslung ein paar klare Schritte vorwärts, um zu schauen, wie weit ich es ohne Torkeln schaffe. Ich möchte nicht weiter auf die Zwischenzeiten einhämmern, in denen das Meer seine elementare Eigenschaft kurzweilig verlor und ich gezwungen war, mich anderweitig zu verdingen. Es langweilt sogar, darüber zu schreiben. Glücklicherweise währte das Elend nur kurze Zeit, sodass ich mich bald wieder hingebungsvoll der Meerschweinjagd widmen konnte, bis das Eis wieder taute und das Elend erneut begann, was jedoch glücklicherweise auch nicht lange währte, sodass ich mich bald wieder hingebungsvoll der Meerschweinjagd widmen konnte, bis... In diesem Turnus verstrich mein Leben viele Jahre lang, bis die Eisperioden, wie ich zuvor schon andeutete, zunächst immer kürzer wurden und schließlich ganz in den Schoß der Vergangenheit flüchteten. Sie ist wahrlich wohlhabend, wenn man bedenkt, welch schöne Dinge sie mittlerweile ganz allein besitzt. Könnte sie doch nur gebären, aber da wäre wohl das Risiko einer ekelhaften Nachgeburt zu groß.
Sie können sicherlich nachempfinden, dass ich über diese Vorgänge reichlich verwundert und ungehalten war. Ich kann es mir bis heute nicht erklären und bin noch immer angemessen verstimmt. In Folge einiger missglückter Versuche, meine Jagdtechnik den neuen Umständen anzupassen, beschloss ich, die Küste zu verlassen und mich ins Landesinnere aufzumachen. Kurzweilig zog ich auch in Erwägung, mich wie die Meerschweine an das Wasser anzupassen, aber die Zeit drängte; und wer möchte schon so hässlich sein? Ich entschied mich also dagegen und machte mich auf den Weg ins Ungewisse. Nach einigen Tagen erreichte ich die Grenzen meines angestammten Reviers, trat hinüber und blickte zurück. Einen Moment lang betrachtete ich die Landschaft und versuchte aus Anstand wehmütig dreinzublicken, was mir nicht zuletzt des üblen Spieles wegen, das sie mit mir trieb, gerne nicht gelang. Es hätte ein schöner Augenblick für später daraus werden können, der mir heute sicherlich beim Schwelgen in Wehmut und Melancholie helfend unter die Arme griffe.
Ohne nennenswerte Neigung, vom Weg abzukommen, führten gleichnamiger und meine gleichgültigen Beine mich täglich weiter in immer blühendere Gebiete, die zu allem Überfluss und aus Ermangelung jeder Güte nicht nur grüner, sondern rasant schnell grüner wurden. Nun gut, das Unglück steigert sich meist exponentiell, das weiß man. Wie beruhigend doch die Gewissheit sein kann, dass die Situation, in der man sich befindet, verglichen mit dem, was noch zu kommen scheint, gar nicht so fatal ist, denn so kann man sich stets einreden, dass es noch gut um einen bestellt ist. Noch besser ist es zwar, sein Unglück mit dem größeren eines Anderen zu schmälern, aber was soll man machen, wenn gerade kein passender Kandidat zur Hand ist. Das ist doch eine äußerst positive Herangehensweise, was meinen Sie?
Eines wundervoll grünenden Sommertages gelangte ich wieder ans Wasser, wobei ich beileibe nicht vom Meer spreche, sondern von einem unnatürlich und unnötig in die Länge gezogenen Rinnsal, das wohl in etwa dreißig Meerschweinlängen breit und zehn tief war. Ich hoffe inständig, dass Sie ungefähr wissen, wie lang ein Meerschwein ist; doch das soll Ihre Sorge sein. Ich hingegen füge zur allgemeinen Vereinfachung lediglich hinzu, dass ich ausschließlich mit der Körperlänge des größten von mir erlegten Exemplars die Entfernung bestimme. Spreche ich also von dreißig Meerschweinlängen, meine ich narzisstischer Weise: Die Länge meines größten Triumphes multipliziert mit dreißig. Das ist doch ein sehr erbauliches System, finden Sie nicht? Nein? Sie ersticken aber auch wirklich jede positive Regung im Keim. Sie sollten Ihr Leben ändern. Eingebildete Freiwilligkeit ist ohnehin wesentlich befriedigender, als sich den Lebenswandel von unerbittlichen Umständen in Form prügeln zu lassen. Ich bin jedoch nicht federführend in Ihrem Groschenroman und überlasse es ganz allein Ihnen, welche falschen Entscheidungen Sie treffen möchten und wie Sie diese anschließend ins rechte Licht zu rücken gedenken. Das ist Ihre Angelegenheit. Sie könnten mir lediglich meine widerliche Art vorwerfen, doch wer ist schon nicht auf irgendeine perfide Weise abstoßend. Eine Herangehensweise, um damit umzugehen, wäre, sie geschickter als alle Anderen zu verbergen, denn den größten Beifall erhält der beste Schauspieler, das weiß man – und die Menge kann sich das Blut von den Händen applaudieren. Ist doch schön; ein gelungenes Prinzip, von dem jeder etwas hat. Ich hingegen schleudere meine Widerwertigkeit zuvorkommend in die Welt hinaus und verwehre so jedem die Genugtuung, mir meine Schwächen erst vor Augen geführt zu haben. Das ist ein Faktor, der nicht außer Acht zu lassen ist, denn auch Sie müssen zugeben, dass Sie Andere verdächtig gern analysieren und auf den rechten Weg führen. Eines ist dafür jedoch unerlässlich und zugleich als Triebfeder zu betrachten: Überlegenheit – welche jedoch in unserem Falle nur zu erreichen ist, wenn Sie mit der eigenen Brillanz meine Schwächen aufdeckten. Indem ich diese Enthüllung jedoch bereits selbst vorwegnahm, nehme ich Ihnen die Grundlage jeglicher Befriedigung: Mich besser zu durchschauen, als ich es selbst vermag und mich mit jener Überlegenheit nach Ihren Vorstellungen zu beeinflussen; mich der unwiderstehlichen Kraft Ihrer Suggestion zu unterwerfen. Sie können nicht mehr mit der Beweisführung glänzen, da ich sie schon lieferte. Das ist schade, denn darauf kommt es schließlich an, wenn wir ehrlich sind, nicht wahr? Klüger sein, Wege aufzeigen können – schlichtweg: Sich das Privileg erschleichen, begründet zu richten.
Sie sehen, dass ich es nicht sehr weit ohne Torkeln schaffte; aber was macht das schon aus? Wenn Sie tatsächlich noch immer meinen Zeilen folgen, müssen Sie einigermaßen belastbar sein. Ich kann es mir anscheinend leisten, ich weiß es nicht.
Wir waren unten am Fluss. Ja, ich nenne das Rinnsal jetzt Fluss, denn ich habe keine Lust mehr, der anfänglichen Entscheidung Rechnung zu tragen, diesen Bericht dem jeweilig momentanen Wissensstand anzupassen und so zu schreiben, als wüsste ich zum Beispiel nicht, was ein Fluss sei. Außerdem wäre die Anspielung zunichte gewesen. Ich hielt es wahrscheinlich ohnehin schlecht durch. Wenn es Ihnen Freude bereitet, suchen Sie nach entsprechenden mich entlarvenden Stellen; ich bin wenig geneigt, den Text ein weiteres Mal vollständig durchzugehen. Ein weiteres eindeutiges Zeichen, bald zu einem Ende zu kommen.
Der Fluss. Ich ging ihn entlang und entdeckte an einer seichteren Stelle etwas Seltsames, ja fast Komisches: Braune Bären. Sie fingen mit durchschnittlichem Geschick Fische. Unmengen Fische. Ein Meerschwein hätten sie auf diese Art nie im Leben erlegt, aber für ihre Zwecke genügte ihre Tatzenfertigkeit scheinbar. Jene Feststellung lässt mir glücklicherweise ausreichend Spielraum, um durch den bisher überflüssigen Satz, den Sie gerade lesen, meine tiefschürfende Verachtung gegenüber diesen Tieren dezent durchschimmern zu lassen, sodass der Satz letztlich doch seine Daseinsberechtigung erlangt. Um Ihnen das Verständnis dieses breitgefächerten Gefühls ein wenig zu vereinfachen, sei es mir gestattet, zumindest ihre gravierendsten Mängel höflich zu umschreiben. Abgesehen davon, dass sie eine Heimat haben, sich ihre Beute buchstäblich freiwillig opfert, sie ein stinkendes braunes Fell tragen und fett wie Muttermilch sind, kommt man nicht umhin, eine Eigenschaft besonders hervorzuheben und zu hassen: Sie lieben das alles; bedingungslos und einfältig. Dies konnte ich im ersten Moment in ihren grinsenden Augen erkennen. Nur eines macht mich noch wütender, obwohl ich es ihnen wahrscheinlich nicht zur Last legen kann: Kurze Zeit wollte ich tatsächlich sein wie sie – kurz, aber Zeit. Ich stellte mir vor, wie sie zu leben, wie sie zu jagen und erwischte mich sogar dabei, bescheuert zu grinsen. Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich doch in der Lage sein, es ihnen anzukreiden, denn wer sollte sonst schuld sein? Ein weiterer strahlender Sieg des unbedingten Willens. Wirklich praktisch; ich sollte häufiger davon Gebrauch machen. Nachdem mein Verstand jedoch wieder einigermaßen akzeptabel funktionierte, durchquerte ich den Wasserlauf und ließ diese gesegneten Triumphatoren des Lebens hinter mir. Ich fing im Vorbeigehen lässig einen Fisch.
Sicher könnte ich Ihnen erzählen, wie ich danach Tage lang durch den Wald lief, meine Mahlzeiten erbeutete oder wie Abendsonnen in einem spektralen Farbeninferno ihre Ruhe im kühlen Schoße der Nacht fanden, doch ich sagte ja bereits, dass ich zu einem Ende kommen möchte – und das liegt auch ohne sinnloses Gequatsche noch weit genug entfernt.
An einem jener Tage, an denen es woanders oder nirgendwo schön ist, eröffnete sich mir auf einer Anhöhe ein wahrlich skurriles Panorama. Eine Siedlung, wie sie nur Menschen hervorzubringen im Stande sind, spross schamlos aus dem Boden und uferte in alle Richtungen aus. Nicht, dass es mich sonderlich störte, doch irgendeine Stimmung ist schließlich einzufangen.

Geändert von Glasbleistift (17.06.2010 um 00:55 Uhr)
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