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Alt 19.05.2010, 15:24   #1
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Standard Mein Held für eine Stunde

Nur ein großer Schritt hinein in einen Zug, in den ich nicht einmal zum ersten Mal stieg. Nun aber ohne Rückfahrkarte und mit dem bescheidenen Anspruch, in einer anderen Stadt genauso schnell wie nebenbei ein Zuhause zu finden. Anstrengend genug würde es werden, eine passende und finanzierbare Wohnung zu finden, oder ein Zimmer, oder einen Schrank, in den man vielleicht eine Matratze stopfen könnte. Ich hatte keine Angst vor Einschränkungen, auch keine hohen Erwartungen. Zuhause ist ein Gefühl, dass sich überall einstellen kann, unglücklicherweise kann es genauso gut überall ausbleiben. Es mag Menschen geben, die das gleichmütig auf sich zukommen lassen. Ich aber hätte einen Eimer angemietet, wenn ich dafür eine Garantie bekommen hätte. Nur einer der leisen Gedanken, die meist von praktischen Überlegungen überdröhnt wurden.
Als ich mich umdrehte und fröhlich lächelnd zum Abschied winkte, spürte ich schon den Schatten.
In dem überfüllten Zug drängelten Menschen mit Fahrrädern, Hunden und großen Reisetaschen, sodass an einen ruhigen Platz überhaupt nicht zu denken war. So entschied ich spontan, mich hinzusetzen, wo ich war, fragte mechanisch und ohne mein Gegenüber auch nur anzusehen, ob der Platz frei wäre und saß auch schon, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Bummelzug ratterte geräuschvoll los, während ich geräuschlos meinen Kloß im Hals herunterzuschlucken versuchte und meine Hände betrachtete.
Irgendwann schaute ich auf. Der junge Mann gegenüber las ein dickes, gebundenes Buch, zügig und völlig vertieft. Von Zeit zu Zeit schrieb er Randnotizen, unterstrich Passagen und kaute beim Lesen auf einem kleinen Bleistift herum. Neugierig beobachtete ich einen Augenblick die schnellen Bewegungen seiner Augen. Den linken Fuß bequem auf dem rechten Knie ruhend und zweifellos gedanklich weit entfernt von dieser Zugfahrt, hatte er mich gar nicht wahrgenommen. Belustigt stellte ich fest, dass ich damit nicht ganz einverstanden war.
Um nicht ohne etwas zu sehen in der Gegend herumzuschauen, kramte auch ich nach meinem Buch. Der Mann blickte auf und einen kurzen Moment sah es aus, als ob er etwas sagen, oder zumindest lächeln wollte. Er entschied sich dann aber doch dagegen. Vielleicht, um höfliche Diskretion zu wahren? Um sich nicht aufzudrängen oder gar missverstanden zu werden? Weil er mich nicht stören wollte, oder den Eindruck vermitteln, ich könnte ihn stören? Das ist ja nur höflich. Man quatscht einen Fremden nicht einfach an, schon gar nicht, wenn man ihn mit der Fußspitze berühren könnte. Und ich war schließlich gewillt, mich meinem Buch zu widmen, oder wenigstens eigenen Gedanken in der beschaulichen Privatsphäre hinter dem Buch.
Die Zeit verstrich schleppend und es wurde wärmer und stickiger in unserem Abteil. Das war auch dem Mann aufgefallen. Ein fragender Blick in meine Richtung, eine zustimmende Kopfbewegung meinerseits und er hatte sich dem widerspenstigen Zugfenster gestellt und damit den einströmenden Luftzug ehrlich verdient; nebst meiner Anerkennung als Lächeln in mein Buch hinein. Wer braucht Worte? Ich lehnte mittlerweile bequem an der Scheibe, das Buch immer noch aufgeschlagen, um meinen Händen eine Aufgabe zu geben, während mein Blick nun doch ziellos durch das Abteil wanderte. Mein Nachbar las auch nicht mehr. Er hatte seine Füße neben mich auf die Bank gelegt, vorsichtig und sorgsam darauf bedacht, mir nicht zu nahe zu kommen. Trotzdem freute ich mich über diese Geste und lehnte mich unmerklich einen Zentimeter näher ans Fenster. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, dieser Hauch von Gemütlichkeit ließ mich lächeln und ich rückte diesen Zentimeter um ihm Platz zu machen, als Einladung, nicht um Abstand zu wahren.
Ein paar Plätze weiter drängte irgendein lauter Mensch einer älteren Frau ein Gespräch auf. Sofort tat sie mir leid, die kurzen Antworten, das hörbare Ausatmen und ein bestimmter Unterton, der schon recht deutlich das Ende der ungewünschten Unterhaltung markierte. Ich hätte ihr Gesicht beschreiben können, obwohl ich es nicht sah. Mein Freund gegenüber folgte dem Gespräch genauso unfreiwillig wie aufmerksam. Was hätte man auch machen sollen, die meisten Leute schwiegen. Im nächsten Bahnhof stieg die Frau aus und viele neue Leute stiegen ein. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dies nicht ihr eigentliches Ziel war. Dass sie nur wegen diesem Blödmann ausgestiegen war und jetzt sicher viel zu spät nach Hause kommen würde, weil sie ja nun auf den nächsten Zug warten musste. Hoffentlich hatte sie dann wenigstens ihre Ruhe. Mein Nachbar dachte vielleicht das Gleiche. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er ihr durch die spiegelnde Scheibe nach, wohl wissend, dass ich ihn dabei verstohlen beobachtete um in seinem Gesicht zu lesen. Er ließ mich auch, es war ja für mich. Unsere Blicke begegneten sich schließlich direkt und mein Held sah zuversichtlich aus. Kein Grund zur Sorge. Ich glaubte ihm das gern.
Ununterbrochen schlängelten sich nun Menschen an uns vorbei, alle ungeduldig und verstimmt auf der Suche nach einem Platz für Taschen, Kinder und allerlei Seltsamkeiten, die mein Interesse weckten. Sehr ulkig war eine gigantische Topfpflanze, die ein gepflegter Geschäftsmann so weit er konnte von sich streckte und dabei gänzlich ignorierte, dass ihre Auswüchse die sitzenden Fahrgäste streiften. Mit einem amüsierten Schnauben und wild weisenden Kopfzuckungen schickte ich meinen Freund in Deckung. Aber er verstand zu spät, was ich sagen wollte und ein langer Fangarm fuhr über das Buch und wischte seinen Bleistift unter den Sitz. Es folgte ein erschrockenes Prusten und mein Grinsen, das ich nicht mehr rechtzeitig hinter dem Buch verstecken konnte. Auf dem Gang herrschte immer noch lautes Durcheinander, aber unsere schweigsame Harmonie störte es nicht.
Keine Minute später stand ein schmieriger Kerl neben mir und fragte mechanisch, wie ich es etwa eine Stunde zuvor getan hatte, ob der Platz frei wäre. Ich war ehrlich entrüstet! Mein Freund war eher entwaffnet. Sein „Sicher“ war das erste artikulierte Wort, zugegeben wohl auch das einzig mögliche, leise, nicht gerade einladend und doch degradierte es meinen Helden zu einem, na ja, zu einem Nicht-Helden. Der Schmierkerl mit Brille und Fetthaaren ließ sich neben mir nieder und starrte ohne sichtliches Unbehagen in die Luft. Mein Gegenüber schien etwas zerknirscht, sah einen Moment wieder so aus, als ob er gerade jetzt ein Gespräch mit mir anfangen wollte, scheiterte und verschwand erneut hinter seinem tollen Buch. Mein Blick wanderte vom Buchrücken zum offenen Fenster und ich versuchte abzuschätzen, ob es durch den schmalen Schlitz passen könnte. Nun hätte die Brille eigentlich nur noch aufstehen und das Fenster zuknallen müssen, um aus meinem einstigen Helden endgültig einen Hanswurst zu machen! Das tat er natürlich nicht, der gefallene Held behielt vorläufig einen Rest Würde.
Nach der nächsten Station tat er mir leid und ich stellte wieder einen Fuß auf seinen Sitz, zur Versöhnung. Seine Antwort darauf war wieder so ein Fastlächeln. Der Brillenmann bewegte sich überhaupt nicht und ab und zu schielte ich verstohlen auf seinen Bauch um mich zu vergewissern, dass er noch atmete. Wieder hielt der Zug mit quietschenden Rädern und mein Freund gegenüber wurde sichtlich unruhiger. Dann stand er auf und packte das Buch ein. Ich beobachtete seinen Aufbruch mit gemischten Gefühlen. Sicher, er hatte gegen die Brille nichts ausrichten können, aber wir hatten uns doch gut verstanden. So verließ mein Exheld also den Zug, sah mich tatsächlich direkt an und richtete zum ersten Mal das Wort an mich: „Tschüß“. „Tschüß“. Und weg war er. Genug der Worte in einem Zug.
Die nächste Station war meine letzte, ich hatte es ja fast geschafft. Wer braucht schon Helden auf einer Zugfahrt. Die Brille beeilte sich, gegenüber von mir Platz zu nehmen und obwohl mir nicht im Traum eingefallen wäre, einen Fuß auf seinen Sitz zu stellen, so stand ihm die Brille doch gar nicht schlecht. Die Schmiere in den Haaren könnte mit ein bisschen gutem Willen auch Gel sein und wer weiß, vielleicht hätte er sogar heldenhafter gehandelt. Den Rest der Fahrt schmunzelte ich entspannt vor mich hin und nahm immer wieder mal den neuen Mann gegenüber ins Visier. Nur aus Neugierde, aus Langeweile. Er merkte nichts davon. Das war auch nicht meine Absicht.
Als der Zug quietschend im Hauptbahnhof ankam, rollte ein kurzer, angekauter Bleistift unter einem der Sitze hervor. Ein verwunderter Mann mit Brille hob ihn auf und hielt ihn mir wichtig vors Gesicht. "Deiner?" "Behalt ihn!" Feierlich grinsend erhob ich mich und steuerte auf die Türen zu. Der Stab wurde weitergegeben. Gut so. Aber mit mir hatte das nichts mehr zu tun. Es zischte als die Türen sich automatisch öffneten und ich war die erste, die auf den Bahnhof sprang. Ich grinste einfach weiter, diesmal über mich selbst. Erst als ich mein Gesicht in der spiegelnden Scheibe eines Buchladens sah, fuhr ich mir noch einmal mit den Zähnen über die Unterlippe und stellte es ein.
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.05.2010, 10:12   #2
männlich Ex-pyja8
abgemeldet
 
Dabei seit: 02/2010
Beiträge: 41


hey, wirklich schöne story!
so minimalistisch in den geschehnissen und trotzdem
das gegenteil von langweilig oder trist...

"Der Bummelzug ratterte geräuschvoll los, während ich geräuschlos meinen Kloß im Hals herunterzuschlucken versuchte und meine Hände betrachtete. "

-> geniale zeile

lg pyja!
Ex-pyja8 ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.05.2010, 10:44   #3
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


Aquaria, meine Heldin der Stunde und ihres Vergehens.
Allein schon deswegen weil Du einen Zug besteigst, ohne hinaus zu blicken, sondern den Blick auf das Innere richtest. Du hast begriffen, dass Erzählen ohne Abenteuer auskommt, denn Erzählen selbst ist das Abenteuer.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.05.2010, 12:04   #4
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Hallo ihr Lieben,

vielen Dank für euer Feedback. Aporie, das "Abenteuer" in dieser Geschichte sollte die Kommunikation sein. Die ist nonverbal, klar, aber auch sehr einseitig und findet nur im Kopf der Protagonistin statt.
Auch habe ich mir Mühe gegeben den Heldenauf- und -abstieg heraus zu arbeiten.
pyja8, minimalitisch sind sie alle, meine stories, Nebensächlichkeiten erzähle ich am liebsten, freu mich, dass es dich nicht gelangweilt hat, das ist wohl die Gefahr dabei.

Liebe Grüße,
Aquaria
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.05.2010, 13:08   #5
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Ach noch was, falls ihr oder wer anderes noch mal rein schaut. Mich würde eine Interpretation vom Ende der Geschichte brennend interessieren

Liebe Grüße,
A.
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
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