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Alt 26.12.2006, 22:28   #1
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Standard L i e b e s t o d

Heinrich und Johanna (Liebestod)

Mauersegler flogen kreischend im Tiefflug durch die kleine Siedlung. Weißgraue Wolken mit goldenen Rändern türmten sich hinter den Dächern der Häuser zu dämonischen Gebilden und schwüle Hitze umschloss den Stadtteil. Nicht der kleinste Windhauch bewegte die Blätter der mächtigen Schatten spendenden Eichen neben der Grünanlage. Hier und da drang aus den geöffneten Balkontüren und Fenstern das Klappern von Geschirr.
Mittagszeit.

Ein paar Kinder saßen auf sonnengewärmten Betonplatten und malten mit Straßenkreide bunte Fantasiebildchen. Ein luftig angezogener Junge hockte daneben in der Sandkiste und grub mit bloßen Händen ein tiefes Loch. Dort unten war es eiskalt, erfrischend und feucht. Die anderen Kleinen zogen Sandalen und Socken aus, um ebenfalls die Füßchen zu kühlen, gruben sich mit den Zehen noch tiefer bis zum steinernen Untergrund.
Die Häuser rundherum, Schlichtbauten der Neuen Heimat, hätten einen frischen Anstrich vertragen. An den Nordfassaden blätterte Putz ab, darunter leuchteten rostrot, Stein auf Stein gemauerte Ziegel. Dazwischen eine riesige Spielwiese, sauber und groß genug, dass alle Kinder der Siedlung hier Ball spielen, toben und picknicken konnten. Sie war gerade frisch gemäht und duftete nach Grasschnitt und Kräutern. Hier und da tummelte sich eine Biene zwischen den Halmen. Manch Gänseblümchen war dem Rasenmäher entkommen, bot Blütenstaub und Nektar.

Der alte Mann zog mühsam einen schwer beladenen Einkaufstrolley hinter sich her. Er war klein, gedrungen, etwas dicklich, sorgfältig, aber viel zu warm mit Mantel, Hut und grauer Stoffhose bekleidet. Wie alte Herrschaften eben sind, die den ersten Sommertagen noch nicht trauen. Er schlurfte seufzend den schmalen Plattenweg zum Sandkasten entlang.
„Onkel Heinrich, Onkel Heinrich! Hast du uns was mitgebracht?“
Viele kleine Beinchen sausten flink auf den Alten zu. Freudig strahlten ihn die Kinder an. Er hatte immer was für sie: eine Tüte Gummibärchen, eine Tafel Schokolade oder manchmal sogar eine große Packung Waffelbruch zum Teilen.
Heinrich Puske kramte umständlich zwischen den Lebensmitteln in seinem Einkaufswagen und murmelte, um die Spannung zu erhöhen: „Wo hab ich es denn gelassen. Wo ist es denn geblieben? Na ich werd doch wohl meine Kinder nicht vergessen haben … !“
Endlich wurde eine große quadratische Schachtel unter den erwartungsvoll blickenden Augen hervorgezogen. Orangen-Schokoladen-Kekse. Nicht gerade sinnvoll in kleinen heißen Sandhändchen, aber sehr lecker und begehrt. Jedes Kind bekam einen Keks, bedankte sich und patschte zurück zur Sandkiste.
„Tschüss Kinder, bis morgen und seid schön leise, Johanna schläft noch!“

Heinrich wandte sich um und zog den Einkaufswagen zum Hauseingang. Er wohnte genau gegenüber der Sandkiste im Parterre eines der aneinander gereihten, dreigeschossigen Häuser. Schon seine Kinder hatten hier gespielt, auch seine Enkel fuhren die ersten Runden mit ihren Dreirädern auf dem Plattenweg vorm Haus. Sorgsam bewacht unter den Blicken seiner Frau. Die Jungen waren nun erwachsen und wohnten weit entfernt, hatten längst eigene Familien.

Oft hatte Johanna, auf einem weichen Kissen aufgestützt, wachsamen Auges aus dem Schlafzimmerfenster in die Runde geblickt und sich mit den neu hinzugezogenen fremden Kleinen unterhalten. Als das Laufen in den letzten Jahren beschwerlicher wurde, saß die Alte hier jeden Morgen, manchmal bis zur Mittagszeit, und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Nachbarn kamen vorbei, hielten ein Pläuschchen, erzählten die neuesten Geschichten aus der Siedlung, oder reichten ein Stück „Selbstgebackenes“ zum Fenster herauf.
Johanna saß nun nicht mehr dort. Die Gardinen zugezogen, das Fenster geschlossen. Sie lag im Bett. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Schon fast ein halbes Jahr.

Die Räder des Trolleys klemmten am Podest. Heinrich ruckte und kantete den schweren Wagen die Stufe hinauf.
Endlich geschafft.
Mit vor Anstrengung zitternder Hand schloss er fahrig die Wohnungstür auf. Drinnen herrschte wohltuende Kühle – und Dunkelheit. Er hatte in alle Fenster mit Rollos und Gardinen verschlossen. Das war die einzige Möglichkeit, Johanna für die Zeit seiner Abwesenheit ruhig zu halten. Sie dämmerte dann vor sich hin oder verschlief den Vormittag, glaubend, es wäre schon Nacht.
Leise und behutsam schlich er zu ihr ins Schlafzimmer.
Ganz klein und abgemagert lag sie zur Wand gekehrt unter dem dicken Deckbett. Ihre Atemzüge senkten kaum wahrnehmbar die faltige verwaschene Bettdecke.
Heinrich tastete vorsichtig nach ihrer Schulter.
„Johanna, aufwachen, es ist Morgen! Ich mache dir gleich etwas zum Trinken und deinen Brei.“
Ihr winziger Kopf bewegte sich zentimeterweise. Mühsam fasste der Alte die kleine Frau unter die Hüften und am Arm und drehte sie langsam auf den Rücken. Johanna öffnete die Augen, suchte Heinrichs Blicke und begann zu stöhnen.
Dieses Stöhnen …
Tagein, tagaus ...
Was sollte er nur tun? Gegen die unerträglichen Schmerzen bekam sie Medikamente zugeteilt. Einmal pro Woche schaute ein Arzt vorbei und erneuerte das Rezept. Aber in den letzten Monaten schien sie immer mehr zu verfallen, begann der Krebs in weiteren Organen zu wuchern. Sie sprach seit ein paar Tagen nicht mehr. Nur ihre grauen alterstrüben Augen blickten ihm hinterher, wenn er durchs Zimmer ging.
Bittend, als wollte sie sagen: „Mach ein Ende mit mir!“, schaute sie ihn an, wenn er ihren kleinen ausgemergelten Körper wusch. Gestern hatte sie nicht mehr gegessen. Zu schwach um den Kopf zu schütteln, aber ihre flehenden Blicke machten ihn auch wortlos wissend was sie meinte..

Wieder das tief aus ihrem Innern kommende Stöhnen und Röcheln. Er streichelte das wirr verklebte, kurz geschnittene Haar. Dann setzte er sich zu ihr auf die Bettkante und sang vergessen geglaubte Kinderlieder. Laut und eindringlich sang er, in der Hoffnung, ihren Schmerz zu übertönen.

Heinrich telefonierte.
„Nein, stärkere Medikamente können nicht verschrieben werden“, sagte die Sprechstundenhilfe am anderen Ende. „Das ist gegen das Betäubungsmittelgesetz, es tut mir leid. Aber der Herr Doktor kann ja heute Nachmittag noch einmal vorbeischauen.“
Der alte Mann legte resigniert den Hörer auf, ohne sich zu verabschieden.

„Na, dann wollen wir mal den Einkauf auspacken und eine Hafersuppe kochen, nicht wahr, Johanna!“ Er hatte sich angewöhnt, immer mit ihr zu reden. Egal was er gerade in der Wohnung tat, Johanna wurde einbezogen. Er scherzte und lachte mit ihr wie in alten Zeiten, als sie noch selbst wendig und quirlig umherhuschte.

Er war ein guter Hausmann geworden.
Trotz seines hohen Alters und beginnender Gebrechlichkeit schaffte er es jeden Tag einzukaufen, nahrhaftes Essen zuzubereiten, Johannas Windeln regelmäßig zu wechseln, Staub zu saugen und die frisch gewaschene Wäsche im Gemeinschaftskeller aufzuhängen. Das Bügeln hatte er allerdings aufgegeben. Wozu? Seine Frau störte es nicht mehr, ob ihr Nachthemd zerknittert war, oder die Bettwäsche kraus. Sie bemerkte außer ihren Schmerzen nichts mehr.
Gleich würde er wieder zu ihr gehen, sie zärtlich wecken, ihr einen Kuss auf die trockene, pergamentene Stirn drücken, ihre faltig ausgezehrte Hand streicheln und versuchen, etwas Nahrung in ihren Mund zu flößen.

Heinrich musste am Küchentisch eingenickt sein. Das leise Stöhnen, unterbrochen von katzenartigem Gewimmer holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Zeitung noch aufgeschlagen, der Haferbrei schwarz qualmend verkocht. In den Augen beißender Rauch vernebelte seinen Blick.
Er schaltete den Herd aus, stellte den Topf in die Spüle und deckte ein Tuch darüber. Der Qualm war gefangen. Wassertropfen zischten weiß dampfend unter dem glühenden Topfboden. Mühsam schlurfte Heinrich auf Strümpfen hinüber ins Schlafzimmer.
Johanna konnte sich allein nicht mehr bewegen, sie lag immer noch genau so da, wie er sie verlassen hatte. Verzweifelt. Tränchen rannen ihr aus den Augenwinkeln, am Nasenbein entlang, tröpfelten auf das verschwitzte karierte Kopfkissen. Alle ihre Kraft und Energie wurde verbraucht durch das Wimmern und Stöhnen.
Lange saß der Alte zusammengekauert bei ihr. Summte beruhigend. Dachte nach. Summte wieder. Streichelte ihr tröstend über die Stirn.
Die lärmende Kinderschar draußen war verstummt, Mütter hatten sie längst zum Essen gerufen. Nur die Mauersegler flogen kreischend weiter im Tiefflug zwischen den Häuserreihen hindurch. Es würde Regen geben.

Heinrich stand auf. Behutsam zog er die Zudecke über Johannas Gesicht. Presste sie, zärtlich fast, links und rechts ihres Kopfes auf das Bett.
Lange stand er so.
Ohne seinen Griff zu lockern.
Nicht die kleinste Regung ihres Körpers verriet einen Todeskampf. So bewegungslos, wie sie die letzten Monate gelebt hatte, starb sie.
Sein Gesicht abgewandt, deckte er sie wieder auf und zog ihr Nachthemd gerade.
Liebevoll.
Erleichtert.
Ordentlich.

Der alte Mann verließ die Wohnung zu einem Spaziergang. Wie jeden Nachmittag - und wie immer für diese Jahreszeit viel zu dick angezogen. Nachdem er die Siedlung umrundet hatte, setzte er sich noch ein Stündchen zwischen plaudernde Mütter und herumwuselnde Kleinkinder auf eine Bank am Spielplatz. Dann ging er wieder zurück zu Johanna. Um zu tun, was getan werden musste:
Den Notarzt anrufen und ihm mitteilen, dass er seine Frau beim Nachhausekommen tot aufgefunden hatte. Dieser würde ohne weitere Untersuchungen einen Totenschein ausstellen.
Lange schon hatte man mit Johannas Ableben gerechnet.

Es begann zu regnen.
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