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Alt 05.10.2011, 19:04   #1
weiblich Paula
 
Dabei seit: 08/2010
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Beiträge: 82


Standard Zivilcourage

„Hallo Susi!“ Schüchtern lächelt Alex das Mädchen an. Sein Gesicht ist gerötet, er hatte sich beeilt Susi auf dem Schulweg einzuholen. „Hast du Bammel vor der Klassenarbeit?“, fragt der Zehnjährige seine Mitschülerin. Susi schüttelt den Kopf. Die dunklen Locken fliegen. „Nein, das Thema ist nicht schwer!“, lacht sie und grient Alex an. Der schwebt im siebenten Himmel. Der kleine dickliche Junge ist seit Wochen in Susi verliebt. Klar merkt das jeder. Die ganze Klasse macht sich über das ungleiche Paar lustig, besonders über Alex. Streber beschimpfen sie den Buben, der immer besonders korrekt gekleidet ist. Die Nickelbrille in dem intelligenten Gesicht, seine feinen Manieren, vermitteln das Bild eines zu klein geratenen eifrigen Professors. Dagegen kann sich Susis fröhlich unbekümmerte Art kaum jemand entziehen. Zudem ist sie ausnehmend hübsch. Alex betrachtet es als göttliche Fügung, dass beide den gleichen Schulweg haben. Susi schnattert unentwegt auf ihn ein. „Heute Nachmittag möchte ich gerne ins Kino gehen! Hast du nicht Lust mitzugehen? Es gibt den dritten Teil der Wilden Kerle.“, schelmisch schaut sie ihren Freund an. „Klar, na klar!“ stottert Alex. Ihm ist es völlig egal welcher Film läuft. Plötzlich strahlt die Morgensonne deutlich heller. „Eine richtige Verabredung!“, denkt er, „Eine richtige echte Verabredung!“ Sie biegen in den kleinen Park ein, hinter dem das Gymnasium liegt. An einer Parkbank lungern ein paar große Kerle herum. In einer Hand haben sie eine Flasche Bier, in der anderen einen Glimmstengel. Alex weicht ihrem Blick aus. Schon öfter war er zur Zielscheibe ihrer derben Witze geworden. Ihn beschleicht immer ein unangenehmes Gefühl, wenn er an ihnen vorbei muss.
„Das Liebespaar kommt!“, werden sie von einigen Jungs und Mädchen begrüßt. Susi grinst und begrüßt ihre Freundinnen. Alex trottet allein ins Klassenzimmer. Doch er ist im siebenten Himmel und nichts, aber gar nichts, kann heute seine gute Laune trüben.
Nach dem Unterricht beeilt sich Alex nach Hause zu kommen. Er hat seiner Mutter versprochen Staubzusaugen, Abzuwaschen und den Mülleimer zu leeren. Alex rennt fast, denn er möchte seine Mutter nicht enttäuschen und pünktlich zu seinem Date kommen. Sein Gesicht strahlt vor Glück.
An der Parkbank lümmeln immer noch die unheimlichen Kerle herum. Eine ansehnliche Menge Bierflaschen lassen erahnen, dass die Burschen reichlich getrunken haben. Die Gesichter sind vom Alkoholgenuss gerötet.
Sie qualmen und pöbeln Spaziergänger an, bis sie Alex erblicken.
„He Kleiner! Komm mal her!“ Alex erstarrt. Er bleibt stehen. „He Dicker!
Tempo! Beweg deine fetten Glieder!“ grölen sie hämisch. Wie in Trance bewegt sich Alex auf sie zu. Niemand ist in der Nähe, der ihm helfen könnte. „Wie heißt du?“, fragt ihn ein großer schlanker unsauber riechender
Bursche. Alex Kehle ist wie zugeschnürt. Vor Angst bringt er kein Wort heraus. Da erhält er einen brutalen Schlag auf den Hinterkopf. Seine Brille fliegt ins Gebüsch hinter die Parkbank. „Ich habe dich was gefragt!“ brüllt der Rowdy. „Alex“ stammelt der Junge, den Panik überfällt. „Na geht doch! Und Alex wieviel Kohle hast du dabei?“ Im letzten Mut der Verzweiflung lügt Alex: „Ich habe nichts. Wirklich gar nichts!“ Sein Taschengeld reichte gerade für die Kinokarten. Er muss es behalten, um seine Freundin einzuladen. Der Große starrte ihn feindselig an. „Peter“, fordert er seinen Kumpel auf, „Halt ihn mal fest!“ „Gecheckt, Dieter!“ antwortet dieser. Peter greift unsanft zu und Dieter kontrolliert Alex Hosentaschen. Mit einer triumphierenden Geste hält er einen Zwanzigeuroschein in die Höhe.
„Das hast du dir nicht überlegt, Kleiner! Dafür hast du eine Tracht Prügel verdient!“ Interessiert kommt jetzt noch der dritte junge Mann näher.
Spaziergänger schlendern vorbei. Alex schielt hilfesuchend herüber, aber niemand beachtet die Bande. Er erhält die erste Ohrfeige. Alex schluchzt laut: „Mama, hilf mir!“ Die Männer wollen sich ausschütten vor Lachen: „ Das Baby quäkt nach seiner Mama!“ Wieder bekommt der hilflose Junge Ohrfeigen. Einige Vorbeigehende werden aufmerksam. Eiligen Schrittes, den Blick gesenkt, laufen sie weiter.
Alex hat bereits alle Hoffnung fallen lassen, als ein glockenheller Ruf erklingt: „Lasst meinen Freund in Ruhe!“ Die Rüpel drehen sich irritiert um. Wie der Wind war Susi ihrem Freund zur Hilfe geeilt, als sie von Weitem sah, wie die drei Kerle ihn attackierten. „Schämt ihr euch nicht?“ , schreit sie. Alle drei wenden sich jetzt dem Mädchen zu. Alex hockt erschöpft am Wegrand und heult Rotz und Wasser. In den von Alkohol getrübten Augen der jetzt gereizten Lulatsche blitzen böse Funken. „Du kleine Schlampe willst dich mit uns anlegen!“ Peter greift sich ihren Arm und dreht ihn nach hinten. Das Geräusch von brechenden Knochen verschafft ihm einen Kick. Er schleift Susi hinters Gebüsch, die Anderen folgen ihm johlend. Das Mädchen ist bleich vor Schmerz. „Ihr Scheusale!“ keucht sie. Dieter und sein Freunde versetzen ihr abwechseln Ohrfeigen. Ihr Kiefer kracht, als ein Faustschlag ihr Gesicht trifft. Blut tropft aus Nase Mund und Ohren. Sie fällt hin, versucht aufzustehen und wegzurennen. Keine Chance. Die Männer treten jetzt nach ihr, wie im Rausch, wieder und wieder. Knochen bersten, ein Tritt in den Bauch, einer ins Gesicht bis Susi nicht mehr wimmert. In diesem Moment kommt auf dem Parkweg mit hoher Geschwindigkeit ein Einsatzwagen der Polizei herangerast. Polizisten springen aus dem Auto, ergreifen die drei überraschten Männer und führen sie ab. Irgendein besonders Mutiger hatte mit seinem Handy den Notruf gewählt. Susi liegt mit verrenkten Gliedern in einer Blutlache. Den herbeieilenden Rettungskräften erstarrt das Blut in den Adern bei diesem Anblick.
Ein Sanitäter bringt den am ganzen Leibe zitternden Alex zur Erstversorgung. In den Augen Verzweiflung, die ihn den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen wird, setzt Alex automatisch ein Bein vor das andere, während ihm Urin an den Hosenbeinen herunter rinnt.

Ein erwachsener Zehnjähriger steht vor einem Kindergrab. Das Meer von Blumen, welches es schmückt, ist am Verblühen. Die Teddybären und Plüschtiere durch Sonne und Regen unansehnlich geworden, vermitteln dennoch ein tröstliches Gefühl.
Der Junge, dessen neue Brille, blind vor Tränen ist, legt zwei Kinokarten auf die letzte Ruhestätte.

Nach dem Abitur absolviert Alex ein Studium zum Diplom-Sozialpädagoge. Danach arbeitet er als Sozialarbeiter, engagiert sich besonders für Gewaltprävention bei Jugendlichen. Sein Kindheitserlebnis hat ihn für immer geprägt.
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