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Alt 31.07.2023, 18:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Meine liebste Feindin

"Wer keine Feinde hat,
hat keinen Charakter."

(Paul Newman, US-Filmschauspieler)

Onkel Harrys Geburtstag war auf dem Gipfel der Ausgelassenheit, denn nach Kaffee und Kuchen hatten die Gäste Rotwein getrunken und, unter der Begründung, ihre Verdauung in Gang bringen zu müssen, reichlich Obstler geschnäpselt. Ich gestattete mir ein Glas von dem Roten, hielt mich beim Hochprozentigen aber zurück, denn ich war mit dem Auto zur Feier gekommen und konnte mir den Luxus exzessiven Alkoholgenusses nicht leisten.

Wie zur jedem Geburtstag waren langjährige Freunde gekommen, die Onkel Harry und Tante Helen aus ihrer Zeit als Turniertänzer kannten und die ihnen, als sie für diesen Sport zu gebrechlich geworden waren, die Treue gehalten hatten. Natürlich war Olaf, der Adoptivsohn, mit Lebensgefährtin und Tochter anwesend, auch Tante Helens Bruder Hendrik und dessen Frau Sonja sowie Frau Krüger, eine befreundete Mitbewohnerin des Hauses, waren wie immer dabei.

Mit Genugtuung nahm ich zur Kenntnis, dass Hendrik und Sonja ohne ihre Tochter Viktoria erschienen waren. Sie war ein unangenehmer Mensch, dessen Nörgelei und vernichtendes Urteil über alles, was auf den Tisch kam, den Gästen die Laune verhageln und eine Feier total plattmachen konnte. Diese defätistische Haltung hatte sie sich, so meine Vermutung, angewöhnt, weil sie mit einem Koch verheiratet war und daraus das Recht für sich abzuleiten meinte, eine professionelle Bewertung über Speise und Trank abgeben zu können, auch wenn niemand sie danach gefragt hatte. Schließlich wusste jeder, der sie lange genug kannte, dass eher der Teufel zum Papst gewählt werden würde, ehe Viktoria sich hätte herablassen können, ein positives Verdikt auszusprechen.

Sonja, eine Meisterin des Witzes und der Satire, war gerade dabei, ihre neuesten Gags vom Stapel zu lassen, als es an der Tür klingelte. Mir schwoll der Kamm, denn herein walzte Viktoria, die sofort das halbe Wohnzimmer auszufüllen schien. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange, sagte kurz "Hi, Papa" zu Hendrik und ignorierte den Rest der Gäste. Onkel Harry begrüßte sie herzlich und machte ihr seinen Platz auf der Couch frei, den sie, fett wie ein Mastschwein und breitbeinig wie ein Kutscher, bis zur Mitte in Beschlag nahm. Wir jüngeren Leute hatten am Esstisch keinen Platz mehr gefunden, so dass wir uns um den Clubtisch herum platziert hatten, und so saß mir Viktoria jetzt direkt gegenüber. Und wie immer, wenn wir uns im selben Raum befanden, sah sie mit ihren Eulenaugen an mir vorbei.

Ich hasste sie, seit sie ein Kind war. Nicht glühend, sondern kalt und unter Wahrung inneren Abstands. Sie musste es spüren, denn instinktiv erwiderte sie meine Abneigung, obwohl sie nicht wissen konnte, woher sie stammen mochte. Ich hätte es ihr sagen können, aber da wir kaum ein Wort miteinander wechselten, ergab sich dazu nie eine Gelegenheit.

Ich hatte es selber lange Zeit nicht gewusst, bis ich oft genug Bilder aus der Vergangenheit in mir aufsteigen ließ, bis ich den Schlüssel zu jener Tür fand, hinter der sich die Wahrheit verborgen hatte. Onkel Harry und Tante Helen, die seit meiner Taufe meine Paten waren, hatten sich lange Zeit Kinder gewünscht. Da sie keine bekommen konnten – wie sich herausstellte, war Onkel Harry zeugungsunfähig -, wurde ich als Tochter seines Bruders Heinz zum Ersatzkind meiner Paten. In ihrem Leben spielte ich die erste Rolle, wurde nach Strich und Faden verwöhnt, an den Wochenenden zum Essen in Ausflugsrestaurants mitgenommen und regelmäßig mit Extra-Taschengeld für eine Kinokarte beglückt. Meine Paten waren die Oase, zu der ich mich flüchten konnte, wenn es zu Hause wieder einmal besonders streng zuging.

Dann entschlossen sich Onkel Harry und Tante Helen, ein Baby zu adoptieren, denn sie wollten ihr Leben nicht verbringen, ohne "ein Bäumchen zu pflanzen", also eine eigene Familie zu gründen. So kam Olaf dazu, ein Kind, das sofort jeden einnahm, weil es ausgesprochen hübsch und freundlich war. Doch dann wurde Sonja schwanger, und der Wirbel ging los: Hendrik, Tante Helens Bruder, sollte Vater werden, und darüber geriet sie völlig aus dem Häuschen. Sonja stand im Mittelpunkt der sieben Monate nach Bekanntgabe der weltbewegenden Befruchtung, als sei sie von Mutter Maria selbst gebenedeit und dazu ausersehen worden, den nächsten und längst erwarteten Heiland zu gebären.

Mit geduldigem Lächeln ließ sie Tante Helens weise Ratschläge über sich ergehen, als habe diese schon einen Stall Küken großgezogen, und ich bewunderte diese starke Frau, die meine Tante an einem Glück teilhaben ließ, das diese niemals erfahren würde. Nämlich zu spüren, wie etwas in ihrem Leib heranwuchs, das nach Monaten zu treten und zu boxen begann, so dass der Leib der Mutter zur Bühne des jüngsten Schauspielers wurde, den das Leben mit all seinen Talenten hervorbringen konnte.

Am Ende zählte Tante Helen die Tage, an dem das Kind zur Welt kommen sollte, und als es geboren wurde, war es kräftig und gesund. Und hässlich wie die Nacht.

Von da an war ich bei meinen Paten abgemeldet. Solange Viktoria ein Baby war, fiel es mir nicht auf; aber als sie älter wurde, wuchs sie zur Konkurrenz heran. Bewusst wurde es mir, als ich wie jedes Jahr an Heiligabend bei meinen Paten auf der Bildfläche erschienen war, ebenso wie Onkel Harrys Mutter, meine Oma, und wir beide den ganzen Nachmittag kaum eines Blickes, geschweige denn eines Wortes gewürdigt wurden. Oma hatte sich in eine Ecke der Couch verkrochen, ich saß im Sessel am Fenster, und wortlos schauten wir zu, wie Viktoria, etwa drei Jahre alt, in der Mitte des Zimmers ihren Eltern und meinen Paten einen "Tanz" vorführte, der darin bestand, sich wild im Kreis zu drehen. Tante Helen drückte Schreie des Entzückens aus und klatschte wie von Sinnen in die Hände. Den ganzen Nachmittag drehte sich alles nur um Viktoria. Nomen est omen.

An diesem Heiligabend fühlte ich zum ersten Mal einen glühenden Hass gegenüber Viktoria in mir aufsteigen, und immer, wenn ich sie später sah, war es mir ein innerer Reichsparteitag, dass sie so hässlich blieb, wie sie als Baby gewesen war. Mit ihren Pausbacken, einem verkümmerten, fliehenden Kinn, ihrem extrem kleine und schmallippigen Mund, einer extrem geknickten Hakennase und engstehenden, tiefliegenden Augen wirkte sie auf mich wie eine Kreuzung von Putte, Geier und Dämon. Mit den Jahren legte sie an Gewicht zu, bis sie rund war wie Obelisk, was ihren Anblick nicht erträglicher machte. Wie sagt man, oft zutreffend: "Wie der Herr, so's Gescherr." In diesem Fall hätte es "Herrin" heißen müssen, denn um Sonja stand es nicht viel besser.

Wie zu erwarten, begann sie, kaum dass Onkel Harry ihr Kaffee und ein Stück Blaubeerkuchen serviert und sie sich den ersten Bissen einverleibt hatte, mit der Mäkelei. "Der ist doch nicht selbstgemacht. Das ist Supermarkt." Sie rümpfte die Nase und wartete die Antwort nicht ab. "Schmeckt muffig und ist viel zu sauer. Fließbandware." Deutlich angewidert spülte sie den vorgeblichen Murks mit einem Schluck Kaffee runter, Grund genug, Onkel Harry, der für die Kaffeezubereitung zuständig war, abermals anzuschnauzen. "Wieder mal Boden-Seh-Kaffee. Du wirst es nie lernen. Wer soll diese Plörre denn saufen?" Sie hielt ihm die Tasse hin. "Mach den mal ordentlich." Onkel Harry nahm die Tasse in Empfang, ohne die Ohren hängen zu lassen. Und blieb erstaunlich höflich. "So? Der Kaffee ist dir zu dünn." Damit trottelte er in die Küche, und am liebsten hätte ich ihm in den Hintern getreten. Aber Onkel Harry war nie ein Mann gewesen, der Konflikte befeuerte.

Die Gäste, auf Viktorias Krittelei aufmerksam geworden, sahen sich gegenseitig an und schüttelten einvernehmlich ihren Kopf – ausgenommen Hendrik und Sonja, denen nicht in den Sinn gekommen wäre, sie hätten bei der Erziehung ihrer Tochter versäumt, ihr ein paar Lektionen in Sachen Anstand zu erteilen. Tante Helen schaute verlegen unter sich, weil sie sich für ihre Nichte schämte.

Viktoria knabberte auch den Käsekuchen nur kurz an, ließ ihn stehen, verlangte vom Pflaumenkuchen und ließ ihn ebenfalls durch ihre Bewertung fallen. "Reich mal lieber den Obstler rüber", meinte sie, obwohl sie hätte aufstehen und die noch halbvolle Flasche selber holen können. Onkel Harry stellte ihr den Obstler und ein Schnapsglas auf den Clubtisch. "Was ist denn das?", meckerte sie. "Willst du, dass ich dieses fipsige Ding aus Versehen mitschlucke? Gib mir mal ein ordentliches Glas." Onkel Harry holte ihr ein Wasserglas, das sie bis zum Rand füllte. Als er die Flasche greifen wollte, um sie zum Esstisch zurückzubringen, hielt Viktoria sie fest. "Lass mal stehen, Onkel." Sonja, immer schrill, sobald sie den Mund aufmachte, stieß wie auf Kommando hervor: "Die Buddel ist sowieso fast leer, Hendrik. Hol mal eine neue."

In mir stieg Empörung hoch. Hatten diese Menschen überhaupt kein Einfühlungsvermögen? Keinen Anstand? Oder wenigstens den Willen, ihren Verstand einzuschalten und mitzudenken? Meine Paten waren Rentner, hatten nur beschränkt Geld zur Verfügung, taten dennoch ihr Bestes, ihre Gäste so zu bewirten, dass niemand hungrig oder enttäuscht vom Tisch aufstehen musste. Mussten Sonja und Viktoria die Gastfreundschaft derart ausreizen? Selbst Hendrik schaute jetzt betreten aus der Wäsche, sagte aber kein Wort. Gegen zwei Frauen hatte er keine Chance, und hätte er gewagt, sie vor den anderen Gästen bloßzustellen, wäre ihm die Revanche zu Hause sicher gewesen.

Während Viktoria den Obstler kippte, trafen sich gegen unseren Willen unsere Blicke. Ich beeilte mich, das süßeste Lächeln aufzusetzen, dessen ich fähig war, hielt ihren Blick fest und sagte zu ihr: "Gut schaust du aus, Viktoria. Machst du etwas dafür? Sport oder so? Mir scheint, du hast abgenommen. Aber du bist ja auch, was die Auswahl von Speisen angeht, sehr wählerisch. Das hat schon fast etwas Exotisches." Ich war bemüht gewesen, keine Ironie durchschimmern zu lassen, dennoch schien Viktoria einen Moment lang irritiert zu sein. Da saß ich ihr gegenüber, rank und schlank, mit langem, gewelltem Haar, professionell geschminkt und mit dicken Klunkern aufgemotzt, und weidete mich an ihrer Unsicherheit. Sie hingegen hatte, seit wir uns ein halbes Jahr zuvor bei Tante Helens Geburtstag gesehen hatte, geschätzte zehn Kilo zugenommen. "Nee", presste sie schließlich heraus. "Du?"

"Regelmäßig. Jeden Tag." Sie sah mich verächtlich an. "Du bist ja auch in Rente. Ich muss noch arbeiten und habe für solchen Luxus keine Zeit."

"Bedauerlich", meinte ich. "Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Man muss nur aufpassen, dass man es bis zur Rente ohne Herzinfarkt schafft. Oder an Diabetes zu erkranken." Ich erhob mich, denn ich wollte vermeiden, dass dieses kurze Gespräch, in das ich genügend Arroganz gelegt hatte, in eine Diskussion überschwappte, die ins Persönliche driften könnte und nicht mehr kontrollierbar wäre. "Zeit für mich zu gehen. Viel Glück." Sie grüßte nicht zurück. Ich spürte, wie es in ihrem Kopf tuckerte, aber das war jetzt ihr Problem.

Ich verabschiedete mich von Tante Helen und den Gästen. Onkel Harry begleitete mich zur Tür. Bevor er sie öffnete, steckte ich ihm einen Zwanzig-Euro-Schein in die Tasche seiner Wollweste, weil ich wusste, dass er ihn nicht direkt angenommen hätte. "Was ist das?", fragte er und wollte die Hand in die Tasche schieben. Ich hielt ihn am Handgelenk fest. "Schau später nach, wenn ich weg bin. Es ist das Eintrittsgeld für die Show, die ich gerade abgezogen habe. Show für eine Bitch." Mit Englisch hatte Onkel Harry nichts am Hut. "Was ist eine Bitch?" Ich zwinkerte ihm zu. "Eine Art Hexe." Er nahm mich in den Arm, küsste mich auf die Wange und entließ mich in die Freiheit.

Obwohl später Nachmittag war, erschien mir die Luft so frisch wie an einem Frühlingsmorgen. Mit federleichtem Schritt ging ich zu meinem Vehikel. Nachdem ich den Motor angelassen hatte, warf ich das Radio an, HR1, wo sie Tag für Tag die Hits der achtziger Jahre runternudelten. Ich schaltete mitten hinein in "Bette Davis Eyes". Vor meinem geistigen Auge tauchte das Gesicht der Schauspielerin auf, keine Schönheit, aber ein beeindruckter Charakter, und ihre Augen waren in der der Tat so wundervoll, dass sie einen Song wert waren. Ich war mit der Welt versöhnt und fühlte mich rundum gut.

Zu Hause goss ich mir einen Grappa ein. "Auf dich, Viktoria, und dass dich der Teufel hole!" Er würde sie nicht holen. Nächstes Jahr würde sie mir wieder unterkommen, hochgerechnet mindestens weitere fünf Kilo schwerer, die Augen noch dicker zugefressen und kaum noch fähig, Treppenstufen zu steigen.

Ich nahm den Grappa ex. "Bis im nächsten Jahr, Viktoria!"
__________________

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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2023, 15:59   #2
männlich dunkler Traum
 
Benutzerbild von dunkler Traum
 
Dabei seit: 02/2021
Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
Alter: 60
Beiträge: 1.615


... liest sich, wie von der Seele geschrieben. Nicht schlecht, aber echt gemein.

Einwand: Sie war ein Mensch, dessen Nörgelei... / Scheint nicht falsch zu sein, aber am Anfang erscheinen viele anwesende Personen. Deren Nörgelei hätte mir weniger irritiert.

beaux rêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2023, 16:07   #3
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Liebe Ilka-Maria,
habe ich auch (und sei es nur, um so etwas wie Charakter bei mir zu finden) eine Lieblingsfeindin? Deine Story hat sie mir ins Gedächtnis gerufen und mich daran erinnert, dass ich bisher versäumt habe, mich nachhaltig für ihre Gemeinheiten zu rächen. Mal schauen, ob mir da noch etwas einfällt.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
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