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Alt 04.05.2020, 10:48   #1
männlich Ulpaet
 
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Standard Helden unter und über der Erde – Im Berliner Polizeimuseum

Der Winter im ersten Monat des Jahres 1929 bot den Berlinern ein grandioses Schauspiel. Vor ihren Augen spielte sich ein Krimi ab, der in die Geschichte eingegangen ist. Ein paar Fragmente dieses Krimis sind im Museum des Berli-ner Polizeipräsidenten am Platz der Luftbrücke zu besichtigen. Im Winter 1929 geschah einer der größten Coups im Leben der legendären Brüder Franz und Erich Sass, von der Öffentlichkeit fast sehnsuchtsvoll erwartet und nun tat-sächlich schaurige Wirklichkeit geworden. Fotos und Berichte im Museum kön-nen die Emotionen nur erahnen lassen, die mit dem spektakulärsten Raub in Berlin die Öffentlichkeit erregte.

Am 30. Januar 1929 wächst vor einer Absperrung einer Zweigstelle der Dis-contobank am Wittenbergplatz, Ecke Kleiststraße eine Traube von Männern und Frauen. Hälse strecken sich, als könne man irgendetwas Geheimnisvolles oder Schauerliches in der Bank erblicken. Das Raunen in der angespannten Menge ist förmlich zu hören, mit dem ungeheuerliche Nachrichten weiter ge-reicht werden. Es ist ein kühler und trüber Tag. Schneematsch liegt an den Straßenrändern. Die Männer tragen Hüte, Frauen dicke Mäntel und Kopftücher. Auf einigen Mündern ist ein zartes, zaghaftes Lächeln zu erkennen, Neugier steht den Menschen ins Gesicht geschrieben. Die Augen sind fest auf die Tür der Bank gerichtet, vor der Ordnungshüter Wache stehen. Nichts Genaues weiß man nicht, Gerüchte werden ausgetauscht, Vermutungen als gesicherte Informationen weiter getragen. Schier unglaubliche Sätze geistern von einem zum anderen und werden, kaum ausgesprochen und gelauscht, erregend gru-selig gefühlt.

Die Tat liegt schon drei Tage zurück, keiner hatte sie zunächst bemerkt. Erst an diesem Morgen ist sie Gewissheit geworden und wird nun erlebt, als dampfe noch eine heiße Spur. Was die Menschen elektrisiert, ist die Wahrscheinlich-keit, dass die Brüder Sass wieder zugeschlagen haben. Tatsächlich waren drei Tage vorher Franz und Erich in den hoch gesicherten Stahlraum im Keller der Bank eingestiegen und hatten 179 der 181 Schließfächer geknackt und leer geräumt. Als man schließlich drei Tage später das Deliktum in Augenschein nehmen konnte, fand man außer dem Chaos der leeren Fächer nur zwei leere Weinflaschen. Geschätzte zwei Millionen Reichsmark waren geraubt. Vielleicht waren es auch mehr. Denn in den Fächern wurde viel Geld gebunkert und ge-lagert, das aus zwielichtigen Quellen stammte oder unterschlagen war. Keiner sollte von diesen Schätzen wissen, schon gar nicht das Finanzamt oder die Po-lizei. So haben sich sehr viele der Geprellten nach dem Raub sicherheitshalber gar nicht erst gemeldet, um ihre Schäden im Einzelnen nachzuweisen. Die Sass-Brüder, so wurde in den späteren Prozessen klar, wollten nicht einfach nur Geld. Sie wollten es vor allem von denen, so behaupteten sie, die es der Allgemeinheit vorenthalten hatten.

Aber von Prozessen kann noch lange keine Rede sein. Noch gibt es in den Köpfen der Schaulustigen kaum mehr, als ihnen die Fantasie vorspielt, die sich mit dem Namen Sass in wunderlicher Weise sofort regt. Das Gedränge vor der Bank wird immer größer. Keinerlei Einbruchspuren sind zu sehen, nur das rot-weiße Absperrband vor der Eingangstür. Hinter den hohen Fenstern leuchtet das Licht in dem vollständig intakten Kassenraum. Noch zwei Tage lang nach dem Raub sind die Bankgeschäfte ganz normal weiter gelaufen. Keiner der Angestellten hat etwas gemerkt, was sich da im Keller im Hochsicherheitstrakt abgespielt hat. Erst Tage später stellt ein Bediensteter fest, dass die dicke Tür zum Stahlraum nicht zu öffnen ist. Sie scheint von innen blockiert zu sein. Der Bedienstete macht Mitteilung. Man rechnet mit einem technischen Defekt in der Verschlussanlage, denn es sind keine Spuren zu erkennen, die auf ein gewalt-sames Einwirken auf die Stahltür hinweisen. Selbst die Spezialisten der zur Hilfe gerufenen Firma Arnheim&Tresor sind schnell am Ende mit ihrem Latein. Nichts geht, nichts ist zu machen. Die Tür ist nicht zu bewegen. Es dauert noch einmal Stunden, bis zwei Maurer einen Durchbruch der starken Betonaußen-wand geschafft haben. Was sich ihren Blicken dargeboten hatte, sei unbe-schreiblich, erzählte man sich draußen auf der Straße.

Die Ermittlungen später ergaben, dass die Täter einen Schacht genutzt hatten, der den Raum künstlich mit Luft, also mit Sauerstoff versorgte und sich schräg nach oben schlängelte und auf dem Hinterhof der Bank endete. Die Täter hat-ten einen Tunnel vom Nachbarhaus in die Tiefe gegraben, der just in diesem Schacht endete. Wochenlange Arbeit war dazu notwendig. Sie hatten ihre Ar-beit so perfekt gemacht, dass selbst dieses Tunnelkunststück den Ermittlern erst nach längerer Zeit der Inspektionen aufgefallen war. Um in den Schacht zu gelangen, war lediglich ein 50 mal 70 Zentimeter großes Loch gestemmt, durch das dann die Täter ihre Beute über einen relativ langen Zeitraum ent-sorgen konnten, gewissermaßen bei laufendem Geschäftsbetrieb.

Unter den polizeilichen Ermittlern war auch der Kriminalsekretär Max Fabich. Als Sekretär war seine Stellung in der polizeilichen Hierarchie nicht gerade hoch. Aber er durfte sich als der eigentliche Spezialist in Sachen Sass empfin-den, weil er gelernt hatte, deren Handschrift bei der Spurenbewertung zu le-sen. Er hatte bereits über mehrere Jahre Untersuchungsergebnisse ausgewer-tet, die aus seiner Sicht eindeutig auf das Wirken von Franz und Erich Sass hinwiesen. Und auch jetzt am 30. Januar war sich Max Fabich sicher, dieses Husarenstück der Einbruchskunst könnten nur die Brüder Sass zustande ge-bracht haben. Dieses tat er auch sofort und gleichen Tages dienstlich wie öf-fentlich kund. So war die fiebernde Neugier der Menschen vor der Bank an diesem kalten Januarmittag als Frage zu verstehen, ob man dieses Mal nun endlich die Helden einer fantastischen Raubkriminalität fassen und dingfest machen würde.

Max Fabich hatte seine Akte Sass bei der neuen Untersuchung im Keller der Discontobank am Wittenbergplatz fest im Griff und alle Indizien im Kopf, die er aus früheren Fällen dem Täterprofil der Sass-Brüder zugeordnet hatte. Seit 1927 hatte es in Berlin in kurzer Folge spektakuläre Einbrüche gegeben, deren Methoden auf gleiche Vorgehensweisen hinwiesen, obgleich am Tatort nie ir-gendwelche Fingerabdrücke gefunden wurden. Stets ging es um Banktresore, und stets war als Werkzeug ein Schneidbrenner der Firma Fernholz im Spiel. Der erste Einbruch geschah in der Berliner Bank in Moabit, in direkter Nach-barschaft der Wohnung der beiden Sass-Brüder. Da waren die Brüder bereits bis zu den Tresoren gelangt, mussten aber lernen, dass ihr Schneidbrenner erlahmte, wenn der Sauerstoff im Raum zu knapp wurde. Immerhin waren sie die Pioniere für dieses Instrument, das vorher noch keiner auf einem Raubzug eingesetzt hatte. Fabich war ihnen auf der Spur, weil er sie als Käufer dieses Gerätes festgestellt hatte. Aber er konnte nicht beweisen, dass sie tatsächlich mit eben diesem Instrument in der Bank hantiert hatten.

Beweise fehlten ihm auch nach dem zweiten großen Versuch der Sass-Brüder, der nachts zum 4. Dezember 1927 gestartet wurde. Da hatten sie einen Tunnel zum Keller der Dresdner Bankfiliale am Savignyplatz in Charlottenburg gegra-ben. Die Arbeit war überaus sauber. Keine Fingerabdrücke, keine lauten Wanddurchbrüche, sorgfältiges Aufpulen der Ziegel, nicht mehr als unbedingt nötig. Doch das Werk konnte auch hier nicht abgeschlossen werden. Die Brü-der beobachteten die Polizei, die sich versteckt auf die Lauer gelegt hatte. Be-vor die Beamten zuschlagen konnten, hatten sie ihre Arbeit abgebrochen und waren spurlos verschwunden.

Tagelang hatten die Vorarbeiten zum nächsten Bruch am 28. März 1928 im Reichsbahngebäude am Schöneberger Ufer nahe dem Gleisdreieck gedauert. Dieses Mal gruben sie sich von einem Raum im Erdgeschoss nach oben in den ersten Stock, wo der Tresor stand. Sie bohrten nachts das quadratische Loch so geschickt, dass sie es mit einer Attrappe zudecken konnten, die tagsüber bei den Mitarbeitern keinerlei Aufsehen erregte. Allerdings wurde diese Aktion durch einen Nachtwächter verdorben. Der hielt die Bohrgeräusche für Katzen-geschrei und machte Licht, um die Tiere zu verscheuchen. Da waren die Brü-der bereits schon wieder verschwunden. Max Fabich fand den Schneidbrenner, die Seriennummer ausgefeilt. Da wusste er, es können nur die Sass-Brüder gewesen sein.

Wenige Wochen später war sich die Polizei sicher, die Brüder bei einem Ein-bruch in der Budapester Straße in flagranti erwischen zu können. Es gab wie-der Bohrgeräusche, Bewohner waren aufmerksam geworden, die Polizei kam. Man fand wieder die typischen Wanddurchbrüche und es roch noch nach dem Brenner. Wie ein Labyrinth waren Attrappen aufgestellt. Die Sass-Brüder in-dessen hatten sich in Luft aufgelöst.

Wenige Wochen später am 20. Mai 1928 dann ihre bis dahin spektakulärste Tat. Sie hatten sich den Tresor im Landesfinanzamt Alt-Moabit ausgesucht. In ihm ruhte im Keller ein Millionenschatz der Reichfinanzkasse als nächste Rate, die an Frankreich als Reparationskosten für den ersten Weltkrieg auszuzahlen war. Die Sass-Brüder mussten sich an zwei Wachleuten mit zentnerschwerem Gerät vorbeischmuggeln, um sich an ihre Arbeit machen zu können. Die Wach-leute merkten nichts. Alles lief nach Plan, und die beiden Sass hatten den Tre-sor bereits aufgeschweißt. Im Wachzimmer war die Alarmanlage. Erich hatte die notwendige Aufgabe zu lösen, den Draht der Anlage durchzuschneiden. Das sollte während eines Rundgangs der Wächter geschehen. Doch unvermu-tet kam ein Wächter zurück. Erich konnte sich gerade noch weg ducken und die Brüder mussten wieder einmal ohne Beute fliehen. Werkzeuge, die sie zu-rücklassen mussten, waren für Max Fabich Beweise für seine Täterhypothese. Die reichten aber auch in diesem Fall nicht für eine Anklage aus.

Auch Max Fabich hatte im Laufe der Zeit immer mehr Achtung vor der Qualität und Professionalität dieser zwei Verbrecher gewonnen. Es hatte ihn nicht über-rascht, dass endlich einmal wie jetzt am Wittenbergplatz ein Raubzug mit ei-nem ganz großen Erfolg der beiden Verbrecher enden würde. Mit innerer Be-wunderung und voll Staunen registriert Fabich nun die Spuren, drei Tage nach der Tat. Dieses Mal ist alles perfekt gelaufen. Logistik und Ausführung sind noch beeindruckender als alles, was er früher zu Protokoll nehmen musste. Schnell ist sich Fabich sicher, ein solches Meisterwerk können nur Franz und Erich Sass zustande bringen. Und er ahnt, dass sie sich dieses Ruhmes auf ih-re Weise brüsten werden. Denn es gibt keine Beweise, obgleich er sich seiner Vermutungen sicher ist. Keine Werkzeuge werden gefunden, keine Fingerab-drücke nicht einmal an den leeren Weinflaschen, die im Tresorraum gefunden werden. Er hat nichts in den Händen außer seiner Täterhypothese im Kopf. Mag diese auch noch so wahrscheinlich sein, der Staatsanwaltschaft reicht das nicht. Die Zeitungen schreiben fast begeistert über dieses Räuberstück genia-ler Krimineller. Sass ist längst ein öffentlich hoch gehandelter Name. Die Brü-der sind Stars, und eigentlich sind alle der Meinung, es können nur die Brüder gewesen sein, die nun auf einer dicken Beute sitzen. Die Schaulustigen raunen sich bereits zu, man habe die Brüder fest genommen. Aber ob es dieses Mal reichen würde? Sie hatten ihre Zweifel.

Im Museum ist die Geschichte Sass und die Polizei ausgestellt. Der Kriminal-sekretär Max Fabich hatte alles richtig gemacht, was ein intelligenter Kriminal-polizist machen kann. Er war den Tätern auf der Spur, weil er sich in die Ge-danken und Methoden versetzen konnte, mit denen die Täter ihr Handwerk ausüben. Er war sich auch sicher, dass die Täter Insiderwissen über die Anla-gen ihrer Einbruchsorte haben mussten, was ohne Verbündete in den Gebäu-den kaum zu erlangen war. Fabich empfand Respekt und Bewunderung für die Intelligenz und die handwerklichen Fähigkeiten der von ihm Gejagten. Sie ent-zogen sich ihm nicht, und er hätte sie leicht für ein Gespräch von Experte zu Experte besuchen können. Er konnte sie auch immer mal wieder für Tage fest-setzen lassen. Aber er konnte nichts beweisen, was der Prüfung der Juristen mit ihren Paragraphen standhielt. So waren auch dieses Mal die beiden Brüder schnell wieder freie Männer.

Zur Geschichtsschau des Sass-Falles im Polizeimuseum gehören auch zahlrei-che Zeitungsartikel aus jenen Tagen. Die Gebrüder Sass erfreuten sich bester Kontakte zur Presse, gaben gerne exklusive Interviews und spielten ihre Rolle als Volkshelden perfekt. Millionen Menschen in Deutschland waren arbeitslos, Kleinkriminalität war an der Tagesordnung. Da passte ein Krimi, in dem Täter ihre Raubzüge wie Possen inszenierten, die zur Theaterbühne der großen Krise wie Märchen vom Robin Hood passten. Die im Dunklen sieht man nicht, war die Botschaft. Und man kann sie nicht fassen, war die nüchterne Realität. Es war gerade ein halbes Jahr her, dass am 31. August 1928 am Schiffbauer Damm die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht uraufgeführt worden war. So-fort wurde sie im märchensüchtigen Berlin der 20er Jahre ein Renner. Einen Jonathan Peachum erdichteten sich die Brüder für das Publikum und schlüpften in seine Rolle. Die Dreigroschenoper wurde in wenigen Monaten zum erfolg-reichsten Theaterstück der Weimarer Republik. Die Brüder Sass waren die er-folgreichsten realen Ganoven in der gleichen Zeit. Aufsehen und Aufmerksam-keit von Theater und Realität flossen in der Berichterstattung ineinander.

Die Helden ließen es sich nach der Räumung des Tresorraums in der Disconto-bank nicht nehmen, Glamour und Selbstsicherheit in der ruchlosen Geschichte zu zeigen. Auf Zeitungsbildern sieht man sie als elegante Herren, die in den besten Etablissements der Stadt als Entertainer hätten auftreten können. Jung und bestens gekleidet schienen sie ihren Starkult genüsslich öffentlich auszu-schlachten. Die Helden geben nach ihrer schnellen Freilassung mangels Bewei-se schon am 6. April 1929 eine rauschende Pressekonferenz, zu der sie ins vornehme Lutter&Wegner am Gendarmenmarkt einladen. Umhegt von ihrem Anwalt, der sich später das Leben nehmen wird, lassen sie all ihren Charme spielen und kredenzen den Journalisten Sekt und wohl bereitete Speisen, durch und durch Gentlemen, die eloquent die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu beklagen wissen und von anstehenden Verträgen für fantastische Filmver-pflichtungen berichten.

Max Fabich sitzt dagegen in seinem eher grauen Büro. Das Polizeipräsidium von Berlin ist mitten in den 20er Jahren eine mächtige Behörde. Die brodelnde Weltstadt beflügelt die Tüchtigkeit ihrer großen Kriminalapparate. Nach Refor-men und mit neuen Strukturen gilt sie als eine der modernsten Polizeiorgani-sationen in der damaligen Welt. Die strikte Trennung zwischen den Ermittlern, der Kripo und der Staatsanwaltschaft, sowie den Gerichten, die über die mögli-che Bestrafung entscheiden, ist erst in der neueren Zeit der Geschichte Schritt für Schritt vollzogen worden. Im Museum des Polizeipräsidenten in den Ge-bäuden des ehemaligen Flughafens Tempelhof ist zu erfahren, dass es erst seit 1885 einen eigenen polizeilichen Erkennungsdienst gibt, in dessen Folge sich die polizeilichen Spezialabteilungen für Mord, Raub oder Einbruch entwickelt haben. Im Museum agiert die Polizei in einer ständigen Bewegung ihrer Orga-nisationsstrukturen. Ständig ändern sich die gesetzlichen Grundlagen ihrer Ar-beit. In kurzen zeitlichen Abständen muss sich die Organisation einem anderen politischen System anpassen. Immer wieder werden die Aktionsräume für die professionelle Polizeiarbeit verändert. Ein Landeskriminalamt gibt es für Max Fabich noch nicht. Schlussfolgerungen aus den Ermittlungen muss der Sekretär für sich allein ziehen. Er fühlt sich in der Polizei zwar als Einziger den Sass-Brüdern ebenbürtig. Aber er war kein Held für die Öffentlichkeit und er wird von den Medien in ihren Krimis kaum erwähnt. Max Fabich wartet auf seine Chance.

Ein Kriminalsekretär hat innerhalb der Polizeihierarchie nicht viele Möglichkei-ten, seine Strategien durchzusetzen, wenn sich seine Vorgesetzten sein Ermitt-lungswissen nicht zueigen machen. Im Falle der Sass-Brüder hat er wenig Rü-ckendeckung in der Behörde. Die große Polizeiorganisation will nicht als Verlie-rer dastehen. Sie hält es für richtig, zu Protokoll zu geben, dass noch ermittelt und jeder Spur nachgegangen wird. Der selbstsichere Max Fabich ist also kein starker Mann. Als strenger Katholik weiß er zudem, dass ihm Karriere und Aufstieg verwehrt bleiben werden. Die Konfession spielt für die Personalpolitik noch eine erhebliche Rolle. Sein Ehrgeiz ist also uneigennützig, einzig in der Verstrickung in die Einbruchsfälle begründet. Aber als Einzelkämpfer schwärmt er für einen anderen Polizisten, der mit der Aura eines großen Einzelkämpfers ausgestattet ist. Für seine Arbeit hat er im Polizeipräsidium einen ranghohen Kollegen als Vorbild, der Ernst August Ferdinand Gennat heißt. Gennat ist der Star in der zentralen Mordinspektion der Stadt. Gennats Abteilung erzielt die traumhafte Aufklärungsquote von 95 Prozent, mehr als die 87 Prozent, die heute mit ungleich differenzierteren Methoden erreicht werden. Dagegen bleibt die Inspektion Raub, in der Fabich arbeitet, mit 52 Prozent weit zurück. Dieser ungleiche Erfolg wurmt ihn und spornt ihn an. Er möchte der Gennat der Auf-klärung großer Raubzüge werden.

Gennat genießt den Ruf, einer der begabtesten und erfolgreichsten Kriminalis-ten in Deutschland zu sein. Er ist ein Meister des Profiling, verfügt über ein hervorragendes Gedächtnis und hat ein ausgeprägtes psychologisches Einfüh-lungsvermögen. Das sind genau die Fähigkeiten, über die auch zu verfügen Max Fabich für sich in Anspruch nimmt. Max Fabich ist von sich überzeugt. Es gibt Kollegen, die empört über das provozierende Auftreten der Sass-Brüder sind und die Höflinge in den Zeitschriften und Zeitungen nicht verstehen kön-nen. „Ich könnte denen bei solchen Sektfrühstücken rechts und links in die Fresse schlagen“, hört er sie in seinem Büro wüten, wenn sie Neues aus der Presse erfahren müssen. Dann lächelt Fabich und antwortet ihnen mit einem Gennat-Satz: „Wer mir einen Beschuldigten anfasst, fliegt! Unsere Waffen sind Gehirn und Nerven!“ Er ist sich sicher, mit seinen Waffen die Täter noch zur Strecke zu bringen.


Das Polizeimuseum gab es schon 1931, als Charlie Chaplin in Berlin weilt und dem Polizeipräsidium einen Besucht abstattet. Da ist der Fall der Brüder Sass noch nicht entschieden und Max Fabich wird von Chaplin sicher nicht befragt. Aber an den Besuch des Museums erinnerte sich Charlie Chaplin mit schau-derndem Grausen: „Ich war dankbar, als ich das Haus verlassen konnte,“ no-tierte er, nachdem er die „Photographien von Ermordeten, Selbstmördern und menschlichen Entartungen und Abnormalitäten jeder erdenklichen Art“ erkun-det hatte. Chaplin war zur Premiere seines Films „City Lights“ nach Berlin ge-kommen. Er ist ein Meister der psychologischen Dramaturgie, mit der er, durchaus ähnlich wie Bertolt Brecht, die dunklen Abgründe der Gesellschaft in den Spielstätten von Armut und Verbrechen ausleuchtet. Er ist aber auch ein großer Bewunderer der Berliner Polizei, von der er sich zu seinen Filmge-schichten inspirieren lässt. Die Geschichte von Franz und Erich Sass wäre für ihn eine hervorragende Filmgeschichte gewesen. Aber die Großen des Präsidi-ums reden mit ihm lieber über die Erfolge als über nicht aufgeklärte Fälle.

Die Brüder Sass wären ein Chaplinthema gewesen. Der Komiker hätte lebhaft in einem solchen Film über die Wohnung der beiden Jungens erzählt, die 1904 und 1906 auf die Welt gekommen waren. Der Lohnschneider Andreas Sass und seine Frau, die Wäscherin Marie Sass hatten fünf Kinder. Die große Familie lebte auf 40 Quadratmetern im Hinterhof des Hauses Birkenstraße 57 in Moabit nahe am Kriminalgericht und dem angrenzenden riesigen Untersuchungsge-fängnis. Es gab ständig kleinere und größere Delikte von Franz und Erich. Poli-zei und Fürsorge gehen als ständige Besucher in der Wohnung Sass ein und aus. Einbruch, das lernen die beiden Brüder sehr schnell, ist ein Handwerk, das gelernt sein will.

Chaplin hätte sich viel Mühe gegeben, hinter dem rauen Kern des Alltagslebens und der schroffen Sprache der Akteure die Achtung in der Familie und in der Nachbarschaft nachvollziehbar auszumalen, derer sich die beiden Jungen in zunehmendem Maße erfreuen dürfen, je perfekter sie ihr Handwerk zu beherr-schen lernen. Er hätte gezeigt, wie der soziale Respekt mit den klaren Wer-tentscheidungen der beiden Ganoven korrespondiert: Nimm von keinem, der zu wenig hat und teile deine Beute mit denen, die sie genauso bitter brauchen wie wir selbst.

Chaplin hätte eine soziale Geschichte erzählt und nicht einfach die Figuren von Gelegenheitsverbrechern vorgeführt, die mit komischen Kunsttücken das stau-nende Publikum zum Lächeln verführen konnten. Er hätte auch nicht einfach einen Krimi gedreht, an dem die Spannung reizt, wie am Ende der Täter zur Strecke gebracht wird. Er hätte in eine patriarchalische Welt geführt, in der die strengen Regeln auch ganz weit unten im Miljöh gelten. Er hätte gezeigt, wie da jemand zum Helden werden kann, der Kriminalität beherrscht und sein Standesbewusstsein offen zeigen kann, weil er einen klaren Ehrenkodex als soziale Verbindung zu seinen Bewunderern aufrecht erhält. Täter einer Legen-de konnten die Brüder Sass nur werden, weil sie ihren Verstand und ihr Kön-nen für solche Raubzüge gebrauchten, mit denen keine Menschen physisch oder psychisch geschädigt wurden. Wenn dabei Geld verschwand, so durfte man darüber hämisch lachen, solange es nicht das eigene war.

Franz und Erich Sass haben sich feiern und bewundern lassen, weil sie nichts zu verstecken hatten außer das erbeutete Geld. Sie wurden von ihresgleichen angebetet, weil die Polizei keine Beweisstücke für eine Verurteilung fand. Für alle gab es das sichere Einverständnis, dass die Sass-Brüder gerissene Raubdiebe sind. Das wusste die Polizei, das wussten die Zeitungen, das wuss-ten die Hinterhofbewohner in Moabit, im Wedding oder in Neukölln. Aber ihnen dennoch nicht richtig auf die Schliche gekommen zu sein, das wurmte die Ei-nen, während es die Anderen stolz machte. So konnten Franz und Erich nach dem Raub in der Discontobank am Wittenbergplatz wie Operettenkönige bei Lutter&Wegner auftreten, Meister eines räuberischen Handwerks, vor dessen Effizienz sich keiner fürchten müsse, der es mit seinem wenigen Hab und Gut nie zu einem Schließfach oder Tresor bringen würde.

Charlie Chaplin verließ die Stadt ohne Filmstory der Sass-Brüder. Die aber präsentierte 2001 der Regisseur Carlo Rola, mit den starken Schauspielern Jürgen Vogel und Ben Becker in den Rollen der Brüder und Henry Hübchen in der Gegenrolle des Max Fabich. Es ist ein wunderbarer Film, der inzwischen selbst im Archiv, in einem Museum liegt. Charaktere der Geschichte sind nicht im Spiel der Leinwandakteure identisch. Aber Schauspieler wie diese drei kön-nen blendend und einfühlsam ein Gefühl für die Charaktere derer schaffen, die sie spielen.

Der Kriminalsekretär Max Fabich wäre beinahe doch noch ein Polizeiheld ge-worden. Ganz nahe einem spektakulären Triumph muss er dann doch wieder eingestehen, verloren zu haben, ein tragischer Held. In den Weihnachtstagen 1929 spielen sich auf dem Charlottenburger Luisenfriedhof in der Nacht selt-same Dinge ab. Wieder geht es unter die Erde. Zwei Männergestalten, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, werden von Anwohnern beobachtet, die Polizei wird benachrichtigt. Fabich bekommt die Sache auf den Schreibtisch und denkt sofort an seinen Fall. Sein Gefühl sagt ihm fast sicher, jetzt kannst du endlich zuschlagen. Vor sich sieht er schon die Schlagzeilen, dass es ihm nicht nur ge-lingt, die Sass-Brüder auf frischer Tat geschnappt zu haben, er würde nun endlich auch gleich noch das Versteck für das Raubgut aus der Discontobank finden. Am nächsten Tag observiert er die Stelle auf dem Friedhof, präpariert seinen Einsatz für die kommende Nacht. Für Fabich ist klar, er hat den Einstieg ganz nach der Handschrift der Brüder gefunden. Jetzt heißt es nur noch Ab-warten und Zuschlagen, am besten gleich in der nächsten Nacht.

Tatsächlich kommen die beiden, als seien sie mit Fabich verabredet. Der hat seine Leute hinter der Remise am Friedhofseingang versteckt. Franz schleicht sich auf den Friedhof. Nichts verrät ihm die nahen Polizisten. Aber Franz wittert sie mit einem siebten Sinn in ihrem Versteck und entdeckt die Falle. Mit weni-gen Sprüngen ist er über der Friedhofsmauer und verschwindet mit Erich im undurchdringlichen Dunkel der Nacht. Fabich ist mal wieder nur zweiter Sieger. Ihm bleibt nur, das bereits weit fortgeschrittne Loch in der Erde zu bewundern. Die Wände sind säuberlich mit Holz ausgeschlagen, der Einstieg unerkennbar getarnt. Aber das Loch ist leer

Die Brüder fliehen vom Friedhof geradewegs in das Büro ihres Anwalts, wo nach zwei Stunden auch Fabich mit seinen Helfern eintrifft. Der Anwalt erdich-tet den Brüdern ein so perfektes falsches Alibi, dass die Polizei unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen muss. Nicht einmal eine Untersuchungshaft wegen Verdunklungsgefahr kommt in Frage. Ab diesem nächtlichen Treffen werden die Brüder eine Zeitlang nicht mehr in Berlin gesehen. Sie verschwin-den im nun wirklichen Untergrund der Stadt, weil ihnen die Luft zu heiß gewor-den ist und sie erkennen müssen, dass Max Fabich nicht locker lassen wird, wenn er erstmal heraus gefunden hat, welch falsches Alibi sie ihm aufgetischt haben.

Dann kommen die Nazis an die Macht und Fabich wird von ihnen kalt gestellt, nicht entlassen zwar, aber aus der Inspektion Raub in den Wachdienst abge-schoben. Franz und Erich Sass setzen sich aus Berlin ab, meiden die neuen Gauner. Sie siedeln nach Kopenhagen über. Dort versuchten sie das alte Spiel in neuer Umgebung. 1934 knacken sie den Tresor einer Zigarettenfabrik und kurze Zeit später den Tresor einer Bankfiliale. Beide Male sind sie erfolgreich. Zum Verhängnis wird ihnen etwas anderes. Sie werden wegen falscher Aus-weispapiere erwischt. Man kommt ihren Raubzügen auf die Spur, kann ihnen die beiden Einbrüche anhängen. Sie wandern für vier Jahre ins dänische Ge-fängnis.

Nach der Verbüßung ihrer Strafe werden sie 1938 nach Deutschland abge-schoben. Max Fabich hat sich nicht mehr in das Verfahren der Gebrüder Sass eingemischt. Auch als Zeuge taucht er nicht mehr in den Akten auf. Wahr-scheinlich ahnt er, welchen Weg seine beiden Gegenspieler vor sich haben. Dieser Weg ist mit seinem polizeilichen Ethos nicht mehr zu vereinbaren. Am 27. Januar 1940 wird über die Sass-Brüder das Urteil verhängt: 11 und 13 Jah-re Zuchthaus. Zwei Monate später werden sie der Gestapo übergeben und von Berlin ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Dort wartet der spätere Auschwitzkommandant Rudolf Höss auf die Delinquenten und lässt sie aus kurzer Hand abknallen. In das Sterbebuch des zuständigen Standesamtes Oranienburg wird eingetragen: „Auf Befehl des Führers erschossen.“
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Alt 04.05.2020, 11:08   #2
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Guten Morgen, Ulrich,

kleiner Tipp: Trennstriche vor dem Kopieren und Einfügen in Poetry besser aus dem Text nehmen. Poetry vermag sie nicht zu erkennen und bildet sie als Bindestriche ab.

Besten Gruß,
Ilka
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Alt 04.05.2020, 11:11   #3
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Vielen Dank - man lernt immer!
ulp
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Lesezeichen für Helden unter und über der Erde – Im Berliner Polizeimuseum

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