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Alt 14.04.2008, 20:16   #1
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Standard Umdrehung

Seit er sich erinnern konnte, lief er davon, er lief und lief, immer weiter. Seine Eltern hatten ihn von klein auf gewarnt: "Bleibe niemals stehen, folge immer dem Weg, weiche nicht ab und dreh dich nicht um". Sie hatten ihm auch von der Prophezeiung zu seiner Geburt erzählt, damals, als er noch ein winziger, niedlicher kleiner Tag war, dass er, sollte er jemals innehalten, der Dunkelheit zum Opfer fallen, dass sein Licht erlöschen würde in der ewigen Finsternis. Doch jetzt, wo er älter geworden war und anfing, sich eigene Gedanken zu machen, seine Gedanken neu zu ordnen, begann er sich zu fragen, ob jener Schleier, den er stets wahrnehmen konnte ganz weit entfernt am Horizont, ob der nicht auch Teil der Dunkelheit sei, die sich hinter ihm befinden sollte. Er befragte die Vögel, die manchmal mit ihm um die Wette flogen, ob diese jemals die Dunkelheit gesehen hätten, doch die Vögel konnten seine Fragen nicht beantworten. "Es ist hell, dann ist nichts, dann ist es hell", war ihre Antwort. "Und außerdem singen wir dir Lieder von unserer Freude, damit du wach bleibst und uns scheinst". So lief er und lief, bis er eines Tages beschloss, keine Angst mehr zu haben. Er blieb stehen und drehte sich um.
Der kleinen Nacht war es nicht anders ergangen in ihrem jungen Leben, sie war gelaufen und gelaufen auf der Flucht vor dem Licht. "Es wird dir übel ergehen", hatten ihre Eltern gesagt,"wenn dich die Helligkeit erwischt. Du wirst von einem Moment auf den anderen verschwinden, so haben es die Weisen prophezeit". Sie hatte die Fledermäuse befragt, aber die hatten nur geantwortet: "Es ist dunkel, dann ist nichts und dann ist es dunkel, aber wir pfeifen dir unsere Lieder, damit du den Weg findest". Auch die kleine Nacht meinte, weit, weit entfernt etwas sehen zu können, das sich von ihr unterschied, aber so schnell sie auch lief, sie kam dem Geheimnis nicht näher. So dachte sie eines Nachts: "Wenn ich stehen bleibe, mich umdrehe und in die andere Richtung laufe, müsste ich ihm doch näher kommen. Ich bin groß inzwischen und kenne keine Angst".
Also blieb sie stehen und drehte sich um.
In weiter Entfernung erblickten der kleine Tag und die kleine Nacht ein etwas, ein Dunkel, ein Licht, und sie begannen zu laufen und sie liefen und liefen, aber sie kamen sich nicht näher. Und so laufen sie heute noch, Sehnsucht im Herzen und sie kennen keine Angst mehr.
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.04.2008, 14:26   #2
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Huhu lyrwir :-)


Ein wirklich schönes, kleines Märchen hast du da geschrieben. Es hat die Kraft, den Leser zu verzaubern und in seinen Bann zu ziehen.
Das liegt zum einen an der Sprache, die sehr erzählerisch und ruhig ist. Sie ist zwar relativ einfach und simpel gehalten, aber gerade dadurch bekommt der Leser den Eindruck, ihm würde gerade ein Märchen erzählt werden. Mir gefällt auch die Ausdrucksweise z.B. „als er noch ein winziger, niedlicher, kleiner Tag war“; das ist eine Formulierung, bei der man einfach Schmunzeln muss und vor allem auch den Stil so schön lebendig macht.

Inhaltlich ist vor allem die Mehrdeutigkeit auffällig. Eine Interpretation könnte entweder rein auf den ständigen Wechseln von Tag und Nacht bezogen bleiben und zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Wechsel irreversibel also nicht umkehrbar ist. Aber es lässt sich natürlich auch wunderschön verallgemeinern.
Man hat uns erzogen, in die eine Richtung zu laufen (vorwärts), aber einige haben den Mut woanders hinzulaufen (also rückwärts) und ihren eigenen Weg zu finden Dabei ist es eigentlich egal, welche Richtung wir einschlagen – aber den eigenen Weg zu gehen, fühlt sich besser an. „Und so laufen sie heute noch, Sehnsucht im Herzen und sie kennen keine Angst mehr“ – so etwas im Leben zu haben und zu fühlen, ist doch wesentlich schöner, als immer nur in der „vorgegebenen Bahn“ zu bleiben. He he, ich habe ja schon gebangt, um den armen, kleinen, niedlichen Tag, dass der nicht verlöscht – ist übrigens gut gelungen, von der Spannung her – und war dann umso froher, dass er es überlebt hat *g*
Wirklich schön geschrieben :-)

liebe Grüße
Die Traumi

PS: „stehen bleiben“ schreibt sich auseinander und „beschloss“ mit Doppel s. Ich sag’s nur; fällt eigentlich kaum auf ;-)
PPS: irgendwie schade, dass der Titel - der ja eigentlich gut passt - so wenig "reizvoll" ist. Aber liegt vielleicht auch an mir, dass nur ich ihn speziell als nicht reizvoll empfinde ... er hat für mich jedenfalls wenig "assoziative Kraft" und hat mich wenig neugierig gemacht.
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.04.2008, 20:46   #3
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Hallo Traumwächterin,
diese Geschicht habe ich für meine Tochter geschrieben, damit sie gute Träume findet. Ich freue mich sehr, dass sie gerade dir gefällt (die Geschichte).
Dass dir das märchenhafte und die Sprache gefallen, finde ich schön, dass sogar so etwas wie Spannung rüberkommt, hach, was will man mehr?
Den Titel hatte ich gewählt in der Hoffnung auf Mehrdeutigkeit, aber ja, er ist ein wenig blass.
Vielen Dank für deine Antwort,
liebe Grüße,
Lyrwir
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
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