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Alt 25.07.2023, 18:38   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Kleines Problem, großes Drama

Der Regen hat nachgelassen. Zeit, mit Portemonnaie und Einkaufsbeutel loszuziehen, denn der Kühlschrank ist geplündert, und ich habe Hunger.

Fünf Minuten später bin ich im nahegelegenen Supermarkt, und wie es die Psyche befiehlt, wenn der Magen sie wie eine missgelaunte Töle anknurrt, packe ich mehr verführerische Produkte in den Einkaufswagen, als ich in einer Woche essen kann. Während meines Beutezugs durch die Regalreihen fällt mir eine junge, schlanke Frau in bodenlangem Gewand und mit Kopftuch auf, weil sie die ganze Zeit in einer fremden Sprache, vermutlich einem arabischen Dialekt, in ihr Smartphone spricht. Sie hat ein kleines Kind dabei, höchstens zwei Jahre alt: Stupsnase, schwarzbraune Augen, Karamellhaut, entzückend hübsches Gesicht. Trotz seiner schwarzen Locken ist nicht erkennbar, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.

Das Kind ist lebhaft und sichtlich stolz darauf, seiner Mama zu helfen, indem es für sie mit Eifer ein Einkaufswägelchen für Sprösslinge schiebt, das die junge Frau bereits randvoll gefüllt hat. Ab und zu löst sich das Kind von der Mutter, bugsiert seinen Schatz durch andere Gänge und wieder zu ihr zurück, wobei es zwischendurch anhält und wie ein Pantomime so tut, als würde es Produkte auswählen, jedoch ohne wirklich etwas von seinem Platz zu nehmen.

An der Kasse stehen die beiden hinter mir. Aber obwohl ich zuerst an der Reihe bin, ist die Frau nach dem Bezahlen mit dem Einpacken ihres Einkaufs schneller fertig und auf dem Weg zum Ausgang des Supermarktes als ich. Ich sehe das Kind noch einmal drei Schritte zum Sammelplatz für die Wägelchen zurückgehen, um sich zu vergewissern, dass es seines ordentlich abgestellt hat, während die Mutter bereits in der Schleuse steht, von der man in den Laden gelangt und in die man aus dem Laden herauskommt, bevor man durch den Hauptzugang ins Freie tritt. Während ich meine Aufmerksamkeit wieder meinem Einkauf widme und die restlichen Artikel in meinen Beutel packe, höre ich, wie die Mutter etwas ruft, das ich nicht verstehe. Und im nächsten Augenblick zerreißt ein markerschütterndes Geplärre, als habe jemand unerwartet sein Totenglöckchen läuten hören, das gewohnte, unspektakuläre Hintergrundgeräusch des Ambientes.

Da Kindergeschrei in einem Supermarkt keine Seltenheit ist, weil es immer wieder zu Konflikten zwischen Habenwollen seitens des Nachwuchses und Anspruchsverweigerung seitens der Mütter und Väter kommt, bin ich nicht sonderlich beunruhigt. Trotzdem richte ich reflexhaft meinen Blick zum Ausgang und erfasse die Situation sofort: Als das Kind nochmal zurückgegangen ist, um sein Wägelchen zu inspizieren, hat seine Mutter jenseits der automatischen Glasschiebetür gewartet, aber bevor es ihr hat folgen können, hat sich die Tür geschlossen. Das Kind kann nicht mehr hinaus und bricht augenblicklich in Panik aus.

Mir ist das Dilemma sofort klar: Entweder reagiert die Lichtschranke auf das Kind nicht, weil es sich nicht bewegt, sondern hilflos dasteht und nach der Mutter brüllt, oder es ist zu klein, um von dem Mechanismus erfasst zu werden. Von selbst kommt dieser unerfahrene Wurm aus dieser Lage nicht heraus, und von außen kann seine Mutter die Tür nicht öffnen.

Trotz der Not, in der das Kind sich zu befinden glaubt – denn eigentlich ist dieses kleine Problem leicht zu lösen -, wirkt die Szene auf mich amüsant. Da ich mit dem Einpacken mittlerweile fertig bin, marschiere ich mit Beutel und leerem Einkaufswagen in Richtung Ausgang und lächele dem Kind und seiner Mutter jenseits der Schiebetür zu. "Ich komme schon", rufe ich dem Kind entgegen, "und dann geht die Tür auf. Versprochen." Dabei habe ich nicht die geringste Ahnung, ob es ein Wort Deutsch versteht.

Der hoffnungsvolle Blick, mit dem es mich ansieht, berührt mich. In seinen Augen steht aber auch Unsicherheit, als wisse es nicht, ob es mir trauen kann. Ich nähere mich der Tür, und – flutsch! – geht sie auf. Ab diesem Augenblick bin ich für das Kind nicht mehr existent. Frei! Wie ein Wirbelwind saust es hinaus auf den Parkplatz an die Seite seiner Mutter, die mich beobachtet und draußen gewartet hat. Kein Kummer, keine Tränen mehr – gerade so, als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt.

Wenn es nur immer so einfach wäre, die Welt in Ordnung zu bringen.

25.07.2023
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
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