Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 06.08.2011, 20:14   #1
weiblich FeelLetter
 
Dabei seit: 08/2010
Ort: zwischen Grashalm und Teer
Beiträge: 278


Standard Kleine Momente

Mit dem braunen Haus habe ich nichts mehr gemeinsam. Alte Lederjacken verdecken die Hausbank und lassen ihren Duft über die Terrasse, durch das Gebüsch und auf die Straße fliegen, wo er von einem vorbeirauschenden Auto zerstäubt wird. Zusammen mit den Mücken schwirrt der Duft in der Abendsonne, bis er verschwindet. Die Lampe an der Mauer über dem Tisch verspricht ein paar Zentimeter mediterrane Strahlen, die sich in dem Spinnennest verlieren, das in der neuen Lampe sofort sein Zuhause gefunden hat. Durch die dicken Fensterscheiben verspotten mich offene Umzugskartons mit einer Aufschrift von unbekannter Hand. Nie habe ich eines der Blätter beschrieben, nie einen der Stifte in den Finger gespürt, die auf dem gläsernen Schreibtisch liegen. Nie besaßen wir einen gläsernen Schreibtisch. Ich bewege mich wieder ein paar Schritte zurück, bis meine Zehen die Terrasse verlassen und das feuchte Gras berühren. Mit dem braunen Haus habe ich nichts mehr gemeinsam. Doch je weiter ich mich von dem von Fremden bewohnten Haus entferne, desto deutlicher werden die Momente, die mein Leben an diesem Platz gefunden und hinterlassen hat.

Das junge Bäumchen überragt mich heute. Erstaunt pflücke ich die erste rote Kirsche zwischen den von Ungeziefer bevölkerten Blättern. Mein Blick fällt auf eine Blume, die den Klauen des Rasenmähers entkommen ist. Ihr Orange mischt sich in meinem Auge mit dem Rot der Kirsche. Wild erstrecken sich die Erdbeersträucher um die Terrasse. Als ich nach einer Frucht greife, spüre ich den Schneckenschleim, der seine Fäden über die dunkelroten Herzen zieht. Meinen knienden Beinen nähert sich etwas Weiches und schmiegt sich an mich. Ein Tropfen Erdbeersaft rinnt mir über den Finger. Ich strecke ihn der Schnauze entgegen, doch die Katze reibt sich ihren Kopf an meiner ganzen Hand. Johannisbeeren rollen auf den Boden, als ich sie von den Zweigen streiche. Eine Perle landet in meinem Mund. Ich zerdrücke sie mit der Zunge zu einem kleinen Blutstropfen und spucke. Über die Wiese verstreut setzen sich die Samen auf den kühlen Boden und bleiben.

Es ist nicht das Weiß, das ich an den Hauswänden vermisse. Auch die Erinnerungen an die Zeiten ohne gläsernen Schreibtisch rufen mich nicht zurück. Während ich über die Wiese in Richtung Zaun streife, folgen mir einige Ameisen ein paar Ameisenschritte lang neben meinen Füßen. Die kleinen Steinchen auf den zerstampften Maulwurfshügeln drücken sich sanft in meine Sohle. Als ich mich an den morschen Zaun lehne, knackt er und ich verliere fast das Gleichgewicht, während das Holz nachgibt. Doch nur kurz, bis mein Gewicht die Sprossen verlassen hat und stattdessen auf dem Boden aufsetzt. Ein bisschen Erde klebt an meinen Zehen. Im Schneidersitz beobachte ich die Katze, die langsam näher kommt. An der Stelle, an der mein Shirt ein wenig hochgerutscht ist, spüre ich die feuchte Schnauze. Ich vermisse nicht meine Kinderhände, die sich unter dem weiß blühenden Gebüsch ein Versteck gegraben haben, nicht das Licht des Lagerfeuers, das sich im Glas des Tisches unter dem Spinnennest an der Lampe spiegelt. Auch nicht, als die Lampe noch eine andere war und das Weiß der Mauer zurückwarf. Noch einmal suche ich die Abendsonne, bevor ich mich erhebe. Meine Hose hat ein wenig der Feuchtigkeit des Bodens angenommen. Durch die Schatten auf der Terrasse erreiche ich schließlich die Terrassentür zum Wohnzimmer.

Noch einmal betrete ich das Haus, in der Gewissheit, dass ich das Haus nicht vermissen werde. Denn mit dem braunen Haus habe ich nichts mehr gemeinsam. Auch nicht mit dem gläsernen Schreibtisch. Nichts mit der zusammengewürfelten Familie, die ihre Habseligkeiten kurz zwischenlagert und wieder in Kartons verschließt. Mit einer Aufschrift von unbekannter Hand. In einem Haus, das nach so vielen Jahren und Geburten eigentlich ein Zuhause sein sollte. Doch ich werde diese kleinen Momente vermissen. Das Durchstreifen des kleinen Wiesenabschnitts, eingezäunt von morschem Holz, das schon lange nur noch meine Zehen spürt. Und die Zähne des Rasenmähers. Bis der Lärm wieder mit einem vorbeirauschenden Auto verschwindet. Ich vermisse den Erdbeersaft, der auf meinen Fingerspitzen sitzt. Die erste und letzte Kirsche. Dieses kleine Stück Welt, das nur durch den kaputten Zaun mit dem erst seit einigen kurzen Jahren braun gestrichenen Haus und mit dem Rest, das sich noch Familie nennen möchte, verbunden ist. Ich vermisse diese von den anderen verlorenen und vergessenen Momente, die ich für mich gefunden und jedes Mal neu entdeckt habe.

Die Terrasse des neuen Hauses wird wieder voller Menschen sein. Voller lachender Gesichter. Voller Lagerfeuer, Blumentöpfe, gegessener Erdbeeren, Schüsseln voller Kirschen. Große Momente. Ohne echtes Leben.
FeelLetter ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Kleine Momente

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Momente Schreiberling 2 Sonstiges und Experimentelles 0 05.02.2011 21:11
Momente DarkAngel083 Gefühlte Momente und Emotionen 4 25.11.2010 18:46
Momente Frühjahr Gefühlte Momente und Emotionen 0 04.05.2009 03:09
Momente... Jeanny Gefühlte Momente und Emotionen 3 10.06.2007 22:10
Momente uninvited guest Düstere Welten und Abgründiges 10 25.04.2006 15:11


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.