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Alt 05.09.2020, 20:45   #1
männlich Epilog
 
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Standard Die Mauer

Die Mauer

Ich habe sie das erste Mal gesehen, als ich noch ein kleiner Junge war. Sie stand dort, wo die vertraut-geliebten Spielwiesen der Kindheit abrupt endeten und das Land über einige steile Klippen in den Ozean hinabfiel. Es war ein karges Land, der Wind umtoste seine unbewachsenen Berge, doch es gab dort immer etwas, das man auch als schön empfinden konnte, es gab Blumen und wunderbar grünes und duftendes Gras.

Beinahe scheint es mir, dass ich die Mauer viel bewusster wahrgenommen habe, als ich jünger war, obwohl ihre Funktion mir, anders als heute, viel weniger verständlich war. Man sagte mir von vielen Seiten, dass sie die Menschen davor schütze, die Klippen hinunterzustürzen, und das wäre auch glaubhaft gewesen, wären nicht dennoch immer wieder Spielgefährten oder andere Bekannte aus dem Umfeld meiner Wahrnehmung verschwunden, deren Schicksal ich mir nur zu gut ausmalen konnte.

Wenn ich sage, dass die Mauer mir früher bewusster sichtbar war, so mag das auch darin begründet sein, dass ich sie in ihrer Gesamtheit wahrgenommen habe, mit dem Land davor, dem Meer dahinter und dem Himmel über allem. Nun aber nimmt sie mein komplettes Blickfeld ein, weil ich mich ihr unmittelbar genähert habe. Ich spüre ihre rau verputzten Blöcke auf der Haut meines Gesichts, und in ihrem toten Winkel ist der Wind kaum noch zu spüren, während das Rauschen des jenseitigen Meeres nurmehr gedämpft die Stille auf dieser Seite erreicht.

Haushoch wölbt sich die Mauer über meinen Augen, und zu beiden Seiten hin erstreckt sie sich in Unermesslichkeit. Nur direkt vor mir öffnet sich in ihr ein winziger Spalt, durch den ich dennoch ohne Aussicht auf Erfolg versuche, in den unabsehbaren Abgrund zu starren, der dahinter gähnt.

Mittlerweile ist mir auch klarer geworden, warum seit je her immer wieder Menschen aus meinem Umfeld verschwunden sind: Sie achteten die Aufgabe der Mauer zu gering und haben sorglos die berechtigten Warnungen in den Wind geschlagen. Stattdessen machten sie sich ein Vergnügen daraus, auf deren oberster Begrenzung zu tanzen und ihr Schicksal geradezu herauszufordern.

Auch jetzt tun sie es, just in diesem Augenblick, und zwar in solchen Scharen, dass man kaum glauben kann, das liebgewonnene Land, an dem ich mich verzweifelt festhalte, könne so vieler seiner Kinder derart frag- und klaglos hergeben. Gerade läuft wieder einer auf die Mauer los, so dicht an meiner Position wie noch nie zuvor geschehen, in sorglosem Hochmut und den Blick voller Erwartung auf das Meer gerichtet. Deshalb beachtet er mich kaum, der ich als einziger noch die Bedeutung dieses Schutzwalls zu erkennen scheine.

Doch was nun geschieht, kann sich auf meinen Lippen kaum zu Sprache formen: Er übersteigt mit einem eher kleinen Schritt die Mauer und damit gleichsam meine Vorstellung – und ruft, da er mich doch im letzten Augenblick bemerkt, in deutlich hörbarem und leicht vergnügten Spott: „Hallo da unten, wie schmeckt denn der Staub?“, lacht – und ist verschwunden.

Wie merkwürdig mich dieser Ruf berührt …! Als dämmerte mir jetzt, da er gleich einem Lichtstrahl durch den Schatten dringt, auf einmal mein tatsächliches Befinden. Ahnungsvoll und noch mit Zögern löst mein Mund sich vom Geschmack der Erde, wenden meine Augen sich vom Bild der Mauer ab, und in Versammlung aller Kräfte, die mir blieben, richte ich mich mühsam auf. Und stehe derart hoch über der Mauer, dass kaum mein Fuß an ihre Krone rührt.

Aufgerichtet zu meiner wahren Größe, vermag ich auch die Mauer in der ihren zu erkennen: Sie ist ein Bordstein, welcher zwischen Haus und Straße steht. Und der Abgrund in ihrem Rücken – die erste Stufe einer Treppe nur, die herabzusteigen mich selbst erhöht.

Somit nicht länger dem Gebot der Mauer unterworfen, nicht mehr erniedrigt freien Willens auf das Maß ihrer Gestalt, ist es nur ein müheloser Schritt noch, und ich stehe über diesen Dingen. Und ahne mit sprachloser Freude, dass es mir letztlich doch noch möglich sein soll, den salzigen Seewind zu spüren, das seidige Rinnen des Sandes, und den verlockenden Atem der Brandung.
Epilog ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.09.2020, 15:25   #2
weiblich Mohrel
 
Benutzerbild von Mohrel
 
Dabei seit: 11/2018
Beiträge: 670


Standard Sehr schön!

Wie mühelos sich verstaubte Ansichten und Widerstände auflösen, sobald man einen anderen Blickwinkel einnimmt!
Oder:
Man sieht eben doch immer nur das, was man zu sehen bereit ist.
😁

Liebe Grüße
Mohrel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.09.2020, 20:12   #3
männlich Epilog
 
Dabei seit: 10/2019
Ort: in den Wolken
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Beiträge: 525


Standard Danke, liebe Mohrel

ich fürchte bloß, im wirklichen Leben (nicht in der Poesie) hänge ich immer noch (halb) an der Mauer fest - und das wird sich wohl auch nicht mehr ändern, in meinem Alter

Einen schönen Abend wünscht

Epilog
Epilog ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.09.2020, 21:55   #4
weiblich Mohrel
 
Benutzerbild von Mohrel
 
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Beiträge: 670


Standard Mimimi...

...ich denke nicht, dass das an dem Alter liegt! 😜
Mohrel ist offline   Mit Zitat antworten
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