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Alt 02.02.2022, 20:25   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Puppe

Nichts hatte sich geändert: Der Druck auf Ludwig Erhard, das Kanzleramt zu räumen, wuchs von Tag zu Tag; die Sport-Journalisten debattierten weiterhin, ob der Ball vor oder hinter der Linie des Wembley-Tors aufgeschlagen war, und der Große Vorsitzende kündigte die Kulturrevolution an. Cornelia wechselte das Programm. Schon wieder eine Dokumentation über die Nationalsozialisten. KZ Bergen-Belsen, Auffanglager für Häftlinge und sogenannte „Austauschjuden“. Nichts, wonach ihr nach einem anstrengenden Tag im Büro der Sinn stand. Sie sah ins Programmheft, suchte nach etwas, wobei sie sich hätte entspannen können, aber vergeblich. „Dann eben nicht.“ Resigniert erhob sie sich von der Couch, um das Fernsehgerät abzuschalten

Gerade als sie die Aus-Taste drücken wollte, erschien auf dem Bildschirm ein kleines Mädchen, das eine Puppe im Arm hielt und neugierig auf die Kamera zuging. Die Puppe trug ein helles Rüschenkleid und hatte dicke, dunkle Zöpfe. So etwas Teures besaßen damals nur Kinder gutsituierter Leute, und Cornelia wunderte sich, dass man dem Mädchen im KZ die Puppe gelassen hatte. Sie vergaß, dass sie das Gerät abschalten wollte, denn etwas an der Szene verursachte ihr Unbehagen. Gebannt schaute sie weiter zu.

Das Mädchen ging noch näher in Richtung der Kamera, zuckte aber plötzlich zurück, als sei es vor etwas erschrocken, und ließ die Puppe fallen. Ein junger Häftling kam herbei und hob sie auf. Als er sie dem Mädchen reichen wollte, trat ein Mann in Uniform ins Bild, nahm sie ihm mit einem Ruck ab und ging damit fort. Das Mädchen brach in Tränen aus. Eine Frau eilte herbei und nahm die Kleine auf den Arm, um sie zu trösten. Auf der linken Seite ihrer Wolljacke trug sie einen aufgenähten Stern.

Die Szene hatte nicht mehr als zehn Sekunden gedauert, doch das hatte Cornelia genügt, um jedes Detail aufzunehmen. Wie konnte, was sie erkannt zu haben glaubte, wirklich sein?

Sie ließ die Dokumentation weiterlaufen, obwohl sie nicht damit rechnen konnte, die Puppe nochmal zu Gesicht zu bekommen. Was sie gesehen hatte, war lediglich eine Momentaufnahme gewesen, die unter den Schneidetisch hätte fallen können, ohne dem Film zu schaden. Als er zu Ende war, ging sie wie in Trance ins Schlafzimmer. Auf der Tagesdecke des Messingbetts saß eine Puppe in einem schneeweißen Rüschenkleid. Cornelia nahm sie hoch und musterte sie Detail für Detail. Sie hatte die gleiche Größe und die gleichen dicken, dunklen Zöpfe wie die Puppe des kleinen Mädchens in der Dokumentation, und ihr Kleid hatte die gleichen Puffärmel und Spitzensäume.

In Cornelias Kopf begann es zu arbeiten. Konrad, ihr Vater, hatte ihr die Puppe zu ihrem fünften Geburtstag mitgebracht, nicht auf den Tag genau, sondern am Samstag danach, denn er kam nur am den Wochenenden nach Hause. Cornelia hatte nicht verstanden, was Konrad beruflich tat und weshalb er werktags woanders übernachtete. Er habe mit Pferden zu tun, antwortete er, wenn er danach gefragt wurde, sprach darüber aber nicht mehr, als ihm nötig dünkte.

Damals, 1943, wohnte die Familie nicht weit entfernt vom KZ Bergen-Belsen, in der Provinz Hannover, wie der Landesteil damals hieß. Aber weder Konrad noch Gertrud, Cornelias Mutter, hatten jemals den Namen des Lagers erwähnt. Cornelia war fünfundzwanzig, als sie zum ersten Mal davon hörte und die Bilder aus anderen KZ sah, in denen Bulldozer Berge dürrer Leichen in Massengräber schoben.

Konrad hatte die Puppe nicht in Geschenkpapier eingewickelt, sondern sie Cornelia einfach in die Arme gedrückt. „Das ist jetzt dein Kind, auf das du gut aufpassen musst.“

„Aber sie ist dreckig“, hatte Cornelia erwidert.

„Sie hat unterwegs ein wenig gelitten, aber Mama richtet sie wieder her, und dann ist sie die schönste Puppe auf der ganzen Welt.“ Er hatte Cornelia mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze gestupst. „Sie braucht einen Namen. Den kannst nur du ihr geben.“

Cornelia hatte kurz überlegt: „Sabine.“

Konrad hatte genickt und gelächelt: „Das klingt hübsch.“

Gertrud hatte Sabines Kleid in Sil getaucht, bis es in fleckfreiem Weiß erstrahlte, ihre verfilzten Haare gelöst und die Zöpfe ordentlich geflochten. Tatsächlich konnte keines der Mädchen in der Nachbarschaft eine Puppe vorweisen, die sich mit Sabine nach dieser Runderneuerung hätte messen können.

Cornelia setzte die Puppe auf die Tagesdecke zurück, ging ins Wohnzimmer und wählte die Nummer ihrer Eltern. Gertrud nahm ab. Sonntag? Ja, sie freue sich riesig auf Cornelias Besuch.

Als sie ihre Tochter in der Tür stehen sah, Sabine im Arm, verzog sie belustigt den Mund: „Bist du dafür nicht ein bisschen zu groß?“ Doch ihr Lächeln wich, als sie den Ernst in Cornelias Augen sah, deren Braun sich in Anthrazit verwandelt hatte. „Ist etwas passiert?“

Cornelia betrat das Haus. „Wo ist Papa?“

Er saß in seinem Büro, seine Brille mit den dicken Gläsern auf der Nase, und trug Zahlen in eine Kladde ein. Heimarbeit für Stankowski, dessen Gestüt er verwaltete.

„Wen bringst du denn heute mit, Kind?“

„Sabine. Du kennst doch noch Sabine?“

Konrad nickte und legte seinen Kugelschreiber beiseite. „Habe mich immer gewundert, dass du sie so lange aufgehoben hast.“

„Sie war mir lieb und teuer. Ein Geschenk von dir.“

„Zu deinem vierten Geburtstag.“

„Dem fünften. 1943."

Konrad hob die Augenbrauen. „Erstaunlich, dein Gedächtnis.“

„Es wurde gerade aufgefrischt.“ Sie trat näher an Konrad heran und hielt ihm Sabine vor das Gesicht. „Woher stammt die Puppe? Sie war nicht neu, als du mir ihr nach Hause kamst. Wem hat sie gehört?“

Konrad war irritiert. „Das … das hast du nie gefragt. Was spielt das für eine Rolle?“

Gertrud hatte von der Bürotür aus zugehört und trat jetzt dazwischen. „Was soll das, Cornelia? Wie redest du mit deinem Vater?“

Cornelia ignorierte sie. Sie ließ Konrad nicht aus den Augen. „1943 warst du noch nicht beim Stankowski. Du warst im KZ Bergen-Belsen.“

„Bergen-Belsen?“

Cornelia ließ sich nicht beeindrucken. „Was hast du dort gemacht?“

Konrad fuhr mit einer Hand unter den Hemdkragen und rieb sich den Nacken. „Dort brauchten sie auch Pferde. Ich war Stankowskis Verbindungsmann.“

„Blödsinn! Bei der Armee brauchten sie Pferde, aber nicht in Bergen-Belsen, um Menschen, die sich kaum auf den Beinen halten konnten, zum Appell antreten zu lassen.“

Er sprang von seinem Stuhl auf. „Was willst du von mir? Nimmst du mich ins Kreuzverhör? Bist du auch so ein satter Wirtschaftswunder-Trittbrettfahrer, der keine anderen Sorgen kennt, als unserer Generation Rechnungen zur präsentieren für einen Scheiß-Handel, den wir uns nicht ausgesucht hatten?“ Er fuchtelte Cornelia mit dem Zeigefinger vor der Nase herum. „So nicht mit mir, Mädel! Wir haben für diese Scheiße bezahlt. Nicht alle, aber die meisten. Zur Front hatte ich mich gemeldet, Ende 1944, um nicht mehr im Lager Dienst tun zu müssen. Obwohl ich bis dahin wegen meiner Kurzsichtigkeit nicht genommen wurde. Aber zuletzt brauchten sie jeden … jeden!“ Erschöpft ließ er sich auf seinen Stuhl nieder. „Ich hätte auf draufgehen können. Du hast ja keine Ahnung, wie es damals war.“

Einen Moment lang war Cornelia beeindruckt. Sie konnte sich durchaus vorstellen, wie es damals war und dass man sich mit Gegebenheiten „arrangierte“, die man selbst unter Einsatz seines Lebens nicht hätte ändern können.

Aber ihr Fall war anders.

„Papa, da war ein kleines Mädchen, ungefähr so alt wie ich damals. Im KZ Bergen-Belsen. In einem grauen Mantel. Mit einer Puppe im Arm. So eine wie Sabine, mit weißem Kleid und dunklen Zöpfen. Das Mädchen ließ die Puppe fallen, und das Kleid wurde schmutzig. Als ein Mitgefangener ihr die Puppe aufgehoben hatte, riss ein Mann in Uniform sie ihm weg. Dieser Mann nahm die Puppe mit nach Hause und schenkte sie seiner Tochter zum fünften Geburtstag.“

„Woher weißt du das?“ Konrads Stimme klang heiser. „Das … das ist ja gespenstisch …“

„Warum du, Papa? Warum hast du die Puppe genommen?“

Konrad zuckte mit den Schultern hin und her, als seien sie auf Berg- und Talfahrt. Dabei zog er eine Grimasse. „Wenn ich sie nicht genommen hätte, dann ein anderer.“

„Die übliche Ausrede.“

„Nicht ganz. Niemand hatte Interesse an Kinderspielzeug. Der Kommandant hatte keine Familie. Und wir anderen … Wir waren noch jung …“

„Deshalb hatten sie der Kleinen die Puppe gelassen. Außer dir … denn du hattest Familie. Sie hatten dem Mädchen die Puppe gelassen, aber du hast sie genommen!“

Cornelia legte Sabine in Konrads Schoß. „Finde das Mädchen und gib ihm die Puppe zurück.“

Konrad heulte auf. „Wie soll ich das machen? Nach so langer Zeit. Vielleicht lebt dieses Mädchen nicht mehr.“

„Finde es raus!“

„Nach all den Jahren? Bist du verrückt?“

Cornelia schwieg.

„Ich bin doch dein Vater!“

Sie sah ihn so eisig an, wie ihr möglich war, um ihre Tränenen zurückzuhalten: „Nie im Leben hat mir etwas mehr wehgetan.“
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.02.2022, 08:13   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
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Von dieser Geschichte bin ich sehr beeindruckt. In einem Rutsch durchgelesen. Guter Spannungsbogen und viel Stoff zum Nachdenken.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.02.2022, 12:08   #3
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka,
eine sehr beeindruckende Geschichte, die einmal mehr beweist, dass uns Geschehenes, sei es gut oder böse, irgendwann einholt.

Bitte berichtige in dem Satz "„Woher weißt du das?“ Konrads Stimme klang heißer." das Wort "heißer".

Gestutzt habe ich bei dem Gebrauch der Fernbedienung und der Beschreibung der Mädchenbekleidung. Um der Stimmigkeit willen, überprüf bitte die zeitliche Einordnung (Ludwig Erhards Kanzlerschaft - Einführung der Fernbedienung für TV-Geräte - Einführung des Farbfernsehens). Ich glaube da Unstimmigkeiten zu entdecken.
1963 - 1966 war E. Bundeskanzler. Gab es da schon Fernbedienungen?
1967 - ich war Augenzeuge - drückte Willy Brandt auf einen roten Knopf (eine Atrappe) und wir hatten Farb-TV-
In der Geschichte wird der Eindruck vermittelt, dass das TV schon farbige Bilder sendete (ein gelber Stern an der Kleidung des kleinen Mädchens wird erwähnt).

Ich betone, dass die geschriebene Geschichte mich sehr beeindruckt hat und meine Krittelei zur Optimierung beitragen soll.

Liebe Grüße,
Heinz

PS.
Nicht versäumen möchte ich zu bemerken, dass es sehr erholsam war (blödes Wort im Zusammenhang mit dem Inhalt der Geschichte), einen verständlichen, gleichwohl spannenden Text zu lesen.
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.02.2022, 12:20   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
1963 - 1966 war E. Bundeskanzler. Gab es da schon Fernbedienungen?
1967 - ich war Augenzeuge - drückte Willy Brandt auf einen roten Knopf (eine Atrappe) und wir hatten Farb-TV
Guten Morgen, Heinz,

du liegst richtig: Farb-TV gibt es seit 1967, das erste Gerät in meiner Familie hatte mein Patenonkel, das war 1969. Ich erinnere mich deshalb, weil damals die Serie "Lederstrumpf" lief, als ich zu Besuch bei ihm war.

Deshalb hatte ich das Kleid der Puppe als "hell" beschrieben, aber mit dem gelben Stern hast du mich erwischt. Allerdings weiß jeder auch bei einem Schwarzweiß-Bild, dass der Judenstern gelb war. Ich habe jedoch die Fabe aus der Geschichte rausgenommen, um Irritationen zu vermeiden.

Fernbedienung gibt es seit den 50ern, hatten die meisten Haushalte aber noch nicht. Habe ich deshalb ebenfalls rausgenommen.

Aufmerksame Leser wie dich kann man gebrauchen. Leider habe ich in meinem Umfeld niemanden, der dafür in Frage käme.
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