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Alt 16.01.2022, 00:20   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Leopardin

Hilmar ging die Frau nicht mehr aus dem Kopf. Dabei hatte er nach dem Drama mit Sibilla, das ihn beinahe an den Rand seiner Existenz gebracht hatte, jegliche Begeisterung für das andere Geschlecht in die arktischen Gletscher seiner Gefühlswelt gestoßen. Mit vierundfünfzig Jahren war er zwar noch schlank und rüstig, was er seinem Faible für das Tennisspielen und Wandern verdankte, und er hatte nach wie vor volles, nur an den Schläfen ergrautes Haar und hätte locker als Endvierziger durchgehen können; aber seine Spannkraft war nicht mehr die eines Zwanzigjährigen. Er konnte und wollte kein zweites Mal riskieren, sich sein Lebenswerk verpfuschen zu lassen und nochmal von vorn anfangen zu müssen, denn das wäre physisch und psychisch über seine Kräfte gegangen.

Fünf Jahre und vier Monate lang war er imstande gewesen, Annäherungsversuchen von Frauen zu widerstehen. Es war ihm nicht schwergefallen, denn die meisten von ihnen waren keineswegs Singles, sondern liiert oder verheiratet und hatten größtenteils sogar Kinder. Sie erzählten ihm von ihren Frustrationen oder gaben freimütig zu, „mehr zu brauchen“, als ihr beziehungsmüde gewordenen Ehepartner noch zu bieten hatten, was Hilmar jedoch nur in seiner schlechten Meinung über die Frauen bestärkte: Sie waren Monster, denen man besser aus Weg ging.

Aber unversehens war ihm eine Frau über den Weg gelaufen, die an seinen Gedanken nagte, so dass er Schwierigkeiten hatte, sich auf sein gewohntes Leben zu konzentrieren. Gestern war im passiert, dass er nach dem Auftanken seines Toyota vergaß, den Tankverschluss, den er auf dem Kofferraumdeckel abgelegt hatte, wieder aufzuschrauben, weil er in Trance davongefahren war. Er wusste nicht einmal mehr, wieviel Liter Sprit er getankt hatte. Der Tankverschluss war während der Fahrt glücklicherweise liegengeblieben, und die Spritmenge ließ sich anhand des Kassenzettels nachträglich ermitteln. Aber dieser glimpfliche Ausgang änderte nichts an der Erkenntnis, dass es um seinen Geisteszustand nicht gut stand.

Sie war ihm im Supermarkt nachgelaufen, die Frau im Mantel mit dem Leopardenmuster, um ihm den Stoffbeutel zu geben, den er sich unter den Arm geklemmt, aber während seines Raubzugs verloren hatte. „Ich glaube, der gehört ihnen.“ Obwohl ihr Gesicht von den Augen bis unter das Kinn hinter einer Anti-Infektionsmaske verborgen war, klang ihre Stimme wie von einer himmlischen Poesie gefärbt, und sie schlug in ihm bislang ungehörte Weisen an. Ihm hatte mal jemand einreden wollen, dass man sich in eine Stimme verlieben könne, aber da hatte er abgewunken und es als spinnerte Theorie abgetan. Aber jetzt waren seine Ohren von einer Musik erfüllt, wie sie Beethoven nicht genialer hätte hervorbringen können.

Die Frau im Leopardenmantel kam nach ihm aus dem Supermarkt, schob ihren Caddy vor sich her und nahm dabei die Maske ab. Ihr federleichter Gang und ihre anmutigen Bewegungen gefielen Hilmar. Was er sonst noch sah, ebenfalls. Er schätze sie um die vierzig. Sie war hübsch, ein bisschen zu stark geschminkt, was er bei einer Frau ihres Altes im Kampf um den restlichen Schmelz ihrer verblühenden Jugend jedoch verzeihlich fand.

Er beobachtete sie, wie sie ihren Einkauf im Kofferraum eines Peugeot verstaute, den Caddy zum Sammelplatz zurückbrachte, sich in das Auto setzte und davonfuhr. Warum hatte er sie nicht angesprochen und weiter in Plauderei verwickelt? Warum hatte er das Gefühl, eine Chance nicht wahrgenommen zu haben, die er eigentlich gar nicht haben wollte? Was passierte mit ihm, dass er sie seit dieser Begegnung wie eine Schleife durch seinen Kopf achtern ließ?

Um seinen Frieden zu finden, sah er sich gezwungen, zu handeln. Er rief die Anzeigenabteilung der Lokalzeitung an und diktierte der Mitarbeiterin seinen Text für die Rubrik „Er sucht Sie“: „Freitag, 15.11., 14.45 h, Supermarkt-Ind.-Ztrm., Leo-Mantel. Bitte mld.“.

„Kontaktdaten?“

Hilmar überlegte kurz, entschied sich für seine E-Mail-Adresse und zahlte für vier Wochen in der Mittwochs- und Samstagsausgabe.

Drei Monate lang tat sich nichts.

Zwischendurch hatte die Mitarbeiterin der Zeitung bei Hilmar angefragt, ob er seine Anzeige frischhalten wolle, und um sich nicht weiter um die Sache kümmern zu müssen, gab er sie in Dauerauftrag.

Ein halbes Jahr später bekam er Nachricht. „Ich bin die Alex und wahrscheinlich die Frau, die du suchst.“

Hilmar war aus dem Häuschen. In diesem Moment war ihm egal, ob diese Frau Single oder gebunden war, Kinder hatte oder nicht, vielleicht nur ein Abenteuer oder die Liebe suchte. Er schrieb zurück und verabredete sich mit ihr.

Obwohl Frühling war, trug sie den Wintermantel im Leoparden-Look. Sie hatten es so abgesprochen, damit er sie erkennen konnte, vor dem Café, in dem er einen Tisch reserviert hatte.

Nur … sie war es nicht.

Vor ihm stand eine völlig andere, als er in Erinnerung hatte. Sie hatte nicht die langen, rotbraunen Haare, sondern einen blonden Kurzhaarschnitt, war blass und ungeschminkt und, wenn auch nicht dick, so doch etwas fülliger. Und sie hatte eine dunkle, etwas raue Stimme.

Er verbarg seine Enttäuschung und ließ Alexandra im Glauben, alles liefe wie geplant. „Warum hast du dich erst jetzt gemeldet?“, fragte er sie, während sie heiße Schokolade tranken.

„Zufall“, erwiderte sie. „Ich war auf dem Wochenmarkt, da wickelte mir die Frau vom Gemüsestand den Salat in ein paar Seiten der Lokalzeitung. Zu Hause, beim Auspacken, sprang mir deine Anzeige förmlich in die Pupillen. Nach vielen Monaten. Aber ich erinnerte mich an dich, und da dachte ich: Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

„Und sonst?“, traute er sich zu fragen. Sie lächelte. „Nichts sonst. Ich bin frei. Geschieden. Meine beiden Söhne leben bei ihrem Vater. Mein Ex ist von uns beiden immer die bessere Glucke gewesen. Verkehrte Welt … Und du?“

„Beziehungsgefleddert, zwischendurch blank, aber einigermaßen wiederhergestellt.“

Sie gingen nicht näher auf ihre Vergangenheit ein, sondern forschten ihre gegenseitigen Interessen aus. So plauderten sie drei Stunden lang, und Hilmar stellte fest, dass er sich in Alexandras Gesellschaft wohl fühlte. Als sie sich trennten, bat er sie um ein Wiedertreffen, und sie willigte ein.

Von da an gingen sie regelmäßig zusammen aus. Es dauerte nicht lange, bis sie sich zum ersten Mal küssten und beschlossen, es miteinander zu versuchen. Sie verlebten einen heißen, aber wundervollen Sommer, verbrachten ein paar Tage in Venedig, debattierten über Politik und die Verbesserung der Welt, wählten im September unterschiedliche Parteien und entschieden, sich zu Weihnachten keine Geschenke zu machen.

Hilmar hatte Frieden mit seinem Schicksal geschlossen, als er drei Tage vor Silvester eine E-Mail mit dem Betreff: „Deine Anzeige …“ erhielt. Himmel! Er hatte vergessen, den Dauerauftrag bei der Zeitung zu kündigen. marion.nst@gmail.de … Neugierig klickte er die Nachricht auf. „Hatte mich leider nicht getraut, eher auf deine Anzeige zu antworten. Aber wenn du noch Interesse hast …“.

Sie hatte die Nummer ihres Mobilphones angegeben. Zwei Tage lang widerstand Hilmar der Versuchung, ehe er die Nummer tippte und gespannt darauf wartete, ob er die Stimme zu hören bekam, in die er sich vor Monaten verliebt hatte.

„Hallo?“ Sie war es! Hilmar wurde augenblicklich klar, dass er diese Frau wiedersehen musste.

Sie trafen sich vor der Badischen Weinstube in der Altstadt, und Hilmar war von Marions Anblick hingerissen. Sie hatte die rotbraunen Haare aufgesteckt, aber ein paar Locken auf den Kragen ihres leopardenbedruckten Mantels fließen lassen. Ihre Augen waren mit grünem Lidschatten betont, und ihre Lippen glänzten im Farbton ihrer Haare.

Das gnadenlose Licht der Straßenlaterne legte die tiefen Falten unter ihren Augen bloß.

Das erste, was Hilmar auffiel, war, dass sie ihren Wein wegkippte wie Leitungswasser. „Weißt du, wie es ist, wenn man allein in Urlaub fährt und auf jeder Promenade Paaren begegnet, die sich an den Händen halten? Wenn man seinen Geburtstag allein verbringt? Dann Weihnachten und danach Silvester?“

Hilmar nickte verständnisvoll, fühlte sich aber unbehaglich.

„Dabei ist alles nur Getue“, fuhr Marion fort. „In Wahrheit tragen sie alle Schlagringe um sämtliche Finger, um sie ihrem Gespons bei der nächsten Gelegenheit in die Fresse zu hauen.“ Sie schnippte die Bedienung herbei und bestellte ihren vierten Württemberger. „Ich kenne das alles lange genug, aber trotzdem habe ich es satt, diesen Silvester wieder wie ein Zombie zu Hause zu sitzen, während um mich herum die Menschheit außer Rand und Band darüber gerät, dass sich die Erde noch dreht.“ Sie trank ihr Glas in einem Zug aus und stellte es dermaßen hart auf den Tisch, dass es zerbrach. „Kannst du das verstehen?“

Obwohl Hilmar wieder nicken wollte, um sie nicht zu provozieren, schüttelte er automatisch den Kopf. Marion war es nicht entgangen. „Du bist hoffentlich nicht auch so ein Arsch wie die meisten Männer. Obwohl du einen handzahmen Eindruck machst.“ Weil ihr Glas leer war, nahm sie seins und trank es leer. „Das dachte ich aber oft genug von den Kerlen und landete jedes Mal in der Scheiße. Mal sehen, ob ich mit dir das Rummelplatzlos gewinne oder wieder ins Klo greife.“

Die Bedienung stellte Marion das fünfte Glas Württemberger hin und kehrte die Glasscherben mit einem Tischbesen zusammen. Sie schenkte Hilmar einen Seitenblick. „Alles in Ordnung?“

„Bringen Sie mir einen Cognac und dann die Rechnung. Und setzen sie die Taxikosten für die Dame mit drauf.“ Er legte ihr hundert Euro und noch einen Fünfziger hin. „Nehmen Sie davon Ihr Trinkgeld. Wieviel, ist mir egal.“

Er kippte den Cognac und flüchtete aus der Weinstube in der festen Absicht, sich dort nie wieder blicken zu lassen.

Am nächsten Morgen stand er um fünf Uhr auf, brühte sich eine halbe Kanne Kaffee und startete seinen Laptop. Viertel nach acht rief er Alexandra an. „Koffer packen! Wir hauen ab.“

Sie klang verschlafen. „Wovon redest du?“

„Von Silvester in New York. Online gebucht.-Doppelzimmer im Waldorf Astoria mit Silvesterparty im Grand Ball Room.“

„Bist du übergeschnappt?“

„Der Flieger geht in drei Stunden, also pack ein paar Sachen ein. Ich hole dich in einer Stunde ab.“

„Sag mal …“

Er legte auf, um ihren Protest abzuwürgen, aber dann wurde ihm bewusst dass er ihr das Wesentliche nicht gesagt hatte. Er rief sie nochmal an und sprach die Worte, von denen er geglaubt hatte, sie nie wieder einer Frau sagen zu würden: „Ich liebe dich.“

15.01.2022
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Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
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