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Alt 12.01.2022, 23:06   #1
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Standard Fliegenfritze: 2. Goldgelb

„Lass mich endlich raus!“ Fliegenfritze hatte zwei Tage lang gebettelt, ehe sich seine Mutter erweichen ließ und die Pforte des Korallenriffs freigab. „Aber dass du mir nicht wieder zu weit rausschwimmst. Und schon gar nicht bis in Connys Bucht. Versprich es!“

„Versprochen, Mama.“ Endlich draußen, fächerte Fliegenfritze seine Flossen auf und überprüfte sie auf Geländetauglichkeit. Dann düste er mit der Geschwindigkeit eines atomkraftbetriebenen U-Bootes durch das Wasser, zielgerade in Richtung der Bucht, wo die Pflanzen die üppigsten Blüten trieben und die fettesten Insekten Nektar aus ihnen sogen. Conny hin, Conny her …

Doch er kam nicht weit. Vor dem benachbarten Riff sah er sich zu einer Bremsung genötigt, die ihm zu Lande einen Großteil seiner Bauchschuppen gekostet und ihn zum Gespött seiner Geschwister gemacht hätte. Dort schwamm in engen Kreisen ein goldgelbes, schlankes Fischlein umher, das einen zarten, in Orangetönen schillernden Schleierschwanz hinter sich herzog.

Fliegenfritze war perplex und vergaß beinahe, mit seinen Kiemen weiter Luft zu holen. Vorsichtig pirschte er sich an das junge Ding heran und sah ihm in die honigfarbenen Augen, die von blauen Ringen umfasst waren. „Ich bin der Fritz. Von nebenan. Und du?“

„Ich nicht“, antwortete Goldgelb und begann ihre nächste Runde. Fliegenfritze schwamm ihr nach. „Ich meinte, wie du heißt.“

„Was geht’s dich an?“

„Nichts. Ich hätt’s aber trotzdem gern gewusst.“

„Warum?“

„Weil du mir gefällst.“

„Na und?“ Sie machte auf ihrer Schleife abrupt kehrt, so dass Fliegenfritze einen Moment lang allein war und wieder zu ihr aufholen musste.

„Bist du bei jedem so schnippisch?“

„Nicht bei jedem.“

„Aber bei mir. Was hab‘ ich denn falsch gemacht?“

„Nix. Das ist es eben. Du bist genauso langweilig wie alle anderen Fische weit und breit.“

Fliegenfritze sah sich herausgefordert. „Also gut, Schleierschwanz, dann eine andere Frage: Hast du heute schon gefrühstückt? Und wenn ja, was? Ein bisschen Plankton, ein oder zwei dürre Wasserspinnen, ein paar Pollen von einem dieser Sträucher, die müde am Ufer herumstehen? Soll ich dir mal zeigen, wie ein richtiges Frühstück aussieht?“

„Ausgerechnet du …“. Goldgelb hob die Schnute in die Höhe, machte die Kehre und begann ihre neue Runde. Doch Fliegenfritze ließ sich nicht abschütteln. „Die meisten Käfer schmecken nussig, die Schmetterlinge eher herb. Die wahren Delikatessen sind die Libellen. Die sind nicht nur fett im Fleisch, sondern schmecken je nach Typ einfach herrlich. Die grünen …“

Goldgelb hielt einen Moment inne und schaute Fliegenfritze spöttisch an. „Für wie blöd hältst du mich, du Märchenonkel. Hier gibt‘s keine Libellen.“

„Hier nicht. Ich weiß aber, wo.“

„Im ernst?“

„Komm mit, Schleierschwanz, ich zeig’s dir!“ In kräftigen Stößen schwamm er davon, ohne sich umzublicken. Er war sich seiner Sache sicher. Erst in Connys Bucht hielt er nach Goldgelb Ausschau, und wie er vermutet hatte, war sie ihm gefolgt und hob ihre Augen nur wenige Sekunden nach ihm an die Wasseroberfläche. Über ihr brummte die Luft vor Insekten aller Art und Größe.

„So macht man das!“ Fliegenfritze sprang und schnappte sich eine fette Fliege. „Hier, für dich.“ Er hielt Goldgelb das zappelnde und summende Ungeheuer vor die Lippen, und sie biss reflexartig zu. „Und die hier, eine grüne.“ Diesmal war es eine Libelle. „Die schmeckt ein bisschen herb. Vielleicht kommt noch eine von den blauen vorbei, die sind milder und süßer.“

Goldgelb war mit der grünen Libelle vollauf zufrieden. „Wahnsinn! So etwas gibt’s bei uns nicht. Das muss ich zu Hause erzählen.“

„Bloß nicht! Mein letzter Ausflug hierher hatte mir zwei Tage Arrest im Korallenverlies eingebracht. Die Alten haben es nicht gerne, dass wir uns in Connys Bucht herumtreiben.“

„Wer ist Conny?“

„Na … der da!“ Aufgeregt baute sich Fliegenfritze vor dem Krokodil auf, das sich ihnen lautlos genähert hatte, und fächerte seine Flossen auf, so gut er konnte. „Bleib nur eng hinter mir, dann passiert dir nichts.“ Er fühlte Goldgelbs schlanken Körper an seiner Schwanzflosse, und unter anderen Umständen wäre ihm dieses Gefühl der Himmel im Meer gewesen.

Aber wie die Dinge jetzt standen, war an Romantik nicht zu denken. Conny hatte Fliegenfritze mit seinen typisch ausdruckslosen Augen ins Visier genommen, und augenblicklich wurde dem schuppigen Wagehals seine kolossale Lächerlichkeit bewusst.

Der Weg aus der Bucht war verstellt. Fliegenfritze kannte die Schnelligkeit eines Krokodils und wusste, dass er nicht flink genug schwimmen konnte, um ihm zu entkommen. Außerdem musste er Goldgelb beschützen, die er in diese Misere gelockt hatte. Er konnte nur noch auf Intelligenz und Finte setzen.

„Du bist heute aber früh unterwegs, Conny“, begann er zu verhandeln. Der Kroko ließ sich nicht beeindrucken und schwamm weiter auf ihn zu. Fliegenfritze blubberte um sein Leben. „Wie die Ani. Die hab ich vorhin getroffen, als sie sich eins von den Wasserschweinen ausgeguckt hat.“

Connys Augen bekamen einen seidigen Glanz. „Wasserschweine? Wo?“

„Eine ganze Herde. Omas, Opas, Junge … alles leichte Beute. Die Ani hatte echt die Qual der Wahl. Schwimm raus aus der Bucht und rechts am Ufer entlang, dann kannst sie nicht verfehlen. Aber dass du mir die Ani in Ruhe lässt, solange sie verdaut!“

„Ehrensache!“ Schon stieß Conny aus seiner Bucht, von den Nüstern bis zum Schwanz auf die Jagd nach Wasserschweinen geimpft.

„Wer ist die Ani?“ Goldgelb hatte sich neben Fliegenfritze getraut und Conny hinterhergesehen. Er nahm die Gelegenheit wahr, sie zu küssen. „Das willst du nicht wissen, Schleierschwänzlein.“

Sie zuckte ein wenig zurück. „War das jetzt ein Antrag?“

Fliegenfritze kreiste um sie herum. „Hm … ja. Eigentlich schon. In meinem Alter … Ich meine nur mal ... Und wenn du auch willst …“ Er schaute sich kurz um. „Reinwasser! Lass uns abhauen!“
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