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Alt 25.10.2011, 20:12   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Beiträge: 31.043


Standard Kino!

Die Leidenschaft für bewegte Bilder vermachte mir meine Großmutter. Ich war zwischen drei und vier Jahre alt, als sie damit begann, mich in Kindervorstellungen zu führen. Sie fanden regelmäßig um elf Uhr vormittags in demselben Kino statt, dauerten eine Stunde, manchmal auch ein bißchen länger, aber zum Mittagessen waren wir pünktlich zu Hause. Meistens gab es mitgefilmtes Kasperletheater oder gespielte Märchen, von denen mir „Rotkäppchen“ und „Die Heinzelmännchen“ noch heute in lebhafter Erinnerung sind. Vor allem Rotkäppchens Rettung aus dem Bauch des bösen Wolfs hatte einen unauslöschlichen Eindruck bei mir hinterlassen.

Meine Sucht nach allem, was auf Zelluloid gebannt war, ging soweit, daß an manchen langweiligen Regentagen, wenn sich kein Kind der auf der Straße blicken ließ und meine Mutter große Wäsche hatte, ich mir einen Groschen erbettelte und zum Stadttheater lief, um mir die zehnminütige Wochenschau anzusehen. Das war in der Straße, in der wir wohnten, nur wenige Schritte weit, im Kleinen Saal in der oberen Etage. Was gezeigt wurde, war mir egal, aber der Anblick einer blumenbetupften Wiese, die sich vom Wind wiegen ließ, machte mich seelig. Hauptsache Film!

Einmal hatte ich den Bogen allerdings überspannt. Wieder war der Tag grau und regnerisch. Zu meiner großen Enttäuschung war der Kleine Saal geschlossen: Keine Wochenschau! Was tun? Kurzentschlossen trat ich den Weg in die Innenstadt an, Richtung Marktplatz, zum „Astor“. Das war eines der ältesten Kinos in unserer Stadt. An der Kasse belehrte mich eine freundliche Dame, der Hauptfilm liefe bereits seit einigen Minuten. Ich beharrte auf einer Eintrittskarte, belehrte aber nun meinerseits, es dürfe nur einen Groschen kosten, denn von dem Fünfzigpfennigstück, den meine Mutter mir gegeben hatte, müsse ich vier Groschen zurückbringen.

Ich bekam die Karte! Und die vier Groschen Rückgeld.

Während ich den dunklen Kinosaal betrat, sah ich als erstes Leinwandbild einen großen, schlanken Mann, der sich aus einem sehr flachen, roten Sportflitzer herausschälte. Schnell tauchte ich in das Geschehen ein und vergaß alles rings um mich. Als der Film aus war und ich auf die Straße trat, war es dunkle Nacht. Klar, das war eine Menge mehr gewesen als nur zehn Minuten. Ich sah im Geiste, wie meine Mutter mich in Panik überall suchte. Und ich fühlte meine eigene Panik, wenn sie erst einmal erfährt, was ich angestellt habe und mit welchen Konsequenzen ich zu rechnen habe.

Großmutter! Sie wohnte in der Innenstadt, gerade um die Ecke. Kaum hatte ich angeklopft und die ersten Worte gestammelt, war ihr die Situation klar: Ohne Schutzgeleit konnte ich zu Hause nicht auftauchen.

Also brachte mein Schutzengel mich nach Hause, legte auch dort noch die Fittiche um mich, und weil niemand meiner Großmutter weh tun wollte, kam auch ich ungeschoren davon. Das war allerdings kein Rezept für die Zukunft, wie Großmutter und ich später schmerzlich erfahren mußten: Eltern sind nicht ewig erpreßbar. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich wurde älter und entwickelte ein Faible für „Sandalen“-Filme. Herrlich, diese Muskelprotzen! Wie sie nicht nur mit dem Speer gleich drei Widersachen durchbohren, ihnen kein Felsstück zu schwer ist, sie mit Zerberus und Zentauren fertigwerden und ganz nebenbei auch noch in Ermangelung von Och und Pferd selbst den Pflug durch den Acker ziehen, um dann sich doch überreden zu lassen, die Schlacht um Marathon zu gewinnen – was für Männer!

Daneben gab es natürlich auch die ernsthaftere Gattung der Monumentalfilme, „Spartacus“ zum Beispiel.

Einmal war es mir gelungen, meine Großmutter – ich sag jetzt einfach mal „Oma“ – in solch einen Film hineinzumanövrieren. Das war nicht einfach gewesen, denn römische Rüstungen, Schwerter und Federbüsche waren nicht ihre Richtung. Sie wandte auch allerlei Strategien an, um ihrem Schicksal zu entrinnen. Ihr Haushaltsgeld sei eingeteilt, wandt sie ein, und ein Monumentalfilm zum Doppelpreis sei da nicht drin. „Aber du hast noch deine Sparbüchse,“ half ihr auf die Sprünge. Die holte sie notgedrungen, öffnete sie und kippte den Inhalt aus: ein Berg an Pfennigen. So etwas sammelte man damals eigentlich eher, um die Brautschuhe zu bezahlen!

Oma zählte – jeden Pfennig. Und so betont, als sei jeder Zähler ein Richterspruch. Ich weiß bis heute nicht, und ich werde es nie erfahren, ob das Schauspielerei war. Ob sie meine Geduld auf die Probe stellen wollte, um sich den Film nicht ansehen zu müssen, oder ob sie mit sich selbst rang, mir einfach ein „interessiert mich nicht“ vor die Stirn zu knallen. Sie zählte – und kam auf exakt drei D-Mark. Genau der Preis für die Kinokarte! Zufall?

Mein ausgesuchter Film war nicht Omas Genre. Sie liebte Dramen mit Zarah Leander, auch Heimatfilme oder Komödien, in denen gewitzelt, gesungen und getanzt wurde. Nach zwei Weltkriegen, elternlos seit dem fünfzehnten Lebensjahr und täglich harter Arbeit für das Auskommen, mochte sich niemand mit Problemen beladen. Das war mir damals nicht bewußt.

Aber sie tat mir den Gefallen. Es war nicht ihr Genre. Als der Film dem Ende zuging, als Sophia Loren auf dem Scheiterhaufen stand, der bereits entzündet war, als der Filmheld gegen den bösen Kaiser kämpfen mußte, der ihm als Hobby-Gladiator weit überlegen war, um seine Liebste im letzten Augenblick zu retten –
da hörte ich den Knipsverschluß meiner Oma’schen Handtasche und sah im Dunkel des Kinosaals das weiße Papiertaschentusch aufleuchten, mit dem sie sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Es war nicht ihre Welt.

Ich bin sicher, daß meine Oma nie mit „Ben Hur“ in Berührung kam. Dieser Film hätte ihr wahrscheinlich einen irreparablen Herzschaden zugefügt oder sie vielleicht getötet. Dann hätte ich nicht mehr die wundersame Rettung der Sophia Loren vom brennenden Scheiterhaufen mit ihr zusammen erleben können.

Inzwischen ist das „Kino“ härter geworden, und meine Erinnrungen mögen gestrig erscheinenen.

Trotzdem: Kino!

25. Oktober 2011
© Ilka-
M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.10.2011, 20:37   #2
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Ich bin eingetaucht!

Die wenigen Tippfehler zählen nicht.
Erinnerungen wurden wach, älter als Deine.

Thing
dankt!
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.10.2011, 23:06   #3
weiblich Lux
 
Benutzerbild von Lux
 
Dabei seit: 03/2010
Alter: 38
Beiträge: 839


Wunderschön, Ilka. Ich glaube, das Kino war damals für ein Kind viel spannender und einzigartiger als für ein Kind meiner Generation.
Auch wenn es für mich TV nur in kleinen Dosen gab.
Mein erster Film im Kino (auch mit Oma) war "Arielle, die Meerjungfrau". Oh, wie ich vor der bösen Ursula gezittert habe!
"Schneewittchen und die sieben Zwerge" brachte mich dazu, mich unterm Sitz zu verstecken. Man sieht: Ich bin die Disney-Generation.
Lux ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.10.2011, 17:53   #4
männlich Martin Laut
 
Benutzerbild von Martin Laut
 
Dabei seit: 04/2009
Alter: 33
Beiträge: 370


Zum grinsen schön, ich habe an einigen Stellen wirklich ein Breites im Gesicht gehabt.
Ich war lange nicht im Kino, wie mir während des Lesens auffiel. Vielleicht läuft momentan ja ein interessant klingender Film, Lust habe ich bekommen.
Martin Laut ist offline   Mit Zitat antworten
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