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Alt 03.05.2022, 14:02   #1
männlich Flocke
 
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Beiträge: 177


Standard Hexen in Jeans

„Wir haben beide frei. Es ist gutes Wetter; wir sollten für drei, vier Tage an die Nordsee fahren!“,
hatte meine Frau entschieden.

Dabei war ich höchst zufrieden mit dem bisherigen Ablauf unseres Urlaubs, die ersten Tage verliefen wie im Paradies: Ausschlafen, Brötchen holen, Neues über Alieninvasionen recherchieren, PC aufmöbeln, mit Freunden über Hexen in deutschen Behörden spekulieren, mit anderen Freunden über Vampir-Comics chatten, und immer ein kühles Bier in der Hand halten! Nun ja, letztlich werden es ja nur drei Tage sein, an denen ich mit in den Urlaub musste; und schließlich gab es schlimmere Ferienorte, die Wüste Gobi , die Antarktis z.B oder noch heftiger, Mallorca oder den Wolfgangsee. Kurzzeitig hatte ich gehofft, meine Frau hätte die Ferienzeit vergessen. Aber nein! Sie vergaß nie etwas! So begannen wir mit unseren Vorbereitungen und am nächsten morgen ging es denn gleich nach Cuxhaven.

Im Strandkorb ließ es sich besser lesen, als ich befürchtet hatte und die Sonne schien wirklich wie versprochen den ganzen Tag. Als Geste, dass ich mich für den Urlaub engagieren und möglichst wenig mosern wollte, kochte ich am ersten Abend meine berühmte Ravioli auf Basis des bekannten Konservendosenfabrikats, die unter meinen Freunden berühmt war. "Ravioli a la Flokus diabolicus" nannte man meine Schöpfung. Die beiliegende Fertigsoße wertete ich mit einem Sud in einem Verhältnis von 2/3 Senf und 1/3 Worcester Souce auf. Das war der Kniff. Das spezielle Essen war als Geste gedacht und sollte eine Art Versprechen sein, dass ich den Urlaub diesmal ernsthaft genießen wollte. Der Wein von Lidl schmeckte auch besser als gedacht. Vielleicht könnte sich dort ja auch noch eine gute Zeit entwickeln.

Nach einem späten Frühstück ging ich gerne auf den Wunsch meiner Frau ein, unseren ersten Strandspaziergang zu starten. Ich freute mich sogar darauf. Entspannt atmeten wir Nordseeluft und spekulierten über die Beziehungskultur von Paaren und Familien, die uns entgegen kamen. Als Basis diente uns ihr Gehtempo, die Qualität der beiläufigen Berührungen und ihrer Körperhaltung.
Ja, es hätte durchaus ein glücklicher Tag werden können. Die Harmonie, die in uns beiden überhand gewann, hätte mich allerdings misstrauisch machen müssen.

Es ließ sich nicht leugnen. Je älter ich wurde, desto weniger wehrte ich mich gegen die völlig unmotiviert in mir aufkommenden Harmoniegefühle. Ich vergaß aus mir unbekannten Gründen, dieses Befinden kritisch zu analysieren. Ich musste sogar ehrlicherweise zugestehen, dass meine innere Harmonie spürbar mit infantiler Lust gekoppelt war. Bei Kindern nennen wir dieses Syndrom "Freude". Früher stoppten meine harmonischen Anfälle sofort wie von selbst. Der erste Anschein dieser Empfindung provozierte reflexartig die Erinnerung an die vielen seelischen und körperlichen Verletzungen, die mein Leben in der Kindheit zu einer schlimmen gemacht hatten. Ich analysierte dann, wie es zu dieser Familiendynmamik kam, ich betrachtete die Art und Weise, wie sich die Schäden bemerkbar machten und stellte zuletzt Mutmaßungen über den Stellenwert an, die diese Ereignisse für mich als Erwachsender immer noch hatten. Zuverlässig dauerte es dann nur Sekunden und das gewohnte Hintergrundsempfinden, mein hartnäckiges Gefühl, unerwünscht zu sein, kehrte zurück, übernahm u.a. wieder die Kontrolle über mein Verdauungssystem und dominierte meinen Kommunikationsstil. Jetzt war ich ein Wrack geworden, meine guten Launen hatten mich dauerhaft geschwächt. Sie wollten einfach persistieren, sie machten keine Pause. Es kostete mich unsägliche Mühe und Geduld, meinen Lieben zuhause mein altes, gewohntes und niedergeschlagenes Ich zu präsentieren.

Meine Frau spazierte nach unserer Strandtour wie ungewollt in Richtung der Haupteinkaufsstraße und, als wäre auch das zufällig, durch die Einkaufszone. Sie verweilte immer wieder interessiert vor öden Boutiquen, die nach ästhetischen Gesichtspunkten den Tiefpunkt der Innenarchitektur auf ca. 12 Quadratmeter komprimierten und den diversen lokalen Billigschmuckanbietern und den maritim angehauchten Kleidungsstücken ein passendes Verkaufsambiente anboten.
Ich kaprizierte mich derweil auf die hochinteressanten, vielfältigen und umfassenden Angebote an Portmannaies und Schlüsselanhängerm. Vielleicht könnte ich meine Sammlungen erweitern.

Ich mutmaßte nichts und dann geschah es. Ich wurde Opfer meiner Hilflosigkeit, meiner Ahnungslosigkeit und meines romantischen Glaubens an das Gute im Menschen:
Meine Frau blieb vor den Außenständen eines Ladens stehen. Sie platzierte sich so, dass mein schlendernder Gang wie von selbst in das Geschäft führen musste. Sie wies wie nebenbei, als ich mich an ihr vorbeischob, auf einen Stapel dunkelblauer Jeans. Ihr Atmen zeigte Spuren der Begeisterung. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem stand: Camel.
Ich wusste gar nicht, dass Camel auch Kleidung im Angebot hatte. Und: das Angebot umfasste nur ca. 20 Artikel. Ich würde hier nicht die Übersicht verlieren.

„Welche Größe trägst du eigentlich? 32 oder 33?
„Nein!“, antwortete ich,
"das ist viel zu klein. Ich glaube, ich habe 48 oder 50."
Zeigte mir der Blick, den sie mir zuwarf, Überraschung und Erstaunen? Die Harmonie in mir begann zu zittern. Reste meiner Kindheitstraumata blitzten kurz in Bildern auf und nagten an meiner coolen Grundhaltung.
Ich schaute wieder in den Laden. Er erinnerte mich an Tschibo. Die angenehme Ruhe, die sich mit den Bildern von den Tschibokaffeeläden einstellte, entspannte und schob meine leichte innere Unruhe zur Seite. Eine Verkäuferin, eine ältere Dame, sah interessiert in unsere Richtung. Sie sah zu mir, dann zu meiner Frau und dann wieder zu mir.
„Gefällt dir die Hose? Hast du nicht so eine schon in Schwarz?“,
fragte meine Frau.

Mein Körper schüttelte sich. Die Kopfschuppen fielen von mir ab wie trockene Semmelbrösel Das war es also!
Jetzt wusste ich Bescheid! Meine Alarmglocken dröhnten im Gehirn und ließen die Knochen vibrieren. Das war es! Ich drehte meinen Kopf hin zu dem Laden und erstarrte wie Lots Frau. Der gesamte Tagesablauf, ja diese Reise bekam plötzlich eine Logik, einen Sinn:
MEINE FRAU WOLLTE MIR EINE NEUE JEANS KAUFEN!

Ich huschte in den Laden, um nicht antworten zu müssen. Eine kleine Runde im Laden ziehen und dann souverän und locker den Ausgang queren, dann meiner Frau einen lässigen Blick zuwerfen und ebenso so cool sagen:
"Nix für mich!",
das war mein Plan! Ich war stolz über die Geschwindigkeit, mit die Idee sich vordrängte und mir einen Ausweg wies:
Doch da war die Verkäuferin vor.
„Kann ich ihnen helfen?“
Sie stand mir urplötzlich im Weg und lächelte mich rücksichtslos an. Klebte da nicht am Mundwinkel eine kleine schleimige Spur an Sadismus. Keuchte sie nicht eine Spur zu heftig, dass für einen Augeblick ein kleines Stückchen pure Lust sichtbar über ihr Gesicht kroch?
„Nein noch nicht“, kam meine hastige Entgegnung, „ich bin noch in der Orientierungsphase!“
Diese Bemerkung hat mich früher häufiger gerettet. Ich habe sie mal in einem Kiosk in Wattenscheid aufgeschnappt.
Doch diesmal übertönte die schiere Kraft der Stimme meiner Frau meine Äußerung. Mit der Kraft ihrer Intention überschrieb sie mein Begehr. Eine analoge Technik bezwang ein digitales Muster. Was für eine Welt?
„Ja, gerne doch!“, dröhnte die Stimme meiner Frau und besetzte diesen Raum.

Fassungslos beobachtete ich, was dann in einem aberwitzigen Tempo vor mir geschah über mich einbrach.
„Größe? 32/33?“ fragte die Verkäuferin.
„Eher 33/33!“
„Hier bitte!“
„Danke!“
"Dunkelblau oder schwarz?"
"Schwarz, aber es müssen diese Nähte sein!"
"Kriegen wir hin, haben wir da!"
"Ja toll!"
„Ich such ihnen (sie schaute meine Frau an!) dann gleich noch eine Alternative heraus."
"In der Slim-Form, bitte!"
"Natürlich, die steht ihm am besten!“
„Danke, das ist nett.“
"Gerne! Dafür nicht!"

In einem Moment nur, es schien nur Sekundenbruchteile zu dauern, öffnete sich mir die Welt zu einer anderen Dimension. Ich spürte den Geschmack der Ewigkeit um mich herum. Es wogte und dehnte und bebte. Die Grundlage des Kaufvertrages war im Vorüberrauschen, im Nu einfach so geschehen. Ein uraltes Ritual entstand in der Choreographie der Gesten von Käufer und Verkäufer. Sie öffnete und weitete meine noch nichtige Welt. Das Ritual verband auf diese Weise in einem mysthisch zu nennenden Akt die Existenz meiner Frau, das Dasein der Verkäuferin, mein Umherirren und die Narrative von Camel und Tschibo im Hier und Jetzt. Sie sprengte, ohne Aufmerksamkeit anzuziehen, die kapitalistischen Inselwelt des Nordens! Und draußen war draußen und innen war innen - und der Besitzstand der Jeanshose wechselte in meine Obhut! Die Welt war so einfach und ich ein glücklicher Mann.
Ein Uhu saß auf einem Regal und schaute mich unentwegt an.
Verwirrt und in erhabener Stimmung stand ich im Raum. Ein Ritual hatte mein Leben in den Besitz genommen. Ich kam als Leidender und ging als Jeansträger!

Würde ich es nicht besser wissen, würde ich vermuten, die beiden hätten sich abgesprochen. Meine Frau stieß die Jeans auf meine angebeugten Arme, sie lagerte sie dort. Ach ja, wir wollten eine Hose kaufen!
„Die Ankleide ist hinter dir!“
Ich drehte mich um und sah den offenen Vorhang.
Restmengen an Energie schenkten mir die Kraft, weiter Widerstand zu versuchen oder zumindest meinen Widerwillen zu zeigen:
„Aber ich habe doch schon drei Jeans !“
Der Satz wurde wurde hinweggefegt:
„Deine Levis ist kaputt!“
„Nein, die hat nur einen kleinen Riss, das ist doch modern!“
„Die ist kaputt! Die ziehst du nicht mehr an!“
Ich schaute entsetzt:
„Das ist meine Lieblingshose!"
Sie zeigte nach hinten,
„Die Ankleide ist DA!“
Innerlich vernichtet, gefoltert und deformiert folgte ich ihrem Fingerzeig! Mein Körper, der des morgens noch im Klang der Harmonie erstrahlte, bewegte sich unrund. Diese winzige Umkleide, einer Rattenfalle gleich, sollte meine Obhut sein?

Ich hasste es, neue Kleidung in einem schmutzigen, unbequemen Käfig anzuziehen und auszuprobieren. Dazu diese elendigen, indiskreten Fragen! Saß sie richtig? Die Beinlänge, war sie in Pohöhe zu eng, und saß das Hinterteil richtig drin? Ist der Bund zu weit usw. - gräßlich. Warum können diese Dinger nicht einfach passen? Die draußen auf dem Gang glaubten meinem Urteil eh nicht, dass sie saß oder aber nicht, sie wollten sicherheitshalber selber sehen und gucken - sie wollten mich öffentlich vorführen, mich auf dem Gang zur Guillotine anspucken lassen - widerlich! Und da nicht nur einmal. Noch eine Hose und noch eine, puuuh!

Aber diesmal ...
Die Jeans passte perfekt. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
"Die erste! Und die passt sofort!"
Ich war glücklich über dieses überraschende Geschenk der Götter, gleich würde ich diesen Ort verlassen können. Ich wusste, Apollon liebte und unterstützte mich.
Doch natürlich kam dann von der Verkäuferin der Vorschlag, ...ich sollte „zum Vergleich“ noch die andere Hose probieren. Die Verkäuferin trug sie mir wie eine Hostie auf dem Arm entgegen. Ich wollte schon das Kreuzzeichen schlagen, um mich vor Vampiren ..., doch bemerkte ich den Impuls und konnte ihn gerade eben noch unterbinden.
Ich grummelte erst leise, dann lauter so vor mich hin.
"grummel, grmmnnnh, grumm glr ...!"
Die beiden Frauen sahen sich an und nickten sich zu. Ich wusste genau, was sie dachten:
"Er trotzt!"
Sie brauchten keinen Übersetzer, und ich brauchte keine zweite Hose zum Vergleich:
Ich setzte mich durch. Ein kleiner Sieg, aber ein Sieg! Ich atmete auf.

Und dann sah ich es, als ich die Hose auszog. Dass ich nicht vorhin daran gedacht hatte, dass ich nicht als erstes nachgeschaut habe: sie sollte knapp 100,- Euro kosten, 100,.- Euro!!
Sofort erkannte ich meine letzte Chance! Diesmal würde sie nicht dagegen halten können:
„100,- Euro!“,
flüsterte ich entsetzt meiner Frau entgegen,
„100,- Euro! Das ist viel zu viel!“
Klagend hielt ich ihr mit ausgestreckten Armen die Jeans entgegen.
Sie sah mich an, als wäre ich ein dementes und hilfloses Bündel Mensch auf einer geriatrischen Station,. Ihre Sätze waren kurz, d.h. sie waren nicht diskutierbar!
„Vernünftige Hosen kosten so viel!“ und:
"Im übrigen kostet sie nur 99,95 Euro!"
„Aber letzte Woche wollte ich für 150,- Euro einen gebrauchten Laptop kaufen. Mein alter ist kaputt und du hast gesagt, wir hätten kein Geld auf dem Konto. Ich sollte noch einen Monat warten!“
„Willst du die beiden Sachen tatsächlich miteinander vergleichen?"
Ihre Augen klar wie Glas, sie glänzten, ein Strahl aus Stahl!
"Ich vergleiche ja auch nicht unser Auto mit einem Blumenkasten!“
Ich verstand den Vergleich nicht, aber ich traute mich nicht zu fragen.
"Nein!"
Ich wollte nicht Jeans und Laptop miteinander vergleichen! Jedenfalls nicht bei diesem Blick!
„Steht sonst noch was an? Wenn, dann jetzt!“
Ich fasste mich und - schwieg.

Die Verkäuferin kam hinzu:
„Noch ein anderes Teil, ein Sweatshirt vielleicht?“ fragte sie.
Meine Füße versanken in einem morastigen Sumpf.
Wird denn dieser Irrsinn nie ein Ende nehmen?
„Nein!“ Ich schrie es fast! Dem folgte ein waidwundes Flüstern:
"kein Sweatshirt"
Meine Frau griff nach meinem Arm.
„Heute nicht!“,
antwortete sie betont ruhig.
"Wir haben ja das Wichtigste!"

Beide Damen lächelten sich freundlich an. Ich wartete darauf, dass sie zum „High Five“ ansetzen würden. In der Luft lag eine spürbare Spannung, die dringend in Bewegung aufgelöst werden sollte!
High Five! - ?
Aber nein, das taten Frauen nicht! Sie hatten da etwas tieferes noch, was sie verband. Etwas von dem wir Männer nicht die geringste Ahnung hatten und was das Abklatschen als einfältig, brutal und schmutzig befand. Sie haben ganz selbstverständlich Anteil am mythischen Geschehen, sie wurzeln in der uns allen geschenkten, rätselhaften Welt. Wo Männer nur Gräben und Löcher sehen, erspüren sie Tiefe und Sinn. Telepathisch verbunden bewegen sie sich vertraut und beschwingt in spirituellen Feldern, sie lassen ihre Chakren Funken versprühen und halten ihre schützende ...... war ich eingeschlafen, haben sie mich in einen Trancezustand versetzt?

Ich erinnere mich kaum noch an den Rückweg. Erschöpft, erlöst und frei, so ging ich gemessenen Schrittes. Doch schien ich fast alles vergessen zu haben, was nach dem Kauf noch passierte. Meine Kreditkarte wurde im Laden an diesen seltsamen kleinen elektrisch versorgten Kasten gepresst, dessen Kabel sich irgendwo im Nichts auflösten.
Die Sonne durchdrang die Vorhänge und warf ein Strahlenmuster auf die fein gepuderte zarte Haut um die Nase der Verkäuferin - ich sah ich ein rötliches Lichtlein, das anwuchs, das sich auf ihren Wangen bewegte und zum Tanze lud. Und es wuchs, während es draußen dunkler wurde.
Ich hörte mich mit brüchiger Stimme fragen, ob nicht heute nacht an diesem Ort die Walpurgisnacht gefeiert werde? Das hätte ich gehört.
„Nein!“ meinte die Verkäuferin, das Treffen würde erst in der Woche danach, in der Nacht zum 1. Mai direkt an der Kugelbake stattfinden, dort, wo die Elbe in die Nordsee mündete. Hier läge schon seit der Vorzeit ein bekannter heiliger Ort.

Sie griff nach einem Zettel auf dem Schreibtisch und reichte ihn meiner Frau.
„Nein danke, ich habe die Einladung schon."
Wieder lächelten sie sich an.

"Sie passen doch gut auf ihren Mann auf, nicht wahr?",
vermerkte die rötlich schimmernde Gestalt, als meine Frau mich vorsichtig aus den Räumlichkeiten führte. Sie verfolgte uns. Ich fühlte ihren Blick auf meinem Rücken in der Höhe meines Herzens.
Ich war müde.
Flocke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.05.2022, 16:14   #2
männlich dr.Frankenstein
 
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Hallo Flocke,
als alter Verschachtlungskünstler, hast ja was ganz normales in die total andere Dimension überführt.
Der Protagonist leidet vermutlich unter einer Angststörung.
Das hat es trotz der Banalität der Geschichte, total spannend gemacht.
Angeblich soll das ja die höchste Kunst des Schreibens sein, (Haben mal irgendwelche Professoren bei ner Lesung erzählt) eine Geschichte in der nichts passiert, geil zu schreiben.

Make War not Love oder Pfannkuchen
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Alt 05.05.2022, 18:07   #3
männlich Flocke
 
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Hallo dr.Frankenstein,

vielen Dank für deinen Kommentar.
es ist schon richtig, die Geschichte wimmelt nicht gerade von Aktionen. Sie hat wenig bis gar nichts vom Charme eines Arnold Schwarzenegger auf dem Motorrad, sie ähnelt eher einem Woody Allen, der auf der Couch liegend, über das Schlechte in der Welt sinniert.

Du hast ein wichtiges Charakteristikum dieser Geschichte angesprochen: Die "erzählte Zeit" und die "Erzählzeit" sind in etwa gleich lang. Sie verlaufen in parallelem Tempo.

Was bedeutet das?

Schauen wir auf die ersten drei Absätze von dem Einleitungssatz: "'Wir haben beide frei.'", bis zu dem Satz: "Im Strandkorb ließ es sich besser lesen ..."
Mit zwei Minuten Lesezeit oder fachspezifisch ausgedrückt: mit zwei Minuten Erzählzeit umgreift der Ich-Erzähler einen Zeitraum von einem Tag. Die "erzählte Zeit" umfasst einen Tag.

Schauen wir nun mit dem Beginn des 6. Absatzes ("Meine Frau spazierte nach unserer Strandtour wie ungewollt...") auf den restlichen Text bis zum Ende der Geschichte, dann entspricht die Zeitspanne, die der Leser braucht, um nun restliche Erzählung zu lesen (die Erzählzeit), in etwa der Spanne, die als tatsächliches Geschehen vergangen ist (die "erzählte Zeit"). Vielleicht dauert der Jeanseinkauf 12 - 20 Minuten. Etwa in der gleichen Zeit erzählt also das Ich parallel von dem, was da gerade geschieht, was der Ich-Erzähler denkt, was es ahnt.

Im wesentlichen nutzt der Ich-Erzähler zwei Erzähltechniken:
1) Er gibt ein sprachliches Abbild von dem, was gerade faktisch passiert!
Zitat:
„Größe? 32/33?“ fragte die Verkäuferin.
„Eher 33/33!“
„Hier bitte!“
„Danke!“
"Dunkelblau oder schwarz?"
"Schwarz, aber es müssen diese Nähte sein!"
"Kriegen wir hin, haben wir da!"
"Ja toll!"
2) Der Ich-Erzähle führt innere Monologe, mit denen er das Geschehen begleitet, oder in denen er sich an frühere Ereignisse erinnert oder er lässt zu, dass seine Gedanken ihren eigenen Weg nehmen.
Zitat:
Die Grundlage des Kaufvertrages war im Vorüberrauschen, im Nu einfach so geschehen. Ein uraltes Ritual entstand in der Choreographie der Gesten von Käufer und Verkäufer. Sie öffnete und weitete meine noch nichtige Welt.
3) Und es finden sich Mischformen von 1) und 2):
Zitat:
Würde ich es nicht besser wissen, würde ich vermuten, die beiden hätten sich abgesprochen. Meine Frau stieß die Jeans auf meine angebeugten Arme, sie lagerte sie dort. Ach ja, wir wollten eine Hose kaufen!
Ich würde nun nicht behaupten, dass hier nichts passiert! Und deine Professorengang sicher auch nicht.
Sicher, die Geschichte bietet keine dominierende, treibende Aktionsfolge. Sie erweitert aber merklich die bloße, lineare Wiedergabe des Geschehens. Sie erzählt und deutet zudem noch an, was auf anderen Ebenen in der gleichen Zeit auch passiert.
In dieser kleinen Geschichte wird berichtet, was gerade mit den Figuren geschieht, aber sie vermerkt auch, was dem Protagonisten dazu so alles einfällt, was ihn von seiner Vergangenheit behindert und einschränkt und worauf er seine Energie und seine Visionen richet.


Ich glaube, wenn wir genauer in unserem Leben hinschauen, achtsamer wären, uns mehr Zeit gäben, zu empfinden und nachzuspüren, dann würden wir solchen Momenten häufiger begegnen.

Grüße Flocke
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