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Alt 28.03.2022, 18:39   #1
männlich G.Neville
 
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Standard Der König von Obergiesing

München im Jahre 2115

Hoch oben auf der Aussichtsplattform der Pfarrkirche Sankt Peter stand ein Muezzin und rief die Bürger von München zum allmorgendlichen Gebet. Wie immer strömten daraufhin zahlreiche Gläubige in die Kirche. Am Eingang übergaben sie einem Schuhwart ihr Schuhwerk um anschließend im Gebet inbrünstig ihrem Propheten zu huldigen.

Nach dem beispiellosen Siegeszug des Islam über Old Europe im Jahre 2075 war das beileibe keine Besonderheit mehr, sondern durchaus schnöder Alltag. Zudem war den meisten Bürgern Europas der Islam sowie seine Lehre im Grunde ihres Herzens genauso egal, wie es vorher das Christentum gewesen war. In den vergangenen Jahrhunderten hatte im säkularisierten Westen ein wahrer Gottesglaube kaum noch existiert. Nur einer hielt immer noch entschieden dagegen: Der König von Obergiesing.

Dieser residierte hoch oben auf dem Giesinger Berg in der alterwürdigen Heilig Kreuz Kirche. Dieses monumentale, neugotische Bauwerk von exakt einundsiebzig Meter Länge, vierzig Meter Breite und einem Kirchturm mit fünfundneunzig Meter Höhe diente in früheren Zeiten den Christen als geheiligter Ort um bei Bedarf ihre armen Seelen zu läutern.

Und durch die Anwesenheit des Königs von Obergiesing war dieses uralte Münchner Stadtviertel, welches man vor langer Zeit auch gerne verächtlich Glasscherbenviertel genannt hatte, nun tatsächlich zu einem Staat im Staate geworden. Dieses Staatsgebiet umfasste exakt die Größe von einem Quadratkilometer. Zusätzlich war es noch durch eine drei Meter hohe und zwei Meter dicke Stahlbetonmauer geschützt.

Der Grund für diesen autonomen Staatstaat innerhalb des völlig islamisierten Abendlandes war die unglaubliche Gedankenenergie des Königs. Konflikte oder gar Kriege wurden nämlich schon seit langer Zeit nicht mehr ausschließlich mit Waffen ausgetragen, sondern vielmehr durch die Macht des Geistes. Gedanken sind ja bekanntlich nach Materialisierung strebende Energie. Dieses Wissen hatte sich der König zu Eigen gemacht und es schließlich bis zur höchsten Stufe perfektioniert.

Im Inneren der Heilig Kreuz Kirche herrschte eitel Sonnenschein. Ein riesiges golden schimmerndes mit winzigen Diamanten und Rubinen übersätes Spinnennetz, welches sich vom kalten Steinboden bis hoch hinauf zu den steinernen Rippen des monumentalen Kirchengewölbes erstreckte, war das Zuhause des Königs.

Im Zentrum dieses sagenhaften Netzes saß der König inmitten funkelnder Edelsteine auf seinem purpurfarbenen Thron. Da das Netz auch an den Seitenwänden fixiert war, teilte sich der Innenraum der Kirche in zwei gleich große Teile. Im Rücken des Königs befand sich der Hochaltar. Über dem Altar hing der Gekreuzigte bekleidet mit Lendenschurz und Dornenkrone. Der König selbst wippte die meiste Zeit wie ein kleines Kind mitsamt seinem Thron hin und her.

Nur zu festgelegten Zeiten war er bereit den jeweiligen Abordnungen der Stadt München Audienzen zu gewähren. Bekleidet war er mit einem leuchtend hellblauen Königsmantel, welcher mit goldenen Lilien bestickt war. Seine langen Beine steckten in schwarzen Stulpenstiefel mit silbernen Sporen. Eine goldene Krone zierte seinen blanken Schädel und diese blitzte und funkelte in den herrlichsten Spektralfarben, die je ein menschliches Auge erblickt hatte.

Tief unten in der modrigen Gruft der Heilig Kreuz Kirche lebte die Eigentümerin dieses seltsamen Spinnennetzes. Eine große haarige Spinne. Der König und diese Spinne lebten bereits seit mehreren Jahrzehnten in einer Art Symbiose zusammen. Der König war der unangefochtene Herrscher der Oberwelt, die Spinne Martha hingegen die Herrscherin der Unterwelt. Martha verfügte zudem über eine stattliche Armee, bestehend aus dreißigtausend Kampfspinnen, sowie mindestens weiteren fünfhundert Arbeiterspinnen.

Bitternis und Fäulnis herrschten in ihrem Reich. Auch wurde dort dermaßen gefoltert und gemordet, sodass – will man diesen historischen Vergleich bemühen – Dantes Hölle dagegen der reinste Kindergarten war. Aber wie weit dieses schreckliche unterirdische Spinnenreich tatsächlich reichte wusste eigentlich niemand genau. In jedem Fall war es aber weit größer als der gesamte Untergrund der ehemaligen bayerischen Landeshauptstadt.

Oben rechts im Spinnennetz hing der berühmte bayerische Kurfürst Max Emanuel, dem es seinerzeit gelungen war, den Expansionsgelüsten der Osmanen im Jahre 1683 vor Wien einen Riegel vorzuschieben.

Zu bestimmten Zeiten nervte Max Emanuel den König, nämlich immer dann, wenn er unentwegt wie ein Papagei vor sich hin plapperte: „Hätte ich nur mein bayerisches Heer und die Hilfstruppen des Kaisers, ich würde wieder siegen…!“

Die Folge waren jedes Mal endlose Diskussionen. Mit einer wahren Engelsgeduld versuchte der König dann immer wieder dem Kurfürsten die tatsächlichen Verhältnisse zu erklären. So zum Beispiel, dass er mit einer Armee, und sei sie auch noch so zahlreich und kampfstark, überhaupt nichts gegen die Osmanen ausrichten könnte. Denn heutzutage würde man in der Oberwelt nur noch mit Gedankenenergie kämpfen. Max Emanuel konnte sich allerdings unter Gedankenenergie, im Zusammenhang mit militärischer Gewalt, rein gar nichts vorstellen. Er rief dann jedes Mal sehr erregt: „Belgrad habe ich auch nicht mit Gedankenenergie erobert sondern mit meinem getreuen Heer…!“
Anschließend rückte er immer wieder seine Perücke zurecht und nahm höfische Haltung an, indem er seinen Oberkörper leicht nach vorn beugte und den rechten Fuß leicht zur Seite hin abspreizte.

Eine erfreulichere Nachbarschaft hingegen war Madame Dubarry, die ehemalige Mätresse Ludwig XV. Sie hing zur linken Seite des Königs in exakt waagrechter Linie im Spinnennetz. Mit ihren gewaltigen Reifröcken aus goldenen und silbernen diamantenübersäten Stoffen und einer außergewöhnlich langen Schleppe, die ständig von zwei blonden Engelchen gehalten wurde, war sie immer wieder ein wahrer Augenschmaus. Ihre Haut war so zart, dass sie kaum einen Hauch Rouge benötigte. Ihre Zähne blitzten blendend weiß in der warmen Morgensonne. Ihre scharlachroten Lippen und ihre blauen Augen erzeugten einen unwiderstehlichen Kontrast. Dabei lächelte sie so lieblich und einladend zugleich, sodass sogar die große Spinne Martha im Keller hin und wieder hinauf rief: „Madame! Ich würde sie gerne mal ausführen. Es wäre mir eine wahre Freude!“ Madame Dubarry jedoch erteilte Martha jedes Mal eine klare Absage. Sie pflegte dann stets zu antworten: „Tut mir ja Leid sehr verehrte Kellerbewohnerin, aber wo sollte ich mich denn bei ihnen einhängen, wie es die Etikette nun einmal verlangt. Sie mit ihren vielen haarigen Beinen. Was sollen denn da die Leute denken?“

Nach dieser gnadenlosen Abfuhr war Martha jedes Mal zwei Tag lang eingeschnappt. Allerdings spann sie während dieser Zeit seltsamerweise Weise ein besonders schönes Garn. Die einzelnen Fäden waren dann immer wieder mit schönen Rubinen übersäht. Anscheinend beeinflussten die regelmäßigen Absagen von Madame Dubarry auf geheimnisvolle Art und Weise den Stoffwechsel der Spinne.

Der leibhaftige Satan in Gestalt von George Bush hing ebenfalls weit unten rechts im Spinnennetz. Merkwürdigerweise entströmte seinem mumifizierten Kadaver immer noch ein starker Schwefelgeruch. Er war auch der einzige, den die Spinne bereits umwickelt und ausgesaugt hatte. Natürlich mit dem Einverständnis des Königs. Dessen Macht war allumfassend und unüberwindbar. Auch Martha akzeptierte stillschweigend die absolute Autorität des Königs von Obergiesing.

Hoch über dem König hing der bärtige Moses. Und auch seine Heiligkeit der Dalai Lama sowie Napoleon waren noch mit von der Partie. Der Dalai Lama hing schräg oben links in etwa sechs Meter Entfernung von Moses im Netz. Napoleon tief unten links, gerade mal drei Meter über dem Kirchengestühl. Dieser Platz behagte ihm jedoch keineswegs.

Schließlich war er einstmals der Kaiser von Frankreich gewesen – jener sagenhaften Grande Nation. Aus diesem Grunde schrieb Napoleon eine Protestnote nach der anderen, um endlich auch einen standesgemäßen Platz hoch oben im Lichte zu ergattern. Doch alle seine Noten wurden vom König stets mit dem gleichen Argument abgeschmettert.

Der König pflegte dann stets zu antworten: „Sire! Schreiben können sie so viel sie wollen, aber erreichen werden sie gar nichts!“

Dermaßen taktlos abgefertigt fing Napoleon danach regelmäßig an wie wild seine imaginären Truppen hin und her zu kommandieren. Besonders seine Kürassiere trieb er dann zu immer noch heftigeren Attacken an. Da er aber sehr weit unten hing störte dies niemanden sonderlich, sodass sich der kleine Korse wann immer er wollte, nach Herzenslust austoben konnte.
Von der Empore herab ertönte plötzlich ein lang gezogenes Trompetensignal und sofort schwebte der greise Hofmarschall in Gestalt einer wunderschönen schneeweißen Taube herbei. Direkt vor dem Antlitz des Königs blieb die Taube einem Kolibri gleich in der Luft stehen. Durch den fächelnden Flügelschlag erwachte der König aus seinem leicht somnambulen Zustand und sprach:
„Was gibt es denn mein lieber Hofmarschall?“
„Mein lieber König. Ich bin gekommen um sie an ihre leidlichen Pflichten zu erinnern.“
„Welche Pflichten?“
„An die Audienz Majestät. Wie sie wissen, fünfzehn Uhr!“
„Ach, seien sie unbesorgt. Ich werde rechtzeitig wieder zurück sein!“
„Sehr wohl Majestät“, erwiderte daraufhin die weiße Taube und flatterte wieder nach oben ins grelle Sonnenlicht.
Seine Majestät sinnierte weiter.

Im nächsten Moment jedoch schien es, als würde die Gestalt des Königs erglühen. Gleichzeitig erklang dröhnende Orgelmusik. Durch die Kirchendecke hindurch strahlte urplötzlich ein gleißender Lichtstrahl der nicht von dieser Welt sein konnte. Das heilige Ritual der Illumination begann. Ein kolossaler Lichtkegel umhüllte plötzlich seine Majestät und durchströmte seinen ganzen Leib mit kosmischer Astralenergie.
Dies war wie immer das untrügliche Zeichen dafür, dass die Verbindung zu einer der vielen Parallelwelten aufgebaut wurde, zu denen der König, Kraft seines allumfassenden Geistes, Zugang hatte. Damit seine phänomenale Geisteskraft und somit auch seine Unbesiegbarkeit niemals nachließen musste seine Majestät in der Regel einmal monatlich ein Update für den inneren Kern seines Wesens durchführen. Nur dadurch war er der technologischen Entwicklung auf der Erde immer einen Schritt voraus und konnte somit seine regionale Vormachtstellung innerhalb seines Staatsgebietes gegenüber den Moslems behaupten.

Im Inneren des gewaltigen Lichtstrahls bildete sich nun mit infernalischem Getöse ein gewaltiger Photonenstrahl und gänzlich umhüllt von kosmischer Astralenergie sauste der König mit Lichtgeschwindigkeit in das für die Milchstraße zuständige Paralleluniversum. Sein Körper jedoch verblieb weiterhin auf dem purpurfarbenen Thron. Die übrigen Bewohner des Spinnennetzes schenkten diesem großartigen Schauspiel schon seit langem keine besondere Aufmerksamkeit mehr. Nur Napoleon Bonaparte ließ aufgrund dieses Höllenlärms jedes Mal sofort seine gesamte schwere Artillerie in Stellung bringen.

Herr Moses hingegen war der Meinung man solle mit diesem Firlefanz doch endlich aufhören. Denn schließlich wäre er doch im Besitz der höchsten Wahrheit, nämlich den in Steintafeln gehauenen Zehn Geboten. Diese hätte er, wie er nicht müde wurde zu behaupten, von seinem Gott erhalten und diese Steintafeln seien doch nun wirklich über jeden Zweifel erhaben. Seine Heiligkeit der Dalai Lama brach daraufhin immer wieder in schallendes Gelächter aus während er gleichzeitig wie verrückt an seiner uralten Gebetsmühle kurbelte. Die Zeit verstrich und er König von Obergiesing weilte immer noch in anderen Sphären. Madame Dubarry machte sich daraufhin immer mehr Sorgen. Ja, sie grämte sich sehr und litt sichtlich unter der Nichtanwesenheit des Königs.
Seine Majestät, genauer gesagt seine irdische Hülle saß zwar auf dem Thron, schaukelte jedoch nicht, was ja üblicherweise der Fall war. Ein strahlender Ring aus sichtbaren goldenen Atomkernen sauste in elliptischen Bahnen um die zurückgebliebene königliche Hülle. Dies war ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Datenfluss auf dem Photonen Highway immer noch im vollen Gange war.

Madame Dubarry stieß plötzlich einen Seufzer aus. Eines der beiden Engelchen, welches für gewöhnlich die riesige Schleppe hielt flog daraufhin geschwind herbei, um ihr mit einem weißen Tüchlein und mit einem seligen Lächeln im Gesicht die eine oder andere Träne abzuwischen.
„Beruhigen sie sich Madame… seine Majestät wird ganz bestimmt bald wieder zurück sein…“
Madame Dubarry nickte und meinte: „Ja, hoffentlich mein Kind!“

Im nächsten Moment ging ein gewaltiges Zittern durch das große Spinnennetz. Alle blickten nach unten obwohl jeder wusste, dass es wahrscheinlich nur wieder eine der vielen Arbeiterspinnen war die das leichte Beben ausgelöst hatte. Anscheinend waren wieder einmal Wartungsarbeiten am Netz nötig. Und so war es auch. Eine flinke Arbeiterspinne hatte die Katakomben der Heilig Kreuz Kirche verlassen und kletterte langsam aber zielstrebig in Richtung Napoleon, welcher tief unten links in zirka drei Meter Höhe über den Kirchenbänken hing.
„Na… da kommen sie ja endlich…! Wird aber auch Zeit!“ rief Napoleon bereits ungeduldig wartend, „helfen sie mir bitte, bevor ich noch gänzlich herunterfalle. Ich will nämlich nicht hinabstürzen! Hier zu meinen Füßen, sehen sie… da wird das Netz immer poröser. Das kommt von den vielen Diamanten und dem ganzen Geschmeide. Bitte reparieren sie diese Stelle…!“
„Beruhigen sie sich, das haben wir gleich“, und geschwind wie eine Nähmaschine spann die Arbeiterspinne einen neuen Faden und besserte damit flugs die löchrige Stelle aus. Allerdings wieder mit den unvermeidlichen Gepränge.
„Sehr gut!“, rief Napoleon, „so was wie sie hätte ich damals in Waterloo gut gebrauchen können. Sie hätten den Blücher mitsamt seiner preußischen Armee einfach eingesponnen und ich hätte dann doch noch als strahlender Sieger das Schlachtfeld verlassen können!“

„Tja, im Nachhinein ist man eben immer klüger! Hoppa! Hoppa! Reiter!“ entgegnete die kleine Arbeiterspinne und kletterte leise kichernd wieder hinab in den Untergrund.

Madame Dubarry stieß plötzlich einen lauten Schrei aus. Allerdings war es ein Freudenschrei. Ein Jauchzen. Ein Jubilieren – ein Schrei der Erlösung. Der König schaukelte wieder. Er war also zurück. Seine Rückkehr erfolgte nämlich stets auf sehr leise Art und Weise. „Eure Majestät…! Wie schön das ihr endlich wieder hier seid. Ich habe mir schon so große Sorgen um euch gemacht!“ rief Madame Dubarry. „Beruhigt euch Madame. Auch ich bin entzückt endlich wieder in eurer Gesellschaft sein zu dürfen“, antwortete der König mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht.“

„Majestät! Ihr habt euch tatsächlich verspätet“, warf daraufhin Max Emanuel ein. „Ja, es gab unerwartete Probleme!“, erwiderte der König, „stellt euch nur vor, beinahe hätte mich dieses schwarze Loch, welches sich seit geraumer Zeit genau an der Schnittstelle zu unserem Paralleluniversum positioniert hat, aufgesaugt. Ich musste doch tatsächlich die zweite Stufe meines Schutzschirms aktivieren sowie alle Parameter der Spinn-Control-Automatic neu berechnen, um nicht in dessen Sog zu geraten, was nicht gerade einfach war. Aber nun lasst uns endlich mit den nötigen Vorbereitungen für die Audienz beginnen.“

Während der Audienzen herrschte standardmäßig Sicherheitsstufe eins. Das bedeutete alle Aggressionsmelder und Scanner wurden aktiviert, und alle Datenbanken der Gedankenlesegeräte auf linear getrimmt. Sechs extra starke Kampfspinnen der Klasse GT1 bezogen an den strategisch wichtigsten Punkten im Innenraum des Kirchenschiffes ihre jeweiligen Positionen. Zwei Arbeiterspinnen kletterten hinauf zu seiner Majestät und überreichten ihm die Insignien der Macht. Zepter und Reichsapfel. Anschließend öffnete sich das große Portal der Heilig Kreuz Kirche.

Das Protokoll schrieb nun vor, dass der amtierende Sultan von München, bevor dieser die Heilig Kreuz Kirche betrat durch einen Muezzin angekündigt wurde. Dieser trat ein und begann lauthals zu singen. Nach exakt einer Minute verstummte er wieder. Anschließend betraten vierzig Mann der schwer bewaffneten Garde des Sultans das Innere der Kirche. Die Garde bildete ein Spalier. Vier Mohren trugen den Sultan der Landeshauptstadt München Mehmet IV. auf einer gläsernen Sänfte in den Innenraum der Heilig Kreuz Kirche. Zehn Meter vor dem riesigen Spinnennetz stellten die Träger die Sänfte vorsichtig auf dem Boden ab. Nachdem die Mohren zur Seite getreten, erhob sich der Sultan. Er war bekleidet mit einem schwarzen Kaftan. Auf dem Kopf trug er einen weißen Turban. Um von dem funkelnden Spinnennetz nicht allzu sehr geblendet zu werden, setzte er langsam und würdevoll eine Sonnenbrille auf.

Anschließend blickte er empor und rief: „Seid gegrüßt König von Obergiesing. Ich freue mich sehr euch endlich wieder sehen zu dürfen!“
„Ich grüße euch ebenfalls Mehmet!“ rief seine Majestät herab und fügte hinzu, „was führt euch zu mir? Was ist euer Begehr?“

Der amtierende Sultan von München erwiderte mit Stolz geschwellter Brust: „Die zwei ungelösten Verhandlungspunkte. Ihr wisst… euer Beitritt in das Osmanische Reich und die Verlängerung des Waffenstillstandes um weitere drei Monate!“
„Dem zweiten Punkt will ich gerne zustimmen. Was jedoch Punkt eins betrifft. Niemals!“ rief der König von Obergiesing im bestimmenden Tonfall des selbstbewussten Herrschers.
„Seid ihr sicher Majestät. Bedenkt wir sind in der Überzahl!“
„Ihr mögt wohl in der Überzahl sein, dennoch ihr wisst doch Quantität ist nicht gleich Qualität. Sobald sich nämlich der Geist des christlichen Abendlandes erheben wird, und er wird sich erheben, werde ich sein erstes Schwert sein!“

Der Dalai Lama, Max Emanuel, Madame Dubarry und Napoleon applaudierten daraufhin beflissentlich. Nur dem bärtigen Moses hoch oben schwoll sichtlich der Kamm. Wütend giftete er hinab: „Seht euch nur vor. Wenn es nach mir ginge würde ich euch gleich hier an Ort und Stelle töten lassen!“
Dies war ein Eklat! Die Gardisten des Sultans zogen ihre Säbel.

Im nächsten Moment züngelten urplötzlich kleine Flammen aus dem weißen Turban des Sultans. Ein Leibwächter riss sofort den brennenden Turban vom Kopf seines Herrn und trat mit seinem Fuß die Flämmchen aus. Zugleich ertönte ein sehr hoher, dennoch aber kaum hörbarer Pfeifton, verursacht durch einen der zahlreichen Aggressionsmelder. Dies hatte automatisch zur Folge, dass die sechs Kampfspinnen in Aktion traten. Sie erhoben sich mit lautem Getöse aus ihrem Standby-Modus. Die sechs Augenpaare der mächtigen Spinnen fingen an wie wild zu blinken. In ihrem Inneren gingen jeweils mehrere Prozessoren gerade alle Waffensysteme durch, während sich an der Außenhaut alle Stacheln aufstellten. Herr Moses freute sich diebisch. Doch der König der das ganze Spektakel eher gelangweilt von oben herab beobachtet hatte, sprach:

„Na, wir wollen doch hier nicht etwa wieder ein Blutbad anrichten meine Herren! Allerdings bei dem negativen Gedankenmaterial, welches von ihrem Gehirn Besitz ergriffen hat, mein lieber Sultan scheint es mir nur natürlich, dass sogar euer Turban in Flammen aufgeht.

Der Sultan jedoch lächelte und rief: „Eure Majestät belieben zu scherzen. Ihr wisst doch ganz genau, dass dieser Moses wieder dahinter steckt. Er spielt eben zu gerne mit dem Feuer. Ich sage nur Dornenbusch!“
„Mag sein“, erwiderte der König, „jedenfalls erkläre ich die Audienz hiermit für beendet. Meinen Standpunkt kennt ihr ja. Lebt wohl!“

„Wie ihr wünscht!“ rief der Sultan. Danach bestieg er mit demonstrativer Lässigkeit die gläserne Sänfte. Auf sein Zeichen hin hoben besagte vier Mohren die Sänfte wieder an.

Die Delegation verließ die Heilig Kreuz Kirche. Eine Schar zerlumpter Trümmerfrauen mit Kopftüchern tauchte auf und schleuderte dem Sultan jede Menge Steine hinterher. Nach kurzer Flugbahn jedoch verglühten diese grobkantigen Wurfgeschosse noch in der Luft zu feinstem Goldstaub. Dies war wie immer der Schlussakt des Protokolls gewesen. Stille kehrte ein. Der König von Obergiesing sowie seine Schicksalsgefährten erstarrten.

Nachdem das große Portal wieder geschlossen und verriegelt war, erschien ein alter Mesner. Der Sakristan wunderte sich über die Reste des immer noch am Boden liegenden Turbans bevor er sich schließlich doch in Richtung des Hochaltars aufmachte, um dort seine alltäglichen Pflichten zu verrichten. Schließlich erschien eine alte Putzfrau die den angekogelten Turban des Sultans in eine blaue Mülltüte steckte. Anschließend reinigte sie den kalten Steinboden im Eingangsbereich, da dieser, aufgrund des vorangegangenen Protokolls, wieder einmal über und über mit feinstem Goldstaub bedeckt war.

24.02.2010
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