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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 23.03.2022, 23:55   #1
männlich Flocke
 
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Beiträge: 177

Standard Styx

Ich bin zum Kriechen auf die Welt gegeben!
Ein Stahlgerüst krümmt sich in meinem Bauch,
aus meiner Nase rieseln Ruß und Rauch.
Kann ich als Krüppel noch mit Anstand leben?

Mir kommt mein eigenes Gespenst entgegen.
Es beugt sich tief und hebt nach altem Brauch
die Hand. Sein Atem geht und mit dem Hauch
umspielt mich Aussatz. Ist das Gottes Segen?

Der Schatten ruht. Kommt nun der Augenblick?
Was soll es? Niemand da, der mich bedroht.
Was ist schon Angst, was Hass? Ein bisschen Not!

Ein Kuss, ein sanfter Griff um mein Genick
und unbedrängt steig ich ins leere Boot.
Ich halt die Hand. Was kümmert mich der Tod!



© Flocke

Geändert von Flocke (24.03.2022 um 02:34 Uhr)
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Alt 24.03.2022, 12:54   #2
männlich Heinz
 
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Hallo Flocke,
ich bewundere Menschen, die Sonette schreiben können. Der Titel brachte mich ins Grübeln: Der Styx. Ich habe diesen Styx, den es tatsächlich in der Nähe von Kalavrita/Peleponnes gibt, gesucht und gefunden. Sogar die Stelle, wo Achilles ins Wasser getaucht wurde (heute würde die Wassermenge nicht ausreichen).

Gruß,
Heinz
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Alt 24.03.2022, 13:01   #3
weiblich AlteLyrikerin
 
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Beiträge: 1.706

Da finde ich ein formal gut gemachtes Gedicht. Auch der Inhalt - Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit - ist ein anspruchsvolles und daher ansprechendes Thema. Viele der Metaphern und Bilder gefallen mir. Aber ich stoße mich sehr an der Zeile
Zitat:
Kann ich als Krüppel noch mit Anstand leben?
Das ist ein Blick auf eine versehrte oder behinderte Existenz, die ich unangemessen und abstoßend finde.

Ansonsten gefällt es mir gut. AlteLyrikerin.
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Alt 24.03.2022, 13:45   #4
männlich Epilog
 
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Standard Formvollendet in die Unterwelt

Hallo Flocke,

als passionierten "Sonetteur" freut es mich selbstverständlich (auch) besonders, ein formal so ausgereiftes Exemplar zu lesen, dessen Inhalte ich zudem (glaube ich zumindest) ebenfalls schon in verschiedenen Beispielen aufgegriffen habe.

Formal auffällig ist hier die ungleichmäßige Verteilung der Reimendungen in den Terzetten: viermal "oht", dafür nur zweimal "ick" - das ist relativ ungewöhnlich, steht aber für die vielfältigen Möglichkeiten, an diesem Punkt zu variieren und gewissermaßen immer "Neues" auszuprobieren. Formal besonders zielführend erscheinen mir die Fragen in den jeweils abschließenden Zeilen der Quartette und im ersten Terzett-Vers: Sie werden in gewisser Weise in den dann noch folgenden Terzettzeilen beantwortet, obwohl es sich hier gerade nicht um eine lauthalse Verkündung von Gewissheiten handelt, sondern eher um ein vorsichtiges, fast schleichendes Erkennen (Dies auch als Hinweis auf die Möglichkeiten des dialektischen Aufbaus im Sonett, die etwa Anaximandela letztens angesprochen hatte).

Ja, der Styx. Ich hatte wie gesagt schon öfter dieses Thema aufgegriffen, teilweise auch, weil ich verschiedentlich geträumt hatte, in einem Fluss zu treiben oder zu ertrinken. Besonders beeindruckend finde ich bei Deiner Version das Bild in der zweiten Strophe, "mir kommt mein eigenes Gespenst entgegen" - erinnert mich stark an das expressionistische Bild "Der Selbstseher" (II) von Egon Schiele - der Schatten, der aus einem selbst hervortritt -, aber auch an das Gedicht "Der Schatten" von Georg Trakl aus dem gleichen zeitlichen und geistigen Umkreis.

Etwas Mühe bei der inhaltlichen Deutung habe ich gleich in der ersten Strophe: "Ein Stahlgerüst in meinem Bauch" - das kann ich noch mit den verschiedensten "Rehabilitationsmaschinen", Korsetten, Rollatoren etc. in Einklang bringen, aber Ruß und Rauch, die aus der Nase rieseln? Hier kommen mir unwillkürlich eher ausrangierte Maschinen in den Sinn, Lokomotiven oder Dampfschiffe, die nicht mehr gebraucht werden, und auch wieder ein Bild, "Die Fighting Temeraire wird zum Abwracken geschleppt" von William Turner (das war allerdings kein Dampf- sondern ein Segelschiff). Hattest Du auch so was im Hinterkopf?

@AlteLyrikerin: Ich denke, der von Dir zitierte Satz ist hier als Blick der schwerbehinderten Existenz auf sich selbst zu verstehen, nicht auf andere. In diesem Sinne ist er für mich besonders erschütternd, weil damit gerade eine letzte Anwandlung von Anstand eingefordert oder zumindest doch erfragt wird.

Herzliche Grüße allen

Epilog
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Alt 26.03.2022, 20:16   #5
männlich Flocke
 
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Ort: NRW
Beiträge: 177

Hallo alle,
Hallo AlteLyrikerin!

Du meintest in Bezug darauf, dass in meinem Gedicht das Wort "Krüppel" fiel:
Zitat:
Das ist ein Blick auf eine versehrte oder behinderte Existenz, die ich unangemessen und abstoßend finde.
Ich lese darin, dass ich deiner Meinung nach besser nicht das Wort "Krüppel" benutzt hätte.

Der Protagonist aber in meinem Sonett wird nicht beschimpft oder vorgeführt. Weder ein Gegenspieler, noch der Autor weisen mit dem Finger verächtlich auf ihn. Er selbst ist es, der sich so bezeichnet. Er beschimpft sich nicht, er hadert nicht, er konstatiert nur den Sachverhalt, dass er ein existentiell behindertes Wesen ist, eben ein „Krüppel“!:
Zitat:
"Ich bin zum Kriechen auf die Welt gegeben."
Zitat:
„Kann ich als Krüppel ...“
Da ist kein arroganter Schnösel, der ihn „Krüppel“ nennt. Er selbst sieht sich als einen (ob physisch oder metaphorisch).
Er lebt(e) als Opfer ohne Perspektive, das sich danach sehnt, mit Charon den Styx zu überqueren.

Der Begriff "Krüppel" muss - so finde ich - an dieser Stelle stehen, weil er das zentrale Symbol für das unglückliche Leben des Protagonisten darstellt.

Übrigends.
Das Wort „Krüppel“ funktioniert nicht (nur) als ein beleidigendes Schimpfwort für beeinträchtigte Mitmenschen.

Ich weiß nicht, ob sich noch jemand an die „Krüppelgruppen“ aus den 70-iger und 80-ziger Jahren erinnern kann.
Damals fanden sich Körperbehinderte zusammen in eben diesen Krüppelgruppen. Sie strukturierten ihre Selbsthilfearbeit neu. Sie agierten nicht mehr gemäß dem gesellschaftlichen Klichees des Behinderten als nette, schüchtern defensive Hilfsbedürftige, sondern sie vertraten engagiert, professionell, durchaus auch manchmal auch laut ihre Interessen. So befanden sie auch die öffentlich-rechtliche akzeptierte Bezeichnung als Menschen mit Behinderung als verharmlosend und belanglos. Bei ihren öffentlichen Auftreten nannten sie sich selbst durchaus selbstbewusst: „Krüppel“.





Hallo Epilog,

nachdem ich deine Worte gelesen hatte, gefiel mir mein Sonett wieder deutlich besser als zu dem Zeitpunkt, als ich es zweifelnd in die Post gab.
In der ersten Strophe heißt es:
Zitat:
Ein Stahlgerüst krümmt sich in meinem Bauch,
aus meiner Nase rieseln Ruß und Rauch.
Als mir dieseZeilen einfielen, gingen mir einige Bilder durch den Kopf.

Natürlich dachte ich an die Selbstbildnisse von Frida Kahlo, z.B. an das Bild: "Die gebrochene Säule"
https://wikioo.org/de/paintings.php?...=Frida%20Kahlo
Ich will gleich auf den gravierenden Unterschied zwischen diesem Bild und meiner Vorstellung hinweisen:
Frida Kahlos Stützgerüst lässt keine Krümmung zu, es streckte und längte sie.
Dagegen krümmte die Stütze, die im Gedicht erwähnt wird, sich im Bauch und beugt den Rumpf und die Wirbelsäule, sie krümmt. „Krüppel“ meinte ja auch im Mittelalter der Gekrümmte.

Ich erinnerte ich mich an ein wiederkehrendesTraummotiv, das mir zeigte, wie wenig Rücksicht ich auf mein überanstrengtes Herz nahm. Ich konnte im Traum sehen, unter welchen Bedingungen es arbeiten musste.
Mein Herz war riesig. Es war zu einem Teil ein alter mechanischer Apparat, oftmals geflickt, notdürftig repariert, kaputte Kabel, angetrieben von einer Art Dampfmaschine. Zum anderen lebendes, altes, verbrauchtes Gewebe, narbig, angerissen, verklebt. Es war laut und rumpelte, aber es schob einen alten Frachter vorwärts.


Ich stelle mir den Krüppel im Gedicht als einen notdürftig reparierten Mensch vor. Er wurde nicht gepflegt oder sogar geheilt, er wurde repariert. Ob er die Reparatur selbst wählte oder von anderen dazu motiviert wurde, es bleibt ein unmenschliches Verhalten. Seine inneren Ersatzteile sind nicht auf dem neusten Stand, es sind eher hydraulische Maschinen aus früheren Zeiten. Sie funktionieren gerade noch. Passend zu der Verachtung und geringen Wertschätzung des „Krüppels“ drückt ihn auch sein Selbstbild, welches einen Widerstand gegen seine Lebensverhältnisse erst gar nicht in Betracht ziehen lässt:
„Ich bin zum Kriechen auf die Welt gegeben!“

Auf deine Frage: nein, ich dachte nicht an "Die Fighting Temeraire wird zum Abwracken geschleppt" von William Turner. Ich kannte das Bild nicht.
Mir schwebte ein älteres, hydraulisches wirkendes Teil vor, das von einem schmutzigen, benzin- oder dampfbetriebenen Motor angetrieben wurde.





Ich habe das Bild "Der Selbstseher" (II) von Egon Schiele irgendwann schon mal zur Kenntnis genommen. Ich kannte es. Das meinte ich jedenfalls. Bisher. Aber jetzt erst habe ich es in richtiger Spannung und mit Aufmerksamkeit betrachtet. Und ich bin erschrocken.
Nur die Art und Weise, wie sich in Schieles Bild der Krüppel und Gespenst – so nenne ich die beiden Figuren einfach mal - aufeinander ausrichten, stimmt nicht mit der überein, wie sie das im Gedicht taten. In Egon Schieles Bild stehen die beiden Figuren hintereinander. Im Gedicht stehen sich die Protagonisten gegenüber. Ansonsten bin ich verblüfft, wie nahe sich Bild und Gedicht sind.
Die hervorgehobene, riesige Hand, die Augenhöhlen, der leere und doch durchscheinende Blick, das schmutzige Licht, das angedeutete Vorbeugen der zwei Figuren, die erschöpften, leeren Gesichter usw. passen in das Assoziationsfeldes um das Gedicht.
Der Hintergrund zeigt zum einen eine Wand im Keller eines Gebäudes und zum anderen mürbe Decken und Leichentüchern. Ich fühlte mich an Katakomben erinnert.

Vielleicht beschreibt das Gedicht die Begegnung zweier Figuren, die dort „Krüppel“ und „Gespenst“ genannt werden. Und das Bild zeigt, was ca. 2 Minuten später sein könnte: ein Krüppel auf dem Weg zu Charon, von einem Gespenst dabei unterstützt und gehalten, aber auch gestoppt und behindert.
Ich finde nicht nur einige Details, die „passen“. Auch die Grundstimmung beider Artefakte zeigt in die gleiche Richtung, eine latente Todessehnsucht ist spürbar.
Das Bild "Der Selbstseher" (II) von Egon Schiele bewegt mich auch jetzt noch. Es kommt mir vor, als ob ich Figuren aus meinen Träumen sehen würde.

Dass du diese Parallelen in Egon Schieles Bild und in meinem Gedicht wie selbstverständlich erkennen konntest? Ich bin beeindruckt!

Vielen Dank
Flocke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2022, 12:40   #6
männlich Epilog
 
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Standard Noch was zu den Bildern

Hallo Flocke
Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
Auf deine Frage: nein, ich dachte nicht an "Die Fighting Temeraire wird zum Abwracken geschleppt" von William Turner. Ich kannte das Bild nicht.
Es wäre schon ein abenteuerlicher Zufall, wenn Dir genau dieses Bild von Turner eine Anregung zu dem Gedicht gegeben hätte - ich meinte das hier allgemeiner und schrieb deshalb "hattest Du so was im Hinterkopf?". Bei mir löste es unter anderem diese Assoziation aus, das Gemälde schmückte vor über 30 Jahren den Umschlag zu "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny und hat mich wohl ebenso fasziniert wie der Roman. Aber ein ausrangierter oder nur notdürftig reparierter Motor oder eine Maschine schwebte Dir ja selbst als Sinnbild vor - so sollten lyrische Bilder jeweils individuelle Assoziationen auslösen.

Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
In Egon Schieles Bild stehen die beiden Figuren hintereinander. Im Gedicht stehen sich die Protagonisten gegenüber.
Auch mit dieser Anmerkung hast Du natürlich vollkommen recht. Außer dem Schatten, der aus einem selbst heraustritt, waren es wohl auch die Verse "ein sanfter Griff um mein Genick" sowie "und hebt nach altem Brauch die Hand", die sofort wieder das Bild vor meinem inneren Auge erstehen ließen. Der bleiche Schatten hinter der zentralen Figur: Hält er sie fest, gibt er ihr Halt, versucht er, sie an sich zu ziehen? Vor allem aber die riesige Hand, die ja auch Du beschreibst: Ist sie zum Gruß erhoben oder doch zur Abwehr? Und wem gehört sie überhaupt? Dem Selbstseher wohl eher nicht, das würde anatomisch gar nicht passen, und er scheint die Hand mit seinem anderen Arm eher an den eigenen Körper zu pressen. Gehört sie vielleicht sogar einem "Gegenüber", das im klassischen Sinne als "der Betrachter" bezeichnet werden würde - und vielleicht ist ja sogar damit eigentlich der "Selbstseher" gemeint? Auch hier wieder Fragen über Fragen und keine allgemeingültigen Antworten - das macht (meines Erachtens!) Kunst und Dichtung aus.

Schiele hat noch eine ganze Reihe weiterer Bilder in diesen Erdtönen gemalt: Tod und Mädchen, Tod und Schwangere etc., vielleicht hast Du die auch schon gesehen. Sie erschrecken ebenso - und regen zum Nachdenken an.

Einen schönen Sonntag wünscht

Epilog
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Alt 27.03.2022, 19:03   #7
männlich Flocke
 
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Standard nachgereicht, Gedanken zu Zäsur und Pause

Hallo zusammen!


Wenn wir die Form des Sonettes im Blick haben, dann kaprizieren wir uns gerne auf die
(1) Organisation der Strophen,
(2) auf den Versfuß und auf
(3) das Reimmuster.


Die drei Formrubriken sind sozusagen die großen Drei des Sonetts!
Es scheint eine Art Gewohnheitsrecht zu existieren, das uns auffordert, spezifische Vorgaben des Sonetts tunlichst genau einzuhalten.
Das Gedicht Styx folgt diesen Weisungen recht genau, es übernimmt diese formellen Muster in folgender Weise:


(1)
---> 4 Strophen; Zwei Quartette und in der Folge zwei Terzette:
______ ______ ______ ______
______ ______ ______ ______
______ ______ ______ ______
______ ______


(2)
---> 5-hebiger Iambus; dieser alternierender Rhythmus ist allen Zeilen untergelegt;
x X x X x X x X x X (x)
x X x X x X x X x X


(3)
---> abba, cbbc, dee, dee, (wobei die umarmenden Reime in den Quartetten a ...a, c … c mit einer klingenden Kadenz enden, alle anderen Reime mit einer stumpfen.)

-----a -----c -----d -----d
-----b -----b ----e -----e
-----b -----b ----e -----e
-----a -----c

Die Reime (a → geben/leben) und (c--> gegen/Segen)) sind sich sehr ähnlich:
____________________________________


Ich möchte noch einen Formaspekte nennen, der nicht nur in diesem Gedicht wirksam ist. Und der als konstituierendes Formungselement unterschätzt wird:
Die Pause!
Wie sehr sie den Fluss und den Rhythmus des Textes prägt und ihn damit auch gestaltet, wird dann unmittelbar einleuchten, wenn der Text laut gesprochen wird.
Pausen geben den Zuhörenden – und dazu zählt auch der Vortragende - das Signal, dass eine Zeile, eine Strophe und ein Gedicht beendet ist. Sie sind sozusagen die Grobstrukteure, die semantische Sinneinheiten trennen. Sie nehmen ihre Aufgabe so selbstverständlich wahr, dass sie manchmal gar nicht mehr gesehen und dann leider auch nicht mehr interpretiert und auf ihre Aufgabe hin reflektiert werden.
Pausen finden sich natürlich auch innerhalb einer Zeile. In der klassischen Poetik heißen sie dann Zäsur. Zäsur und Pause sind nicht deckungsgleich! Ich bevorzuge den Begriff Pause, weil er im Gegensatz zu Zäsur eine sinnliche Dimension eröffnet.
Ich hoffe, dass meine Gedanken um die "Pause" zeigen, dass Sprechen und lautes Lesen neue Aspekte eröffnen und routinierte vertiefen können.

Ich werde in einem Schema, das ich vom Gedicht „Styx“ zu abstrahieren versucht habe, alle Sprechpausen markieren (also auch die zuvor erwähnten Silben- und Strophenpausen). Ich differenziere nicht in große und kleine Pausen. Und natürlich kann man im Einzelfall anderer Meinung sein.

Zitat:
Styx

Ich bin zum Kriechen auf die Welt gegeben!
Ein Stahlgerüst krümmt sich in meinem Bauch,
aus meiner Nase rieseln Ruß und Rauch.
Kann ich als Krüppel noch mit Anstand leben?

Mir kommt mein eigenes Gespenst entgegen.
Es beugt sich tief und hebt nach altem Brauch
die Hand. Sein Atem geht und mit dem Hauch
umspielt mich Aussatz. Ist das Gottes Segen?

Der Schatten ruht. Kommt nun der Augenblick?
Was soll es? Niemand da, der mich bedroht.
Was ist schon Angst, was Hass? Ein bisschen Not!

Ein Kuss, ein sanfter Griff um mein Genick
und unbedrängt steig ich ins leere Boot.
Ich halt die Hand. Was kümmert mich der Tod!
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Wie gesagt, die Pausen finden m.E. oft nicht genügend Aufmerksamkeit. In diesem Gedicht sind sie so häufig und so offentsichtlich strukturbildend, dass sie nicht zu übersehen sind.
1) Außer am Ende der einzelnen Zeilen und am Ende der ersten Strophe gibt es bis zur Mitte des 2. Quartetts keine internen Pausen.
2) Dann ziehen in Z 6 und Z 7 zwei Enjambements den Sprachfluss ein Stück in die Länge über die „natürliche“ Pause am Zeilenende hinaus. Der Vortragende braucht etwas mehr Luft. Die nächste Pause, die jetzt zum ersten mal im Text intern in Z 7 passiert, lässt ihm dann Zeit, wieder einzuatmen. In Z 8 geschieht das Gleiche.
3) Alle Zeilen in der 3. Strophe imponieren mit internen Pauseneinschnitte, die letzte (Z 11) lässt gar zwei entstehen. Passend zu den Pausen und dem kürzeren Sprecheinheiten finden wir kurze Sätze. Diese Sätze enden mit leicht erhobener Stimme, syntaktisch motiviert durch die vielen Fragezeichen.
4) In der letzten Strophe kann man vielleicht eine Minipause nach dem Wort „Kuss“ hören. Sicher aber dominiert eine größere Pause in der letzten Zeile (Z 14): „Ich halt die Hand (Pause) ...“. Kurz danach endet das Gedicht mit einer großen Pause. Das letzte Wort ist „Tod“. Danach ist Schweigen!

Obwohl das Metrum (fünfhebiger Iambus) durchgehalten wird, zeigt sich der Sprechfluss in dynamisch wechselnder Weise.
Die erste Strophe ist „neutral“. Das lyrische Ich gibt in einem ruhigen und gefassten Moment eine metaphorische Zusammenfassung seines Lebens.
In der 2. Strophe verlängert sich der Sprachfluss um zwei Takte. Die darauf folgende Pause muss deswegen etwas länger geraten und fällt zudem auf, weil sie innerhalb einer Zeile fällt. Inhaltlich wird die Begegnung von Krüppel und Geist vorgestellt. Der „erzählende“ Krüppel braucht etwas mehr Zeit seinen Eindruck, seinen Schreck zu verarbeiten.
Die Gedanken werden in Strophe drei hektisch, Gefühle werden angedeutet, Fragen gestellt. Kurz und kurzatmig.
Mit dem Kuss und der Berührung wird auch die Sprache ruhiger, der Styx wird erreicht. Der Krüüppel greift die Hand, hinter ihm liegt seine Geschichte, ein nachdenklicher Moment, ein Sehnen, ein Abschiednehmen und dann steigt er ins Boot.

Der Sprachfluss unterstützt, spiegelt, verstärkt, begründet das, was im Gedicht passiert. Der Blick auf die Pausengestaltung gibt uns einen Zugang, um zu verstehen, wie Sprache und Inhalt zusammenwirken und das Gedicht prägen.


Grüße von Flocke
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