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Alt 31.01.2022, 23:56   #1
weiblich percaperca
 
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Standard Mitten in der Luft 3

Als Elena sich im Herbst entschloss, nach München zu kommen, waren drei Jahre ins Land gegangen.

Sie hatte ihren Master in Meeresbiologie gemacht und immer wieder an Christian gedacht – an seinen breiten Rücken, seine Pranken, die so sanft gewesen waren und vor allem an das, was er zu ihr gesagt hatte. Die Sicherheit, die er ihr damals in ihrem gefühlten Nichts gegeben hatte, fand sie bei niemandem wieder. Immerhin hatte sie sich seitdem nicht mehr als naive Lolita fühlen müssen, obwohl es niemanden gab, bei dem sie sich einbilden durfte, eigenständig zu sein und Rechte zu haben. Viele fanden sie anziehend und wollten sie ins Bett bekommen; daran, was sie dachte, glaubte, hoffte und wonach sie sich wirklich sehnte, war aber niemand interessiert.

Als sie diesem Typen in Spanien begegnete, war sie noch Jungfrau gewesen. Die paar Männer, denen sie zwischenzeitlich nachgegeben hatte, waren keine Glücksgriffe, sondern hatten den Problemen, die sie selbst in sich trug, nur noch weitere hinzugefügt, verständnislos, begriffsstutzig und kleinkariert, wie sie ihr vorkamen. Sie ließ keine Luftballons mehr für sie platzen, sondern kam sich selbst vor wie einer, wenn sie mit ihnen schlief; eine aufgeblasene Puppe, ein Hohlkörper, an dem man sich abreagierte, sonst nichts.

Die Sehnsucht nach dem Unterwassermann, nach seiner Anteilnahme, seinem Verständnis, nach seinen Sichten und seiner Stimme verblassten nicht. Sie hatte in Fachzeitschriften und im Internet immer wieder nach Arbeiten über Renken und andere Süßwasserfische gesucht und ihn dabei entdeckt. Er war nicht nur Privatdozent an der Münchner Ludwig-Maximilians-Univeristät, stellte sich heraus, sondern hatte Dutzende Unterwasser-Dokus für verschiedene Sender gemacht und ein Buch veröffentlicht. Kein Fachbuch, sondern eine Sammlung von Aphorismen, Impressionen und Kurzgeschichten: „Mitten im Tegernsee“.

Sie hatte sich das Buch sofort gekauft und so oft darin gelesen, dass die Seiten fleckig geworden waren und sie manche Geschichten fast wörtlich nacherzählen konnte. Auch jetzt hatte sie es mit dabei, auf dem Weg nach München, in ihrem klapprigen, roten Golf, der bis über den Dachträger hinauf mit Wäsche, Schuhen, ihrem Tauchzeug und allem vollgestopft war, was ihr wichtig schien. Ihre Bude in Potsdam hatte sie aufgelöst. Es würde kein Zurück geben, nur ein neues nach Vorn, mit oder ohne ihn, hatte sie sich geschworen.

Im Vorlesungsverzeichnis de LMU hatte sie seinen Namen gefunden. Er las über die Systematik der Fische, über Fischkrankheiten und über Fischverarbeitung. Sie hatte sich die Stundenzeiten herausgeschrieben und würde mitten in eine seiner Vorlesungen kommen. Sie war zu allem entschlossen. Seit sie nach dem Ende des Staatsexamens entschied, ihn aufzusuchen, hatte sie die Pille genommen. Und eine Tüte voller Luftballons war mit dabei. Für alle Fälle. Es wäre dies ihr ureigener Teil vom Großen Ganzen, war ihr beim Packen vorgekommen, ohne den sie vielleicht nichts wäre in dieser anderen, in seiner Welt, nach der sie so Sehnsucht hatte. Seine wöchentliche Vorlesung „Die Süßwasserfische Europas und ihre wirtschaftliche Bedeutung“ begann um 14.00 Uhr c.t. im Hörsaal der Bayerischen Biologischen Versuchsanstalt im Univiertel in der Münchner Kaulbachstraße.

Um neun Uhr war sie schon in Hof, um zwölf in München-Freimann. An einer Tankstelle trank sie eine Tasse Kaffee und dachte sich ihren Weg weiter. Sie würde sich von ihrem Navi zur Linde Gas-Auslieferungsstelle leiten lassen und dort um Helium für die zwei roten Luftballons betteln, die sie, über sich schwebend, mitten in den Hörsaal hineintragen wollte, gespannt, wie er darauf reagieren würde. Falls er die Vorlesung überhaupt selbst halten sollte.

Die Luftballons waren nicht das allergeringste Problem. Sie hatte nur die zwei Hüllen hochheben und etwas von „Überraschung“ und von „Antrag“ sagen müssen, da wurden die beiden Männer im Auslieferungslager sofort eifrig, holten eine unverplombte Heliumflasche und flanschten einen Druckminderer an. „Sag halt!“, meinte der Jüngere der beiden, „nicht, dass deine Träume noch vor dem Ziel zerplatzen!“

Sie nahm die mit spitzen Fingern zugehaltenen, prallen Dinger entgegen, knotete sie geschickt zu und band sie an die mitgebrachten Paketschnüre. Die beiden Männer lachten, als sie fragte, was sie ihnen schuldig sei. „Jessas! Für so etwas und von einer Hübschen wie Dir nehmen wir doch kein Geld! Viel Glück!“ Elena band die Ballons an den Dachträger und fuhr bis ins Univiertel damit. Sie hatte inzwischen das Gefühl, als stünde sie noch einmal im Examen und müsste demnächst mutterseelenallein Rechenschaft vor einer gestrengen Kommission ablegen, die aus alten, sie durchdringend musternden Männern in dunklen Talaren und eckigen Doktorhüten bestand.

*

Es gab Tage, an denen Christian das Vorgefühl hatte, etwas Bemerkenswertes würde geschehen; wo Entscheidungen fielen, selbst oder von anderen getroffen, unumkehrbar. Heute war ihm schon beim Aufstehen vorgekommen, als läge etwas in der Luft. Etwas Bedrohliches konnte es nicht sein, sagte er sich, denn im Moment lief alles rund. Es war nichts in Sicht, was die Routine und sein Dasein an der Fakultät hätte stören können – die Vorbereitung einer nächtlichen Sammelexkursion im Eibsee am Fuß der Zugspitze; davor noch die Vorlesung in der Kaulbachstraße. Er freute sich auf seine Studenten, dann auf den See und auf die Taucher, die ihm aus Lust am Abenteuer auf den Grund des Sees folgen und die vom Licht ihrer Handscheinwerfer geblendete Krebse in die mitgeführten Sammelkörbe zählen würden. Nichts Besonderes oder Gefährliches also; nur Routine. Aber er liebte sie, weil dabei doch immer wieder etwas Neues zum Vorschein kam.

Von seinen Material- und Geräteschuppen daheim fuhr er mit dem Rad in die Uni. Der Hörsaal war wie immer fast voll besetzt mit Biologie- und Tiermedizinstudenten. Sie mochten seine Vorlesungen, weil er sie ebenso heiter wie spannend gestaltete, das Auditorium mit einbezog und immer viele Bilder und Filmsequenzen dabei hatte.

Heute waren die Drachenflosser an der Reihe. Er erklärte den Studenten, wie schlecht diese urtümlichen Tiere schwimmen konnten, weil sie keine Schwimmblasen hatten; dass man in ihnen bis vor wenigen Jahren ganz zu Unrecht schlimme Laichräuber in den alpinen Flüssen gesehen hatte, bis man sie auch in den tiefsten Tiefen der Bergseen entdeckt und gelernt hatte, dass sie auf ganz andere Nahrung aus waren – auf von oben bis nach ganz unten immer wieder für sie Absinkendes. „Wie bei ihnen zu Hause“, sagte Christian fröhlich, „wenn sie nächtens vor den Bildschirmen kauern und hoffen, etwas zu finden, was sie für ihre Diplom- oder Doktorarbeit stibitzen können. Auch Koppen sind nachtaktive Räuber. Nur dass sie nicht nach unten auf eine Tastatur oder nach vorn in den Bildschirm glotzen, sondern mit ihren übergroßen, extrem lichtempfindlichen Augen nach oben in die nächtliche Schwärze des Epilimnions starren.“

Er reckte seinen Hals, schob den Unterkiefer vor, fletschte die Zähne, riss die Augen weit auf und schielte an die Hörsaaldecke, währen er gleichzeitig mit seinen großen Handflächen neben dem Kinn wedelte, als seien es Brustflossen, und mit den Zähnen klappte. Die Studenten lachten und klopften mit den Fingerknöcheln auf die Pulte.

Christian löschte das Licht und zeigte Aufnahmen der Tiere, wie sie sich zwischen Geröll versteckten, mit Hilfe ihrer gespreizten Brustflossen mehr über den Grund hopsten als schwammen und das Maul blitzgeschwind aufrissen, wenn sie Beute erkannten. „Saugschnapper“, erklärte er. Mit dem Unterdruck, denn sie beim schnellen Öffnen ihres Rachens erzeugten, rissen sie ihre Beute an sich. „Also Obacht geben auf die Zehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sie demnächst wieder nächtens nacktbaden gehen. Sie werden dort nicht allein sein!“

Als er in das Gelächter hinein wieder Licht machte, sah er zwei große, rote Luftballons über der vorletzten Sitzreihe schweben und darunter ein Mädchen sitzen, das aussah die jene Elena, an die er sich über die Jahre immer wieder erinnert und sich gefragt hatte, ob sie wohl auf den richtigen Weg gelangt wäre. Kein Zweifel – das war sie. Nur ihr Haar war anders als damals. Sie trug es nicht mehr lang, sondern als Bubikopf.

Er brauchte ein paar Sekunden, um sich auf diese Situation einzustellen: „Schauen Sie doch, wer hier mitten in der Dunkelheit zu uns gefunden hat!“ Er deutete auf Elena. „Ein Besuch vom anderen Ende der Welt – wobei immer wieder gesagt werden muss, dass das Ende der Welt dort beginnt, wo der Freistaat Bayern aufhört. ‚Extra Bavaria non est vita‘, steht über unseren Kirchentüren. Kolleginnen und Kollegen, darf ich Ihnen vorstellen: Elena Unaussprechlich, Bewohnerin der Insel Laputa, die von einem drehbaren Riesenmagneten im All schwebend gehalten oder bewegt wird. Wer von Ihnen kennt die Reisebeschreibungen des Irischen Geistlichen Jonathan Swift? Siebzehntes bis Mitte achtzehntes Jahrhundert?“

Er machte eine Pause und blickte ins Auditorium. Zwei Mädchen hoben zögernd die Hand.

„Hm. Auf Laputa, schrieb Swift um 1720, wäre alles verdreht und würde verkehrt angefangen; die dortigen Wissenschaftler wären so vergeistigt, dass sie von ihren Frauen ständig aufs Neue zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben angehalten werden müssten. Sie schlügen dazu die Professoren mit luftgefüllten Schweinsblasen ständig auf Mund und Ohren, damit sie im Gespräch blieben und zuhörten. Offenbar wurde diese Technik weiterentwickelt, sehe ich gerade. Anfang des 18. Jahrhunderts gab’s noch gar keine Luftballons. Für wen hast du die denn dabei, Elena?“

Das Auditorium lachte wieder und drehte sich zu ihr um. Elena lachte mit und ließ erst den einen, dann den anderen Ballon über ihrem Kopf zerknallen. „Nur für Sie, Herr Professor. Für Sie ganz allein!“, sagte sie.
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