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Alt 24.05.2008, 02:42   #1
densely
 
Dabei seit: 05/2008
Beiträge: 22


Standard Kaffefahrt

Man fährt von der selbstgebauten Schnellstrasse über die selbstgebaute Abfahrt direkt auf den riesigen, neuen Besucherparkplatz. Die zwei Seiten, die in Richtung des Haupteingangs von Gebäude 21 weisen, werden von einer Doppelreihe grossblättriger Bäume gesäumt, deren Kronen genau würfelförmig geschnitten und in jeweils einer Flucht ausgerichtet sind. Obwohl jeder der 38 Bäume bestimmt 8 Meter hoch ist und die Kantenlänge der Kronenwürfel mindestens vier Meter beträgt, müssen sie neu sein; ich war das letzte Mal vor eineinhalb Jahren dort, da gab es an dieser Stelle nur Wiese und ein paar Schafe. Über einen im Pflaster farblich abgesetzten Weg und durch die quadrierte Allee gelangt man zu dem grauen Granitvorplatz, der den gesamten Raum zwischen zwei der fünf Armen des vierstöckigen, sternförmigen Gebäudes einnimmt. Unter trittfestem, ebenerdig in Edelstahl eingefasstem Glas verläuft ein kleiner, künstlicher, blau beleuchteter Bach, den man unweigerlich begehen möchte. So wird man nicht direkt zum Haupteingang geführt, sondern erst zu einer in den Himmel ragenden Skulptur, die wie ein unendlich langes, senkrechtes, dünnes Gleichheitszeichen aus Edelstahl aussieht. Wenn man davorsteht, sieht man auf Augenhöhe einen Monitor mit der Aufforderung „Bitte Hand auflegen“ und darunter ein verchromtes Blech in entsprechender Form. Das Metall fühlt sich kurz an, als würde es fast unmerklich vibrieren und nach einem Augenblick wird der Herzschlag des Handinhabers als Wellenform auf dem Monitor sichtbar. Die Wellen werden breiter, blaugelbbunt, pulsieren, entwickeln sich in wenigen Sekunden zu einer urzeitlich anmutenden Form aus Einsen und Nullen, die plötzlich an dem Stahlmonolith hinuntergleitet. In dem Moment erst merkt man, dass halbverspiegelte Bildschirme bis zum Boden reichen und dort das Glas ersetzen, dass über dem kleinen Wasserlauf angebracht ist. Obwohl das gelbe, tierähnliche Virtualwesen deutlich sichtbar hin und herschwimmt, ist auch das echte, plätschernde Wasser darunter gut zu erkennen. Begehbare, wasserunterspülte, berührungsempfindliche und durchsichtige LCD-Monitore, nur zum darauf herumlaufen, als Weg zu der grossen, zentralen Tür. Bei jedem Schritt schliesst das Datentier auf, so dass man zusammen mit ihm die Eingangshalle erreicht. Das echte Wasser endet vor der Schwelle, aber die Monitore strahlen in tiefen Blautönen wie das Meer unter dem Panoramafenster eines Glasbodenbootes und führen zu einem rechteckigen See aus siebenundzwanzig Bildschirmen, in deren Mitte eine weitere, zweieinhalb Meter hohe und ungefähr fünfzig Zentimeter breite Skulptur wie ein schmaler Zylinderabschnitt mit einer Trittfläche steht, die ein wenig an dieses Stargate aus dem Film erinnert. Das leuchtende Tier, das jetzt klare Konturen hat, schwimmt wie ein Quastenflosser in dem Monitorsee umher, bis man sich in das Rad stellt; dann fangen an der Innenfläche speichenähnliche, längliche, graue Prismen an zu rotieren, während sich das Tier gegenläufig aussen im Kreis bewegt. Einfach nur so. Schräg daneben gibt es an einer hochglanzpolierten Edelholztheke die Magnetkarte für die gläsernen Separatoren, die hier, nicht wie gleichnamige Geräte im Schlachthaus, in denen das Kopffleisch vom Schädelknochen getrennt wird, die Befugten von den Unbefugten scheiden. Die beiden Glasaufzüge dahinter führen in gläsernen Schächten in die oberen Stockwerke, wobei alle Geschossdecken ungefähr 10 Meter grosse, kreisrunde Aussparungen aufweisen, dort wo die Schächte hindurchtreten. Hinter den Aufzügen wieder Monitore, die es dem persönlichen Datentier erlauben, zu folgen. Dann erneut ein Foyer, Bauhaus, Starck, gemütliche Hochglanzlounges ganz in Weiss mit filigranen Raumteilern, Businessclass-Personal und vier Espressosorten, zum bitte einen Moment warten. Das gelbe Binärwesen huscht noch kurz über ein paar Glasbausteine, jetzt in der Wand eingelassen, und verschmilzt schliesslich mit einer grossen, feuerfarbenen Pixelmasse. Man wird persönlich abgeholt, von fremden Menschen persönlich mit Namen begrüsst und in einen hellen, sorgfältig durchdesignten Speiseraum begleitet. Excellente französische Küche a la Carte, 8 verschiedene Rotweine zur Wahl, ein Kellner pro Gast, beim Servieren Synchronballet mit diesen versilberten Tellerkuppeldeckeldingern. Dessert. Grappa. Ja, warum nicht auch noch einen Espresso, gerne. Jedes einzelne Detail vielköpfig durchdacht. Die Wasserhähne auf den Toiletten sind als oben offene Rinnen gestaltet, an deren Ende das Wasser gleich einer unsichtbaren Quelle wie aus dem Nichts entspringt, sobald man eine der beiden beleuchteten Sensortasten berührt. Der Wasserstrahl wird tiefblau hinterleuchtet und leitet das Licht wie eine dicke, gebogene Glasfaser in das schneeweisse Porzellanbecken; berührt man die andere Sensortaste, ändert sich nicht nur die Temperatur, sondern auch die Farbe des Wassers, über ein intensives Purpur zu einem hellen Rot. Zwei elektrische Regelventile, zig LEDs, Lichtsteuerung mit Temperatursensorik, Stromanschluss, alles nur für einen Wasserhahn, und davon gibt es viele. Im Meetingraum dann alles Edelstahl, schwarzer, hochglanzpolierter Stein, Chrom und dunkles Leder. Per Sensortaste kann man an jedem Platz ein Edelstahldisplay sowie eine Edelstahltastatur lautlos aus dem Tisch ausfahren und wieder verschwinden lassen. Jemand in einem besonders teuren Anzug betritt den Raum, lässt USB-Sticks verteilen und abdunkeln: Die Präsentation beginnt.
Danach, auf der Heimfahrt: Stau.
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