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Alt 28.04.2008, 23:35   #1
Middel
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 28


Standard Momente des Wartens

Einsam sitzt sie auf ihrem Stuhl und wartet. So wie sie es jeden Tag tut. Spätestens ab halb drei nachmittags. An das Warten wird sie sich wohl nie gewöhnen und auch nicht daran, dass Minuten manchmal wie Stunden erscheinen und Stunden wie Tage. „Merkwürdig“, denkt sie oft, „dass ich mich später an ganze Tagesabschnitte nicht erinnern kann.“ Es scheint ihr, als würde der Tag erst mit dem Abend und seinem Eintreffen beginnen. Ihre tägliche Arbeit ist längst zur Routine geworden, so wie die Serien, Talk- und Kochshows, die laufen, während sie putzt, ihre Kleider ordnet oder das Bett macht. Manchmal nimmt sie ganze Wäschestapel aus dem Regal, nur um sie danach wieder feinsäuberlich neu zu ordnen. Oder sie gießt die Blumen, die eigentlich noch genügend Wasser haben. Einige sind ihr so schon eingegangen. Das tut sie ausschließlich, weil sie diese Momente des auf dem Stuhl Sitzens und Wartens so hasst. So Momente wie jetzt.
Früher war es anders. Da konnte der Tag nicht lang genug sein und sie stellte manchmal einfach die Uhr zurück, um den Anschein zu erwecken, mehr Zeit alleine für sich zu haben. Mehr Zeit um einfach nur dazusitzen und nachzudenken. Mehr Zeit um ihn zu vergessen, wenn auch nur für Momente. Dass das nun nicht mehr geht ist allein sein Verdienst. Er hat ihr klargemacht, dass sie gar nicht allein sein kann, dass jede Minute, ja jede Sekunde ohne ihn eine verlorene ist. Mittlerweile lebt sie nur noch für die spärliche Zeit von 18, manchmal 19 Uhr, bis in die Nacht. Diese Zeit, die ihr einmal so schrecklich und verhasst vorkam, ist nun zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden.
„Ob ich die Uhr vorstellen soll?“, schießt es ihr durch den Kopf, „dann kann ich wenigstens so tun, als wäre es schon abends und die Tür würde sich jeden Augenblick öffnen.“ Sie streicht sich durch ihr frisch gewaschenes und gut riechendes Haar. Er mag es, wenn sie gut riecht, wenn sie sexy Kleidung trägt und dezent geschminkt auf ihrem Stuhl sitzt, wenn er eintritt. Sie weiß mittlerweile ganz genau, was ihn erregt, was ihn scharf macht und hin und wieder hat sie sogar einen Orgasmus, wenn er sie nimmt. Aber selbst wenn nicht, ist es ein Spiel für sie geworden, ein Spiel, bei dem sie die Regeln nun mitbestimmen kann. Es hat lange gedauert, damit sie das versteht, aber Zeit hatte sie ja genug und das Lernen fiel ihr nie schwer, das haben selbst ihre Lehrer gesagt.
Ob sie noch manchmal an ihre einstige Musterschülerin denken? Oder ihre Eltern, suchen sie immer noch nach ihr? Oh, wie sie diese Gedanken hasst, während sie hier sitzt auf ihrem Stuhl, in diesem Raum, der seit so langer Zeit zu ihrer Zelle avanciert ist. Am Anfang hatte sie noch Hoffnung, Hoffnung dieser Situation, dieser Lage, ihm, zu entkommen. Doch zu oft schon hat sich ihre Hoffnung in Nichts aufgelöst. Nein, da ist es besser ihm zu gefallen und eigentlich ist es ja auch gar nicht so schlimm. Wenn sie tut, was er sagt, bleibt sie unversehrt – zumindest äußerlich. Zudem betäubt er sie dann auch nicht und sie bleibt sie selbst, denn davor hat sie Angst. Fast so viel Angst wie vor den Momenten des Wartens auf ihrem Stuhl.
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