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Alt 14.12.2013, 08:42   #1
männlich Desperado
 
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Standard Der Weihnachtsbaum

„Ihr habt doch da diese herrliche Douglas Fichte am Dorfrand stehen, da könnt ihr sie als Christbaumschmuck dranhängen.“

Haben sie natürlich noch nichts von gehört und wissen nicht, was das denn sein soll, ein Christbaum. Diese Erfindung der Krauts ist noch nicht bis in die Provinzen des Südwestens vorgedrungen, in den Städten des Ostens siehst du immer mehr dieser Sternchenansammlungen funkeln und glitzern hinter den ausladenden Fenstern der aufragenden Häuserreihen. Ist ja auch wirklich schön anzuschauen, so ein festlich geschmückter, mit allerlei Tand behangener und mit brennenden Kerzen bestückter leuchtender Nadelbaum, das lässt sich so einfach nicht abstreiten. In den Wüstenregionen freilich gibt es ja nun nicht besonders viel Nadelgehölz, das wenige oben auf den Kämmen der Anhöhen ist zudem ziemlich mager und zerzaust, da wittern sicher schon einige Findige ein fettes Geschäft, wenn die Eisenbahn ganze Bündel von Tannenbäumchen aus dem dicht bewaldeten Norden ins karge Land karren wird. Ist nur eine Frage der Zeit, der Christbaum ist auf dem Vormarsch und wird den gesamten Kontinent erobern.

Nachdem ich ihnen diese festtägliche Errungenschaft anschaulich hab schildern können, sind sie umso weniger angetan von meinem Vorschlag seiner etwas absonderlichen Schmückung, das wäre dann doch nicht so ganz im Sinne des eigentlichen Anlasses, der Geburtstagsfestivitäten zu Ehren ihres Herrn und Erlösers, und ob sie diesem nun mit ein paar Aufgeknüpften eine Freude machen würden, wollten sie dann doch energisch in Frage gestellt wissen.

„Naja“, sag ich nach kurzer Überlegung, „ihr könntet sie ja mit Pech beschmieren und anzünden, dann leuchten sie weithin übers Land wie riesige Kerzen, das hätte doch durchaus was feierlich Erhabenes.“

Gefällt ihnen auch nicht. Wie ihnen zweckmäßiger Gewinn aus der Widrigkeit von Unvermeidlichem überhaupt völlig fremd zu sein scheint, diesem skrupulösen Haufen biederer Bürgerseelen fehlt es einfach an der nötigen Vorstellungskraft und dem Mut, noch nie Dagewesenes zu wagen.

„Von mir aus werft sie den Kojoten zum Fraß vor, was wollt ihr denn eigentlich“, frag ich sie leicht angefressen, „sollen die Schufte ungeschoren davonkommen und fröhlich so weiter machen wie bisher? Ist euch das lieber? Meinetwegen, aber dann fragt nicht länger, wo all eure Träume von einem neuen Leben in Freiheit abgeblieben sind. Diese Scheißkerle haben sie euch geraubt und ihr hättet ebenso gut aufm alten Kontinent bleiben können, also steht gefälligst dazu und macht hier keinen auf seufzendes Ungemach, aus dem es keinen Ausweg gibt! Entweder ihr tut was zu tun ist, richtig und gründlich und wie es die Umstände verlangen, oder ihr lasst es bleiben, dann jammert aber auch nicht länger rum!“

Ich werde die frommen und gottesfürchtigen Leute dieser neuen Siedlungen nie verstehen. Da kommen sie übers Meer gefahren auf löchrigen Nussschalen, ziehen in klapprigen Prärieschonern wochen- und monatelang durch die Gegend unter größten Strapazen und Entbehrungen, finden sie dann irgendwo ein „indianerfreies“ Stück Land mit Wasser, lassen sie sich nieder und errichten ein Städtchen aus dem Nichts. Damit aber ihr redliches Schaffen auch seine Ordnung hat, wählen sie die größten Sprücheklopfer, Dampfplauderer, Großmäuler und Wichtigtuer zu ihren Obrigkeiten und Gewalten, den schamlosesten Lügner und Blender zum Bürgermeister, den rauflustigen und schießwütigen Säufer zum Sheriff und den bestechlichen und skrupellosen Betrüger zum Richter. Klar haben die Schurken sie mit falschen Versprechungen dazu verführt und sich ihr Ansehen mit List und Tücke erschlichen, aber wenn sie dann -kaum gewählt- ihr wahres Gesicht zeigen und ihr kleines Reich nach dem Bilde ihrer Willkür und zu ihrer steten Vorteilnahme errichten, sprich sich als gemeingefährliche und heimtückische Tyrannen beweisen, ziehen die Leute die Köpfe ein und murren höchstens: Sie sind von uns gewählt worden und in ihre Ämter erhoben, also ist es unsere Bürgerpflicht, ihnen zu gehorchen und den Nacken ergeben unter das Joch ihrer Herrschsucht zu beugen.

Komm ich dann zufällig durch ihr Nest geritten, das beim letzten Mal noch nicht da war, wo es jetzt wie ein Pilz aus dem Boden geschossen ist, hab ich die Verhältnisse durchschaut, noch bevor ich die ersten Häuser erreicht habe. Das Unheil liegt sozusagen in der Luft, es stinkt nach erzwungenem Frieden und tagtäglichem Unrecht aus sämtlichen Ritzen der Behausungen, und es stinkt gewaltig zum Himmel. Und finde ich nach einigen nicht ganz ungefährlichen Nachforschungen ein paar vernünftige Leute, die unter den unerträglich gewordenen Umständen leiden und mutig genug sind, ihren Unmut nicht zu verbergen, mach ich denen ohne große Umschweife klar, dass es nur einen einzigen erfolgversprechenden Weg gibt, sich einer Brut wie dieser zu entledigen: Nämlich den, sie ein für allemal unschädlich zu machen und ihre Plage endgültig aus der Welt zu schaffen. Denn es reicht nicht, sie mit gemeinsamen Kräften aus der Stadt zu jagen, es gibt immer genug Gesindel da draußen, das für jede Sauerei zu haben ist für ein paar lumpige Dollars und fadenscheinige Versprechungen, mit dessen mordbrennender Verstärkung die Verbannten zurückkehren werden, früher oder später, aber mit Gewissheit, um sich grausam zu rächen, die Machtverhältnisse nach ihrem Gusto zu ordnen, ihre vorübergehend verlorene Herrschaft wiederaufzurichten und die Dinge noch viel schlimmer zu machen und unerträglicher zu gestalten, als sie jetzt schon sind.

Und da fangen die gewissenhaften Leute auf einmal an zu schlucken und zu schwitzen und zu zaudern und zu grübeln, das sei nicht rechtens, Menschen ohne ordentliches Verfahren einfach so hinzurichten, da würden sie genau dasselbe tun, wie die nicht zögern, es widerrechtlich zu betreiben nach Lust und Laune und Gutdünken, das wäre Selbstjustiz und primitive Revolte, sie würden sich mit dieser frevelhaften Bluttat auf die Stufe ihrer Peiniger stellen und so ihren Unterdrückern gleich werden. Wenn ich ihnen dann behutsam und geduldig verständlich machen will, dass es unter diesen Umständen eine weitaus größere Schuld bedeutet, das Unrecht untätig hinzunehmen und so zwangsläufig zu Handlangern der Bösen zu werden und zu ihren schweigenden Mittätern, anstatt sich aufzuraffen, der Gerechtigkeit Genüge zu tun und sich die Hände mit Blut zu beflecken, weil es keine andere Möglichkeit mehr gibt, kommen sie schließlich mit der Bibel, mit der Heiligkeit des Menschenlebens und der Gleichheit und der Moral und dem lieben Frieden und der Ablehnung jedweder Gewalt, es ist müßig und bedeutungslos, was sie da so alles an Einwänden vorzubringen wissen, weil diese lediglich dazu dienen, ihre Feigheit und Unentschlossenheit zu kaschieren und zu nichts anderem.

Sie würden es stumm und widerspruchslos hinnehmen, wenn es diesen ruchlosen Banditen in den Sinn kommt, mich des Aufwiegelns zur Rebellion für schuldig zu befinden und meinen Hals am Galgen zu strecken, ja sie würden um den Galgenbaum herumstehen und gottergeben dabei zusehen, sich insgeheim denken, das dies ein himmelschreiendes Unrecht sei, müde mit den Schultern zucken und mit hängenden Köpfen nach Hause trotten. Und weil ich das nur allzu gut weiß, bin ich rechtzeitig aus ihrem verfluchten Kaff verschwunden und überlasse sie ihrem selbstgewählten Schicksal. Wer sich weigert, sich selbst zu befreien, den musst du wohl oder übel in Gefangenschaft zurücklassen, wer sich weigert, sich selbst zu helfen, dem ist nicht zu helfen.

Dafür werden im nächsten Jahr ein paar Weihnachtsbäume in ihren armseligen Buden leuchten, mittels Kerzenschein zum Strahlen gebracht versteht sich.

Merry Christmas kann ich da nur sagen.
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.12.2013, 20:57   #2
männlich Ex Pedroburla
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Zitat:
Zitat von Desperado Beitrag anzeigen
Wer sich weigert, sich selbst zu befreien, den musst du wohl oder übel in Gefangenschaft zurücklassen, wer sich weigert, sich selbst zu helfen, dem ist nicht zu helfen.
Bin "gelächelt" ...
Ex Pedroburla ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.12.2013, 10:24   #3
männlich Desperado
 
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Zitat:
Zitat von Pedroburla Beitrag anzeigen
Bin "gelächelt" ...
Allemal besser als "geflügelt".

Die Quintessenz der Parabel ist ungefähr so bedeutungsschwer, Pedroburla, wie ein Sandkorn in der Wüste.

"Steht denn hier die Welt Kopf?"
"Klar tut sie das. Höchste Zeit also, sie zurechtzurücken."
"Das ginge aber nur mit Gewalt!"
"So what?"

Bei manchen Mitmenschen ist der Minderwertigkeitskomplex derart massiv ausgeprägt, dass sie nur dann zu existieren glauben, wenn sie andere runtermachen können. Je weniger ihnen das im wirklichen Leben gelingt, desto hemmungsloser leben sie es in der Anonymität einer Scheinwelt aus.

So lange sie bewundert werden und auf ihre Kosten kommen, strotzen sie vor Liebenswürdigkeit und glänzen mit interessierter und kompetenter Bewertung, kommt aber plötzlich einer und meint "spiel dich hier nicht so auf", werden sie schlagartig gallig, feindselig und bösartig, eben weil sie sich existenziell bedroht fühlen. Sie haben ja sonst nichts, um sich gewinnbringend definieren zu können.

Für mich als freien Mann, der kommt und geht wann und wohin er will, höchstens eine unerfreuliche Randerscheinung, für jemanden aber, der aus irgend Gründen entschieden hat, sich verbindlich in einer dergestalt dominierten Community niederzulassen, eine bedrückende Dauerbelastung, die jede spontane Kreativität lähmt.

Aber dagegen wehren will sich die überwiegende Mehrheit auch nicht -lieber schweigend erdulden als womöglich den Preis dafür zahlen- was also willst du machen?

Ich bin nur Beobachter, seit langem schon.
Desperado eben.
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.12.2013, 11:25   #4
männlich Ex Pedroburla
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Deine Wahrnehmung und Bewertung der "gruppendynamischen Prozesse" und Psychomechanismen in vielen virtuellen Foren ist der meinen sehr ähnlich > diese sind durchaus vergleichbar mit jenen auf Schulhöfen, in der Arbeitswelt bis hin zu denen in Altenheimen: mit "Platzhirschen", opportunistisch motivierter "Gruppen-" bzw. "Rudelbildung" usw. - da hilft wohl nur lächelnd, souveräne Gelassenheit ...*

* Falls ICH hier mal zur Projektionsfläche für bad vibrations werden sollte, wird es aber KEIN "Rückzugs-Gefecht" geben; das wäre MIR zu blöde und infantil, schade um die sinnlos vergeudete Kraft und Lebenszeit: die ich für MEIN kreatives "Spielen mit schreiberischen Optionen" brauche. Und "Dummheit" und Bösartigkeiten ignoriere ich ohnehin ...

Ich wünsche Dir, lieber "Desperado", alles Gute! Pedro
Ex Pedroburla ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.12.2013, 15:23   #5
männlich Desperado
 
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Zitat:
Zitat von Pedroburla Beitrag anzeigen
...wird es aber KEIN "Rückzugs-Gefecht" geben; das wäre MIR zu blöde und infantil, schade um die sinnlos vergeudete Kraft und Lebenszeit.
Das Einzige, was jedem halbwegs vernunftbegabten Menschen übrig bleibt-
und einer der Gründe, weshalb öffentliche, von herrschsüchtigen Egozentrikern "befallene" Foren über lange Jahre von genau den selben geltungssüchtigen Profilneurotikern kontrolliert und sabotiert werden, bis sie irgendwann "berüchtigt" genug sind, um gemieden zu werden und in selbstbespiegelnder Vereinsmeierei zu versanden.

Das ungenutzte Potential, das hier auf unnötige Weise verlorengeht, ist beachtlich, eine vergeudete Gelegenheit lebendiger Kommunikation und bereichernder Begegnung, die möglich wären und systematisch unterbunden werden. Aber nun, ist ja nix Neues.

Ich wünsch Dir, lieber Pedroburla, auch alles Gute!
Desro
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