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Alt 07.05.2008, 19:48   #1
Middel
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 28


Standard Ein ganz normaler Tag

Langsam zählt er die Schritte, die er macht. Er hat sie auswendig gelernt, es sind genau 48. 48 Schritte bis zur Ampel. Seit über 40 Jahren ist er nun blind und kommt ohne fremde Hilfe zurecht. Zwischenzeitlich hatte er mal einen Hund, so einen Blindenhund, der ihm eine Unterstützung sein sollte. Aber er kann Hunde nun mal nicht ausstehen, zudem ist er lieber allein, sein eigener Herr. „23 ... 24 ... 25“, er zählt immer halblaut, damit er sich hundertprozentig sicher sein kann, dass er keinen zu viel und keinen zu wenig geht. Schließlich ist die Straße vielbefahren und er hört auch nicht mehr so gut seit einiger Zeit. Man sagt ja, dass die anderen Sinne schärfer werden, wenn man einen verliert und das kann er nur bestätigen, aber wenn man über 60 ist, dann werden auch diese anderen Sinne langsam schwächer. Früher einmal, als seine Sinne noch alle tadellos funktionierten, war er sehr beliebt bei den jungen Damen. Heute sprechen sie ihn höchstens noch an, um ihm über die Straße zu helfen. Aber ein Dickkopf und Eigenbrödler wie er nun mal einer ist, lässt sich nur ungern helfen. Selbst wenn sie auch noch so eine süße Stimme haben und verführerisch duften. Nein, diese Zeiten sind längst vorbei, spätestens, seit seinem Unfall damals, der ihn schon mit 26 zum Krüppel werden ließ. Auch wenn die Anderen es nicht sagen, so hört er doch in ihren Stimmen, ganz versteckt im Unterton, dass sie genau das meinen. Ausnahmslos alle, bis auf die Kinder. Mit denen redet er gerne, weil sie so unbefangen sind. „36 ... 37 ...“
„Du Onkel ...“ Er ist verwirrt, es ist immer schwierig auszumachen, ob Andere ihn meinen, seit seine Ohren nicht mehr so wollen. „Ja?“, fragt er verlegen. Die Stimme scheint zu einem kleinen Mädchen zu gehören, vielleicht fünf, höchstens sechs Jahre alt. „Ich hab meine Mama verloren.“ Jetzt bemerkt er auch den traurigen Tonfall des Kindes. Hilflos bleibt er stehen. „Wann hast du sie denn verloren?“, fragt er in die Richtung, in der er die Kleine vermutet. Doch noch ehe sie antworten kann, hört er von weiter hinten eine Stimme: „Kati ... Kati.“ „Mama!“ Freudig entfernt sich das eben noch völlig aufgelöste Mädchen und lässt ihn stehen. „Bin wohl doch nicht der einzige Hilflose hier“, grummelt er verschmitzt und setzt seinen Weg fort. „45 ... 46 ...“ BOOOOM. Ein riesiger Knall erschüttert die Hengstenbergstraße, als eine Mutter und ihre kleine Tochter Zeugen eines dramatischen Verkehrsunfalls werden. Ein älterer Herr mit Stock läuft geradewegs auf die vielbefahrene Straße und wird von einem Laster erfasst. Geistesgegenwärtig hält die Frau ihrem Kind die Augen zu und zieht sie ganz nah zu sich heran. Sekundenlang herrscht Stille, dann fragt die Kleine: „Ist dem netten Mann etwas passiert, Mama?“
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