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Alt 28.04.2018, 00:02   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Selbstverschwunden

Ich muss vorwegschicken, dass ich schüchtern bin. Das hätte ich auch gerne der jungen Frau mitgeteilt, die mich seit geraumer Zeit von der Parkbank gegenüber anstarrte, während ich nach einem gelungenen Anfang für meine neue Geschichte suchte. Aber dafür bin ich zu schüchtern. Unbeirrt blickte ich auch dann in meinen Schreibblock, als sie aufstand und zu mir herüber kam. Sie setzte sich sehr viel dichter neben mich, als es notwendig gewesen wäre, aber ihre ganze Bewegung war ja ohnehin alles andere als notwendig. Weiterhin penetrierte sie mich mit ihrem Blick. Ich schaute ihr kurz, scharf an der braunen Haarsträhne vorbei, in ihre suchenden, grünen Augen und gab den Blick sogleich wieder auf, der an ihrer weißen Bluse und dem lavendelfarbenen Rock hinab erneut in meine Textfetzen glitt. Nun sprach sie mich an: "Jetzt weiß ich es. Ich habe die ganze Zeit überlegt, woher ich dich kenne. Du bist Schmuddi, nicht wahr? Ich habe all deine Texte gelesen." "Habe ich etwa einen Fan?", dachte ich und musste den Gedanken innerlich belächeln, obgleich: "Menschen, die Fans haben sind entweder wichtig oder interessant. Wichtig bin ich gewiss nicht, also muss ich wohl verdammt cool sein. Zerstöre diesen Eindruck nicht! Sag was Cooles!"

Also erwiderte ich mit vorgeblicher Routine: "Das hast du erkannt, obwohl ich gerade nicht am Pinkeln bin?" Sie lachte ausgelassen: "Von deinem Selbstportrait her habe ich dich erkannt." "Oh, ich hoffe, ich sehe in Wirklichkeit realistischer aus als auf meiner Zeichnung." "Ich fasse es nicht - du hast die Briefe an Babsi geschrieben!" "Ja, das tut mir leid." Im Ansatz ihres Lachens fängt sie sich sogleich und stellt richtig: "Nein, es ist nur eine unglaubliche Erfahrung für mich. Dein Buch ist das Beste, das ich je gelesen habe und, ohne schleimen zu wollen, ich kann mir nicht vorstellen, dass etwas Schöneres geschrieben werden kann. Überhaupt bewundere ich deine Geschichten und Gedichte. Ich habe sie alle gelesen." "Das ist sehr rührend, danke", bemerkte ich und das ist es ja auch tatsächlich - es ist ja kein unbedeutender Hergang, dass man mit seinen Worten einen solchen Abdruck in der Erinnerung eines anderen Menschen hinterlässt. Dennoch war mir die Situation einigermaßen unbehaglich, Komplimente einzustecken, ohne auch nur ein einziges austeilen zu können, ohne auch nur das Geringste über seinen Gegenüber zu wissen.

Interessant, welchen Unterschied Details in der Formulierung machen können: Hätte sie gefragt, ob ich schon etwas vorhabe, hätte ich dies sicherlich mit überflüssiger Entschuldigung bejaht. Da sie aber fragte, ob wir einen kleinen Spaziergang unternehmen wollen, konnte ich diese Ausrede nicht aussprechen, obwohl sie mir als erstes einfiel. Gerade aber als ich ihrem Vorschlag zustimmte, dachte ich: "Warum nicht? Warum nicht zur Abwechslung mal bewundert werden? Zur Abwechslung mal nicht derjenige sein, der wieder einmal vergessen hat, den Müll runterzubringen. Wenn ihr doch daran gelegen ist, haben wir schließlich beide etwas davon. Und was könnte schlimmstenfalls schon passieren?" Als wir uns von der Bank erhoben, legte sie ihren Arm um meinen und ich wusste nicht, wie ich mich dagegen wehren sollte. Ich wünschte, ich hätte gelernt, eine solche Situation mit einer Abwehrbewegung zu lösen, die elegant genug ist, dass wir beide unser Gesicht wahren können. Nur konnte ich beim besten Willen nicht wissen, dass dies jemals notwendig werden würde.

So schlenderten wir also Arm in Arm durch den Park und sie wollte wissen, ob mein Buch auf einer wahren Begebenheit beruhe. "Ähm... also, ich will nicht ausschließen, dass ich in meinem Leben schon mal verliebt war", druckste ich herum "und das ein oder andere Erlebnis ist wohl auch in die Geschichte eingeflossen - ja." "Sie muss eine ganz besondere Person sein, dass sie dich zu solch gefühlvollen Worten inspirierte." Ich ließ es so stehen, um das Thema zu wechseln: "Nun weißt du ja Einiges über mich, aber im Grunde weiß ich überhaupt nichts über dich." "Ach, da gibt es nicht viel Interessantes. Ich bin gebürtige Schwäbin und mit 16 Jahren nach Berlin getrampt und dann einfach hier geblieben." "Oh, das ist ganz schön mutig." "Ach, ich hatte eben immer diesen Drang, den du in deinem unvollendeten Sonett beschrieben hast: "Es zwang mich die Unrast hinaus in die weiten, die wallenden Felder, die stumm mich gemacht.""

Sollte ich geschmeichelt oder verängstigt sein, dass sie meine Gedichte besser kennt als ich? Meine Seele erstarrte zu einem Einkaufswagen, in den sie ihre Erfahrungen, Empfindungen und Probleme hineinlegte und den sie vor sich her schob. "Überhaupt kann ich mich ganz in deinen Worten wiedererkennen", fuhr sie fort: "Deine Sprache ist das Tor zu meiner Seele. Eigentlich sollte ich mich schämen, so direkt zu dir zu sein." Ein Hauch von Normalität schwebte zwischen ihren Worten und wurde doch sogleich verweht: "Aber mir ist es, als ob wir uns schon lange kennen und wie hast du einmal geschrieben: "Wenn sich ihre natürliche Zuneigung zu mir im natürlichen Ausdruck meines Seins spiegelt, dann, nur dann kann ich erlöst werden."

Ich hatte nicht bemerkt, wie sich der Himmel zuzog und wurde entsprechend von dem plötzlichen Platzregen überrascht. Sie eilte durch die Straßen und zog mich hinter ihr her, bis wir vor einer Tür unter einem Vordach zu stehen kamen. "Hier wohne ich", erklärte sie: "Komm doch mit rein! Du kannst so nicht weiter herumlaufen; sonst erkältest du dich noch." Auf dem Namensschild neben dem Hauseingang war "Natascha Riedel" zu lesen. "Gut, sie mag ein bisschen seltsam sein", dachte ich "aber jemand, der sich die Zeit nimmt, seinen Namen mit Blumen zu verzieren, kann so verkehrt nicht sein." Durch einen kleinen pragmatisch ausgestatteten Flur gelangten wir in ihr Wohnzimmer. Die drei quadratischen Kissen auf dem weißen Sofa hatten denselben Abstand zueinander und waren vermutlich in stundenlanger Arbeit aufgeschüttelt und geglättet worden. Alles in diesem Zimmer war in solcher Ordnung, dass alle Spuren des Lebens beseitigt wurden, fast als hätte hier noch nie jemand gelebt.

"Zieh dein Hemd aus!", befahl sie unvermittelt und ich zeigte mich verwundert: "Bitte?" "Dein Hemd! Es ist doch ganz nass. Ich werde bestimmt irgendwo noch ein Hemd meines Mannes finden, das dir passen wird. Keine Sorge, er ist tot." "Oh, das tut mir leid." "Nein, nein - er war ein Arschloch. Die Hose auch! ... Die Hose auch! Ich lasse dir ein Bad ein." "Ich weiß ja sehr zu schätzen, was du für mich tust, Natascha, aber..." "Ich bin nicht Natascha!", fuhr sie mich an und senkte sogleich ihre Stimme in eine sanfte Vertraulichkeit: "Ich bin's - deine Sanny! Ich weiß, du hast allen Grund, mich vergessen zu wollen. Aber erinnere dich an unsere wundervolle Zeit, als wir wie Kinder durch die Brombeerbüsche rannten und die Nacht auf dem Bergener Hang verbrachten! Ja, ich habe Fehler gemacht. Mein schlimmster Fehler war, dich gehen zu lassen. Doch ich werde dich nie wieder gehen lassen. Für immer werde ich bei dir bleiben."

Je rätselhafter sie mir wurde, umso klarer wusste ich, dass ich ihr lieber nicht widersprechen sollte. Also zog ich meine Hose aus und ließ mich von ihr zum Bad führen. Da saß ich also in der Wanne einer Frau, die sich für die literarische Figur hielt, die ich erschaffen hatte und wusste nicht, wie ich aus diesem Alptraum wieder hinaus finden sollte. Also beschloss ich, das Beste aus der Situation zu machen und mein heißes Bad zu genießen. Ich tauchte ein in eine Zeit, als der Drang zur Weite mein einziger Daseinszweck war. Ich war meine Uhr, mein Kompass und mein Anker. Als ich wieder auftauchte, stand sie vor mir - nackt und mit ehrlichem, entschlossenem Blick. Sie stieg zu mir in die Wanne, aus der ich wie aus Grabestiefe in ihre Augen blickte, die sich mir im Takt der Wellen näherten und entfernten, während sie mein Gedicht in einer Symbiose aus Schwärmerei und Drohung sang:

"Du Brunnen meiner tausend Sinne,
du Anregung in allen Dingen!
Ganz tief will ich in dir versinken
und in dem Rhythmus leichter Minne
schwere Atemnot bezwingen
und endlich ganz in dir ertrinken."

Es muss wohl einige Zeit vergangen sein, als ich mich auf ihrem Bett wiederfand. Ihr Kopf lag auf meiner Brust und ihre Augen blickten schlagartig zu mir: "Es ist wieder so schön wie früher, nicht wahr? Fast als wäre gar keine Zeit vergangen. Schreib mir doch bitte wieder so schöne Gedichte wie früher!" "Ich fürchte, das kann ich nicht." "Wieso nicht?" "Weil... weil ich nicht auf Verlangen Gedichte schreiben kann für eine Frau, die ich gar nicht kenne." "Du kennst mich doch. Ich bin doch deine Sanny." "Also habe ich dich erfunden. Du bist ein Hirngespinst, eine Männerfantasie!" Da rollte sie sich zu einem Häufchen Elend zusammen und schluchzte: "Warum sagst du so schreckliche Dinge?" Ich richtete mich reflexhaft auf und streichelte ihre Schulter: "Hey, war nicht so gemeint." Und während ich meine Vergewaltigerin tröstete, fragte diese: "Liebst du mich denn überhaupt noch?" "Lieben?! Ich kenne dich doch gar nicht. Und deshalb muss ich jetzt auch gehen."

Ich zog, auf der Bettkannte sitzend, meine Sachen wieder an, während sie in ein anderes Zimmer ging und etwas herumkramte und als ich im Begriff war, aufzustehen, stellte sie sich mir mit einem Fleischermesser in den Weg: "Ich habe doch gesagt, ich lasse dich nicht wieder gehen." Ich konnte unmöglich den Mut haben, dies zu sagen und doch hörte ich die folgenden Worte aus meinem Mund: "Sei doch vernünftig! Welchen Zweck soll das denn haben? Beruhige dich erst einmal!" "Mäßigung - ist das nicht eine Lüge vor dem eigenen Herzen? Ein Betrug, den der Verstand wider die eigene Seele führt? Du wirst jetzt einen Text über mich schreiben und danach das Fläschchen austrinken." Sie wies auf ein kleines braunes Glasfläschchen auf dem Hängebrett über ihrem Bett. "Was ist das?", fragte ich besorgt. "Das wird dich von deinen Zweifeln befreien." Und wie ich am Ende meines Textes ankomme, nehme ich die Flasche in die Hand und hebe an zu trinken.
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Stichworte
asymmetrie, entfremdung, fan

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