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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 01.04.2013, 02:51   #1
männlich Ein Träumer
 
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Ort: irgendwo im Rheinland
Beiträge: 11

Standard Rudolf Höß und ich

Wenn Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, zur Arbeit geht,
verabschiedet ihn seine Frau, die ihn liebt,
ihre Haare sind blond, ihre Augen leuchten blau,
sie reicht ihm ihre Hand und lächelt stolz.

Wenn ich zur Arbeit in die Schule gehe,
verabschiedet sich niemand, der mich liebt!
Am Frühstückstisch hocke ich allein, starre an die Wand!
Niemand nimmt mich bei der Hand und lächelt stolz.

Der Kommandant von Auschwitz verdient das Sechsfache meines Gehaltes.
Seine Uniform ist schick, die Knöpfe glänzen, alles elegant…
Ein Fahrer chauffiert ihn durch das schwarze Tor, denn „Arbeit macht frei“.
In seinem Büro stehen Ledermöbel und ein massiver Schreibtisch.

Mit meinem Gehalt komme ich so gerade über die Runden,
neue Kleidung kaufe ich nur, wenn unbedingt nötig.
Zur Schule chauffiert mich keiner, aber „Wissen ist Macht“.
Statt eines Büros steht mir in der Schule ein Schrank von einem Kubikmeter zu.

Wenn Höß Platz genommen hat, legt er ein Pausenbrot auf den Tisch.
Er findet eine Liste vor, die besondere Vorkommnisse der Nacht aufführt.
Jetzt kann der Kommandant befehlen, es wird alles geschehen.
Auf dem Tisch steht das Bild seiner Familie, die Frau lächelt, die Kinder auch.

Ich habe keinen Platz, um ihn zu nehmen, ein Pausenbrot auch nicht.
In der ersten Stunde unterrichte ich Philosophie, das Thema: Ethik.
Statt zu befehlen muss ich überzeugen, argumentieren, zuhören.
Ein Foto meiner Familie besitze ich nicht, ein Bild meiner Tochter nur im Herzen.

Höß zündet sich während der Arbeit ein Zigarette an,
um Punkt zehn packt er sein Butterbrot aus,
kurz danach klingelt das Telefon, seine Frau möchte seine Stimme hören.
Während sie ihm liebe Worte ins Ohr flüstert, schaut er auf die Buchen an der Lagerstraße.

Zum Rauchen muss ich in den Keller, in mein Ghetto.
Ein Butterbrot habe ich nicht, sehne mich aber danach.
Wer sollte mich anrufen, wenn mich noch nicht einmal jemand liebt?
Während meiner Pause schaue ich auf ein abgedunkeltes Kellerfenster.

Zum Mittagessen fährt Höß nach Hause, seine Frau erwartet ihn.
Ein Tisch ist gedeckt, ein Kaffee aufgegossen, ein Lächeln bereitet.
An der Tür seiner Villa küssen ihn zuerst die Frau, dann die Kinder.
Beim Mittagessen spricht man nur wenig, denn die Kinder sollen ja Anstand lernen.

Mittags, nach der Schule, fahre ich auch dahin, wo ich wohne.
Niemand öffnet mir die Tür, das Geschirr vom Frühstück noch auf dem Tisch, kein Kaffee.
Während ich ein Butterbrot seelenlos kaue, träume ich von Sauerbraten,
ich spräche gerne mit jemandem, ihre Haare blond, ihre Augen blau…

Rudolf Höß kommt zu seiner Arbeit zurück, er telefoniert mit Krematorium II.
Ein Untergebener muss ihm erklären, warum da alle so langsam seien.
Nur 5.000 am Tag, das sei Minusrekord, ja Schlamperei.
Am anderen Ende hört man nur: „Jawohl!“ und „Jawoll!“

Nach dem Mittagessen korrigiere ich Deutscharbeiten,
Thema: „Warum es schwierig ist, ein Deutscher zu sein.“
Ab und zu rege ich mich auf: die Rechtschreibung!
Um 19 Uhr habe ich mein Pensum erledigt. Zufrieden bin ich nicht.

Beruflich tötet Höß Männer, Frauen und Kinder.
Gegen 19 Uhr hat er sein Tagwerk vollbracht, dann hat er meist
zehntausend Menschen selektieren, sich entkleiden, vergasen
und ihre Leichname verbrennen lassen. Er ist allgemein zufrieden.

Wenn er auf die Lagerstraße in die Abendsonne tritt,
begegnen ihm marschierende Kinder in gestreifter Sträflingskleidung,
sie reißen ihre Mützen vom Kopf, angsterfüllt gesenkt sind ihre Blicke unter einem kahlgeschorenen Kopf.
Sie zittern. Höß sieht sie nicht an. Er kann ihren Hass nicht ertragen.

Wenn ich mittags aus der Schule gehe, sagen mir viele Kinder „Tschö!“
und kleine Hände winken,
lächeln dazu freundlich, dabei stehen sie aufrecht und schauen mich offen an.
Ich grüße lächelnd zurück und kann meine Freude über ihre Zuneigung kaum ertragen.


Darum, Rudolf Höß, beneide mich! Denn mein Leben hat trotz allem einen Sinn!
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Alt 01.04.2013, 03:49   #2
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Beiträge: 31.044

Stark geschrieben, aber auch selbstgerecht.

Zeitverschoben?

Für mich kommt nicht klar raus, ob die Handlung in derselben Zeit spielt oder zeitversetzt ist.

Vielleicht muss ich das für mich entscheiden. Aber ... ein starker und ungewöhnlicher Text, der Aufmerksamkeit einfordert.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2013, 10:19   #3
Thing
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Beiträge: 34.998

Standard Hallo, Der Träumer -

Dein Text hat mich buchstäblich in Qualen geworfen.
Nach der ersten Strophe, die bestimmt an Celan erinnern soll, wagte ich fast nicht weiterzulesen.
Zu Recht:
Die Gegenüberstellung läßt mich mich winden.
Zeitliche Einordnung:
Da bin ich mir nicht sicher. Ich nehme eine Zeitversetzung an, schon des Unterrichtsstoffes wegen.
Aber gerade das Thema/Fach Ethik muß dem philosophisch geschulten Protagonisten unablässig wieder das durch Höß "verkörperte" Kapitel der Geschichte vor Augen führen.

Er lebt diametral sein Leben zu dem des Unholds und sein Fazit
(Dein letzter Vers)
winkt mir als Befreiung.

Der Text läßt mich nicht los.
Die "Höß"-Strophen machen mir Gänsehaut.

Geändert von Thing (01.04.2013 um 11:25 Uhr)
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Alt 01.04.2013, 10:25   #4
männlich Ex-DrKarg
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Beiträge: 3.139

Standard Re: Rudolf Höß und ich

Liebe Ilka-Maria,
bis zu seiner Hinrichtung in Polen hat Rudolf Höß an seiner Vorstellung ohne Selbstkritik festgehalten, alles in seinem Leben richtig gemacht zu haben. Er konnte auch nach der Tötung von Juden an demselben Tag übergangslos in sein Wohnhaus gehen und dort Geburtstag feiern.
Traurige Grüße R. R. Karg

Geändert von Ex-DrKarg (01.04.2013 um 10:26 Uhr) Grund: Textkorrektur
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Alt 01.04.2013, 10:44   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DrKarg Beitrag anzeigen
Liebe Ilka-Maria,
bis zu seiner Hinrichtung in Polen hat Rudolf Höß an seiner Vorstellung ohne Selbstkritik festgehalten, alles in seinem Leben richtig gemacht zu haben. Er konnte auch nach der Tötung von Juden an demselben Tag übergangslos in sein Wohnhaus gehen und dort Geburtstag feiern.
Traurige Grüße R. R. Karg
Das ist mir bekannt.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2013, 17:12   #6
männlich Ein Träumer
 
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Beiträge: 11

Standard Rudolf Höß und ich

Umberto Eco hat einmal geschrieben, ein Roman sei eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Scheinbar gilt das auch für ein Gedicht, wie sich hier deutlich an eurer "Kampf-Diskussion" deutlich zeigt.

Ich danke allen, die sich - höflich und klug - (Ilka-Maria/Thing) mit meinem Text auseinandersetzen, die zeitliche Ungenauigkeit ist in der Tat gewollt, Ilka-Maria.
Ein Träumer ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2013, 17:35   #7
Thing
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Beiträge: 34.998

Zitat:
Zitat von Ein Träumer Beitrag anzeigen
Umberto Eco hat einmal geschrieben, ein Roman sei eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Scheinbar gilt das auch für ein Gedicht, wie sich hier deutlich an eurer "Kampf-Diskussion" deutlich zeigt.

Ich danke allen, die sich - höflich und klug - (Ilka-Maria/Thing) mit meinem Text auseinandersetzen, die zeitliche Ungenauigkeit ist in der Tat gewollt, Ilka-Maria.
Die zeitliche Ungenauigkeit ist aber gleichzeitg verwirrend.
Als Leser weiß ich nicht, ob ich mich getäuscht habe oder nicht.
Für mich ist das eine (leicht) störende "Unschärfe", um einen astrophysischen Ausdruck zu gebrauchen.

Herzlichen Gruß
von
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2013, 18:18   #8
männlich ZychoyZ
 
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Alter: 37
Beiträge: 1.633

schöne gegenüberstellung, gefällt mir tatsächlich überraschend gut.
viele grüße ZychoyZ
ZychoyZ ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2013, 22:49   #9
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
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Beiträge: 10.909

Der Text spricht mich sehr an, Ein Träumer, denn er sträubt mir die Haare.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2013, 00:50   #10
männlich Pit Bull
 
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Beiträge: 1.878

Hallo Ein Träumer!

Puuh, zunächst SCHWEIGEN.

Ich fasse mal zusammen:

Zitat:
Zitat von Ein Träumer Beitrag anzeigen
Während sie ihm liebe Worte ins Ohr flüstert, schaut er auf die Buchen an der Lagerstraße.

Rudolf Höß kommt zu seiner Arbeit zurück, er telefoniert mit Krematorium II.
Ein Untergebener muss ihm erklären, warum da alle so langsam seien.
Nur 5.000 am Tag, das sei Minusrekord, ja Schlamperei.
Am anderen Ende hört man nur: „Jawohl!“ und „Jawoll!“

Beruflich tötet Höß Männer, Frauen und Kinder.
Gegen 19 Uhr hat er sein Tagwerk vollbracht, dann hat er meist
zehntausend Menschen selektieren, sich entkleiden, vergasen
und ihre Leichname verbrennen lassen. Er ist allgemein zufrieden.
Dein Text ist vom Thema und der Erzählung her einfach Hammer, denke ich, denn ich kann nichts als SCHWEIGEN.

VG Pitti
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