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Alt 27.11.2011, 13:59   #1
männlich Ayatollah
 
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Dabei seit: 12/2010
Ort: Vientianne
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Beiträge: 735


Standard Sui Generis Narcissus Blues

Fegefeurige Grüsse, der Ayatollah. Ist etwas länger.


Fallstudie # 3; 22.10.2010; 11:13 Uhr; M/22
Leipzig

“Ob ich auf Mythen stehe? Das kommt nun wirklich ganz darauf an, was Sie denn unter einem Mythos wirklich verstehen. Ich meine, also als Kind, habe ich meiner Schwester gerne und oft zugehört, und ich ließ sie mir – ich war der kleine Prinz der Familie - aus den Griechischen Sagen vorlesen. Neben diesem Gartenteich – oder war es ein Sumpf? -, unter der Fichte. Odysseus. Theseus. Jason. Und die bad girls natürlich, wie die Gorgonen oder Harpyen. Diese honigblut-getränkten Schilderungen von Tapferkeit und innigsten, widersprüchlichen Gefühlen fand ich immer sehr anziehend. Als kleiner Junge in Deutschland interessierte ich mich dann auch für das Alte Ägypten und die Azteken. Wenn ich jetzt auf die Mattscheibe sehe, dann kommen nur billige Zeichentrickfilme aus Amerika oder China, die jede geschichtlich relevante Tatsache in einen Actiontrash verwandeln; da rattern strombetriebene Streitwagen mit 150 Sachen über die heiligen Wege von Theben und Tenochtitlán, nur weil so ein übermenschlicher Krieger sein „exotisches“ Love-Interest beeindrucken will. Aber gut…klar, wer mag denn keine Phantasiegeschichten mit nackter Haut und viel Gekloppe? Allerdings, weiß ich nicht worauf Sie jetzt genau anspielen. Wohl kaum auf Ariadne und Dädalus und die anderen Helden und Tragiker, oder? Ich glaube es geht eher um moderne Mythen, nicht wahr? Großstadtlegenden wie Alligatoren in Berlin oder die Mythen der Dschungelcamper hatte eine bekannte Boulevardzeitung ja letztens. Oder? Deswegen bin ich ja hier, nehm ich an. Klar, ist eben ein guter Job…so nebenher ein paar…Euro zu verdienen, mit gestammelten Antworten auf Fragen, die mir besser nicht gestellt werden sollten. Jetzt hab‘ ich beinah statt Euro, Mark gesagt. Dabei erinnere ich mich kaum an die. Meine Schwester schon. Aber zurück zum Thema…ich weiß nicht was für mich persönlich ein Mythos ist. Ich glaube die Uni hat mir eingetrichtert, dass man fast alles irgendwie irgendwann zu irgendeinem Zweck auslegen kann. Hatten Sie schon einen Jurist als Probanden? Die wissen wovon ich rede. Von daher…puuhh….keine Ahnung. Mit dem ganzen nordischen Kram kenn ich mich nicht aus. Also der ganze Siegfried-Quatsch, der mal so en vogue war, und der ja vielleicht bei den Szeneleuten in Berlin ein Revival erleben könnte. Aber entschuldigen Sie bitte…ich habe öfters die Neigung abzuschweifen. Andererseits erwarten Sie genau das, sonst wär‘ ich ja nicht hier. “

F.?

„Das ist einmal so gekommen. Mir hat keiner davon erzählt und ich war auch nicht - wie man so schön sagt - spitz drauf, es nachzulesen. Obwohl…ich glaube, ich war vierzehn oder so, und da habe ich in dieses echt fette Buch reingeguckt, mit den Ringen, und dem seltsamen Namen. Haben Sie es gelesen? Auf jeden Fall fand ich die Story…ich meine Geschichte, relativ abwegig. Mehr als ein paar Seiten waren da nicht drin. Aber vielleicht macht das ja einen gelungenen Mythos aus. Dass es zugleich gegen jede Vernunft läuft, und dabei doch wahrscheinlich, unbedingt, aufrichtig sein kann. Könnte. Oder? Es hätte sich wahrscheinlich ereignen können. Könnte. Verzeihung, ich verwechsle manchmal diese Formen. Konjunktiv und so. Es fällt mir nicht immer leicht. Besser als bei meiner Tante auf jeden Fall. Wenn ich der am Telefon zuhöre, da will ich nur noch wegsiechen.“

F.?

„Wie meinen Sie das? Ob ich nachdenke? Ich nehme doch stark an, dass jeder Mensch darüber nachdenkt was er sagt – noch bevor er den Mund aufmacht. So hatte ich es zumindest in der Schule gelernt. Und mein besonderer Zustand macht es schließlich auch notwendig. […]Ich glaube, Sie spielten darauf an…[…] wie es der ganze Rest tut.“

F.?

„Tun Sie nicht so. Sie suchen hier Versuchskaninchen für ihre Studie – oder was auch immer – und ich gehe auch hin, am Nachmittag, am frühen Abend, alles im Dienst der fröhlichen Wissenschaft. Teilweise bringt es mir ja Knete, aber ich bin ebenfalls aufrichtig interessiert an den Ergebnissen. An dem ganzen Thema. An Ihnen. Kein Tag vergeht, an dem ich mir nicht die Frage stelle: War es auch so, als ich klein war? Ich habe mir keine Gedanken gemacht. Ich habe alles hingenommen. Ich habe gelebt und ich habe mich nie anders gesehen. Aber dann änderte sich das. Ich wollte mehr über mich selbst erfahren, über meinen echten Ursprung, ja, wenn sie wollen, genau – meine Wurzeln! Das Land, aus dem ich eigentlich komme. Ja, Gott, ich weiß, dass „eigentlich“ zensiert werden sollte. Bitte streichen Sie das Wort aus dem Protokoll, ja? Ein Deutschlehrer trichterte es mir immer wieder ein. Keine Füllwörter, keine Phrasen. Aber wissen Sie was? Ich glaube, dass ich selbst eine Art Füllwort bin. Eine Phrase. Unehrlich, platt. Deswegen bin ich wahrscheinlich hier. Klischee? Ist ja auch egal. Wie gesagt, sich selbst kennen zu lernen ist nicht so einfach. Es ist verdammt schwer. Vor allem für mich. Und für Sie…und den Rest, ist es viel einfacher. […] Das ist jetzt kein Selbstmitleid oder so. Aber…was denken Sie, wenn Sie jeden Tag vor dem Spiegel stehen? Oh, ich habe einen gutbezahlten Job bei Papa Staat, ich lebe für die Forschung, welche wiederum für mich – und meine Artgenossen – lebt, und alles ist schön. Ich korrigiere Studienarbeiten, ich führe Laborexperimente und andere Versuche durch und Interviews und alles ist toll. Jetzt schmiere ich mir etwas Anti-Aging Creme auf das Gesicht um dann am Abend für meinen Mann immer noch begehrenswert zu sein. Sexy, wa? Ja, Sie sehen gut aus. Es verwundert mich, dass Sie sind, was Sie sind. Lieber hätte ich hier so einen hässlichen Onkel sitzen. Der könnte…kann wenigstens zuhören, und danach mit mir einen trinken. Aber denken Sie jetzt nicht an das eine Getränk, das mit V beginnt. Das ist nämlich erneut Klischee. Und ich will mich davon lösen, und außerdem ist es eh eine Phrase, leere Hülse. Ich hätte nie gewagt in der Schule so zu denken. Damals habe ich sogar Witze gerissen, war selbstironisch. Jetzt hab ich keinen Bock darauf wie man so schön sagt, ne. Das ist ein Klima – das setzt mir zu. Ich fühle mich nicht wohl, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen. Ist eben mein besonderer Zustand.“

F.?

„Was mir in besonderem Maße zusetzt? Also, stellen Sie sich mal folgendes vor. Sie sind da in einer kleinen Runde. Nicht zu klein und damit zu intim - mit vielen tiefen Gesprächen verbunden und der ein oder anderen unbedachten Avance eines jungen Mannes -, und nicht zu groß wie bei einer…sagen wir mal WG-Party, Sie kennen das ja bestimmt von ihren Hilfskräften. Oder dem Fakultätsfest. Naja, egal, auf jeden Fall, vielleicht acht bis zwölf Personen. Sie sitzen da in einem Stuhlkreis. Manche kratzen sich an den komischsten Körperstellen, und der Typ mit der Baseballkappe, der prinzipiell immer da ist in diesen illustren Runden, starrt auf seine dreckigen Fingernägel und das blonde Mädchen neben ihm streicht sich lasziv die Haare aus dem Gesicht. Jeder tut so, als ob er oder sie oder sogar es – ja, einmal habe ich einen transsexuellen Mann in der Konstellation gesehen, der war sehr nett und wir gingen danach auf ein Bier in die spanische Kneipe an der Ecke– jeder tut so, als ob man komplett desinteressiert wäre. So. Dann kommt vielleicht so eine Autoritätsfigur, ein Gestapofritz, und die obligatorische Vorstellungsrunde fängt an. Dann bin ich dran, und kabumm, wenn mein Mund aufgeht, da guckt jeder hin. Ich sehe es in ihren Augen. Jedes Mal. Und dann kommen sie…jemand wirft mir ein Lächeln zu, ach, so putzig ist das, wie er sein r rollt. Ohhh, wie goldig. Woher er wohl kommt? Und dann geht es los…und ist die Sitzung vorbei, fallen sie über mich her wie die Heuschrecken. Die endlosen Fragen, die neugierigen Augen, ja, die Augen, daran merke ich es fast immer. Und wissen Sie was? Das passiert mir jedes Mal. Als ich später herangewachsen bin, erwachsen wurde; nicht in der Schule. Erste Hilfe Sitzung für den Führerschein; ich wurde auf den Namen Spanien getauft, weil ich ein Longsleeve der Nationalmannschaft anhatte. Dabei bin ich ja kein Spanier, und ich glaube der Seminarleiter hat sich über mich lustig gemacht, denn wie ein Südländer sehe ich wirklich nicht aus. Und dann dieser Blick…wie dieser Typ vom Roten Kreuz mich mit seiner bräunlich pigmentierten Iris buchstäblich wie ein Dämon verfolgte, nachdem ich ihm meine Meinung zum Thema Fahrerflucht gesagt hatte. Und dann, immer wieder, wiederholten sich die Blicke, als ob Gott oder wer auch immer, einfach die Augen der Menschen austausche. Physikseminar, Wartezimmer beim Augenarzt, ja vielleicht sogar eine Tänzerin in einer Bar, falls ich hingehen wollen würde. Und sogar meine Professorin, als ich ihr in den Mantel half, die lässt dann so eine Bemerkung ab. Die ist übrigens viel hässlicher als Sie. Aber der Punkt ist, ich kann es einfach nicht mehr hören. Immer muss ich mich erklären. Und was das Schlimmste ist? Trage ich ein Kopftuch? Habe ich eine dunkle Haut? Üppiger Bartwuchs? Säufer-Gen? Oder das Erbe eines bestimmten Volkes, ahem, ahem. Ich dachte den Antisemitismus sind wir los, nach den Tausenden von Jahren. Aber gut. Ich bin stolz auf meine Oma, und die Taschenbuchausgabe meines Talmud. Wobei, das ist ein ganz anderes Thema. […] Was denken Sie denn über mich, beziehungsweise, was dachten Sie sich…als Sie mich das erste Mal gesehen hatten? Seien Sie bitte ehrlich.“

F.?

„Das ist ja wieder typisch. Wieso bin ich überhaupt noch hier? Kann gleich wieder gehen. Am besten dorthin, woher ich gekommen… – das wollen Sie mir ja sagen? Zurück, an den dreißigsten Längengrad der östlichen, ja, genau, die östliche Hemisphäre, der Osten. […] Bin ich ein Fan von Blutrecht? Wohl kaum. Doch…ja, ich bin nun einmal nicht hier geboren. Viele Menschen vergessen es. Sie wahrscheinlich auch. Deswegen schauen Sie in einer Weile auf ihren Notizblock und ihre Angaben. Weil es nicht leicht ist, Menschen mit meinem Schicksal im Gedächtnis zu speichern, was? Aber die My…die Mythen, da kennt man sich aus. Großstadtphantasien, here you go. Was immer sie wünschen oder …was sie manchmal wünschen wollen würden…oder so ähnlich.“

F.?

„Manchmal stocke ich eben. Es ist nicht leicht für mich. Vor allem wenn ich aufgeregt bin. Sie haben es ja jetzt auch gemerkt. Ich verstehe die Regeln eben nicht. Das liegt weniger an diesen Gesetzen, als an mir selbst. Wissen Sie, als ich klein war, da war alles einfach. Ich habe meine Fehler nicht gerechtfertigt. Es kam, wie es kam. Aber dann…dann wurde mir klar, dass mein ganzes Fundament von vornherein modrig und verschimmelt war. Andere Wissenschaftler als Sie nennen das Ganze Code. Tiefencode. Eine Art großer, komplexer Regelapparat, den wir alle lernen. Von Kind auf. Oder…oder eben nicht. Daran mangelt es mir. Ich kenne keine Regeln. Ich mache mir vor nach Regeln zu leben, alles zu befolgen, aber am Schluss? Was bleibt übrig? Auf meine Sprache bezogen: Das rollende R und der komische Kauz aus_____, der vor lauter unbeabsichtigten Malapropismen und Verballhornungen nicht weiß wohin. Ich schlendere jeden Tag durch die Straßen Ihres Landes, aber ich mich fühle mich nicht wohl dabei, ganz einfach, weil ich die Erwartung nie erfüllen werde, die man an mich hegt. Ich hänge zwischen Arroganz und Minderwertigkeit wie ein schizophrenes Wasserstoffatom. Und ich weiß nicht wohin. Und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, mir den Frust von der Seele rede, da hört mir keiner zu. Man hört den Lauten zu und den Silben und den Verben und der ganzen Syntax, und natürlich meinem Akzent…aber auf mich hört ja keiner. Selbst Sie nicht. Was soll ich noch sagen. Mein besonderer Zustand. Die Erosion meiner Sprache ist die Erosion meines Selbst.“

F.?

„Manchmal belastet es mich, klar. Mal mehr, mal weniger. Ich gerate glaube ich, leicht in Rage. Dabei will ich es nicht. Außerdem, sollten Sie mich mal außerhalb erleben. Da bin ich irgendwie…locker. Lockerer. Wie in der Schule. Da hat es mich einfach nicht gejuckt, wie man so schön sagt. Ich war, der ich war, und jeder hat mich akzeptiert. Jetzt werde ich auch akzeptiert, dafür kann ich mir selbst nicht ins Gesicht sehen. Ich komme mir vor wie ein Pausenclown. Ist ja echt eine Ironie. Mein – Achtung, Floskel - Migrationshintergrund hat mir viel gegeben, dabei profitieren die anderen auch davon. Sie zum Beispiel, und ihre Fragen, ja die ganze Wissenschaft! Und meine Freunde, Bekannten, Kommilitonen. Ist wirklich schön immer so einen kuscheligen Typen zu haben, an dem man sich platonisch aufgeilen kann. […] Ich glaube auch nicht, dass es am gesellschaftspolitischen Klima liegt. Oder doch? Einen Moment bitte…so…ich war zehn, als Schröder Kanzler wurde. So. Ich hab den Kohl nie wirklich mitbekommen. Dabei hatte er ja nichts dagegen, dass ich in Deutschland gelandet bin. Und der Medienkanzler später, der ja auch nicht. Danach fing es aber an. Mit der Merkel. Nicht dass ich was gegen ihre Partei habe, nein…aber wissen Sie, die Stimmung. Die Stimmung. Nicht im Volk. In mir. Da hat sich was getan. Und ich weiß bis heute nicht warum oder wieso.“

F.?

„Es gibt drei Variationen der Varianten. A: Junge verliebt sich in Mädchen, Mädchen erwidert die Gefühle aus einigen bestimmten Gründen nicht, die bestimmten Gründe sind dabei so lächerlich, dass Sie gleich bestimmt loslachen werden. So, ihr Vater war nämlich Priester, und der duldete nur Menschen mit seiner Konfession im Haus, und im Bett seiner Tochter – wenn überhaupt. Ich bin aber seit eh und je guter Lutheraner, also, nix da. Ich wollte mich der Orthodoxie opfern, aber leider gab es kein Happy End, mit einem Engel, der mich darauf aufmerksam macht, dass es nur ein Test gewesen ist. Jetzt merken Sie auch…der Junge bin ich. Aber Moment. Es gibt noch B. Kurz vor dem Abitur in Geschichte, kommt auf mich ein hagerer Schulmeister zu und fängt mit einer Debatte über die Ostfront an. Klar, Historiker müssen debattieren und diskutieren, logo, Disposition, hatten wir schon im Mittelalter, setzen, eins, danke! Und dann kommt aber diese Bemerkung. Und er schaut mich an, er schaut mich an, als ob er nicht spürt, was er da sagt, als ob er ein Automat wär‘, der nur Schrott ausspuckt. Sinnloses, blasphemisches Zeug. Mir kommen die Tränen, weibisch, ich weiß – oh, Verzeihung - ich entschuldige mich und gehe weg. Habe es keinem erzählt. Nicht mal meiner Schwester, die etwas Ähnliches durchgemacht hatte, weil so eine Kellner-Tante, Arbeitskollegin, sie dumm angemacht hat. Eine einzige Bemerkung zerstört meinen Antrieb. Und dann noch, Möglichkeit C. Nichts von A und B ist wahr, der Grund ist logischer und plausibler, denke ich. Mich widert das Leben hier an. Und zwar, weil ich weiß, dass ich nicht von hier stamme. Ich bin nicht von hier. Ich bin nicht hier geboren, und alles was ich habe ist die angelernte Sprache und die misslungene Assimilation und der Tod der Heimat. Jeder denkt ich wäre so gut integriert, und dass alles so toll ist. Ja, klar, deutsche Freundin, imaginär wohlbemerkt, deutscher Bekanntenkreis, deutsche Umgangsformen, alles ist da. Nur: Mein Inneres ist so leer wie ein Bierglas in Köln. Moment, erneut Klischeefalle, Verzeihung[…] Ich weiß nicht, ob Sie es verstehen. Ich selbst kann es nicht.“

F.?

„Nein, früher war nicht alles besser. Es war aber anders. Natürlich ist es eine naive Vorstellung. Aber wissen Sie, ich mochte und möchte diese Naivität. Ich will zurück. Vielleicht beläuft sich mein Wunsch auf einen reinen Science-Fiction-Selbstmord, eine von der Popkultur genährte, kindische Phantasterei, doch mir fehlt meine Grundschule. Mir fehlen diese Gelassenheit im Dorf, und auch das schüchterne Rumstehen im Getränkeladen. Mit dem Loddar, der mir oft eine Apfelschorle spendierte. Ausgab. Damals war alles so neu. […] Jedes Gesicht, jeder Satz, jedes Wort. Ich musste lernen und ich habe, klar, Fehler gemacht. Die hat man mir auch angekreidet; mit Korrektur und Schulterklopffetisch. Ich fühlte mich glücklich. Ich wurde auch nie geschlagen oder gemobbt wie es jetzt so schön heißt. Nicht dass ich mich jemals mobben ließ…Ich hatte eine glückliche Kindheit. Zeichentrickfilme, die noch mit sinnvollen Inhalten gespickt waren. Und einmal lud mich die Familie eines Schulfreundes auf eine Pizza in ein relativ bekanntes Restaurant in unserer Gegend ein. Und wissen Sie wo es war? Auf einem Golfplatz! […] Und der Direktor war sehr nett. Keiner hat sich lustig gemacht über mich, nicht einmal implizit – glaube ich zumindest. Denn es ist ja das Schlimmste, nicht? Wenn Sie von jedem verhätschelt werden, und jeder Ihnen sagt, wie belesen Sie sind, und dies, und das. Dieses unaufrichtige Getue ist das Schlimmste. Als ich ein Kind war, da wusste ich dies alles nicht. Ich war frei.

F.?

„Meine Eltern hatten nie den Wunsch, dass ich in Freiheit aufwachse. Es ging um viel mehr. Freiheit ist nur so ein Begriff, und aus dem heutigen Blickwinkel kann ich alles was passiert ist mit der gelobten Freiheit begründen. Die Wahrheit ist allerdings banaler. Ich glaube der deutsche Dichter Brecht hat mal was zu diesem…Topos, ja! gesagt, aber ich habe es wohl vergessen. Lesen Sie es nach, bitte. Und denken Sie an mich. Ich bin in einer besonderen Verfassung. Soll sich aber nicht so melodramatisch anhören, sorry. Früher habe ich nie Deutsch mit meinen Eltern gesprochen. Und jetzt […] spreche ich es auch nicht. Haha. Sie alle wollen den Wandel von mir erklärt bekommen. Hören, wie es ist. Doch linguistisch, ja, ich weiß…sprachlich gesehen…vergessen sie’s. Sie merken die Veränderungen, wenn jemand in einem eigenartigen Tonfall über Sie oder ihre Familie spricht. Nicht, wenn die verbale Attacke gerade heraus gegen Ihre eigene Sprachbeherrschung geht, die Kontrolle von diesem akustischen Geschwulst. Manche sagen, sie wären fremd im eigenen Land. Das war mal vielleicht so, oder es ist immer noch vorhanden, dieses Gefühl, bei den Benachteiligten dieser Nation. Ich fühle mich aber als Dauergast. Bin ja ein Musterbeispiel für dieses I-Wort, oder? Tante Aleks, das will ich nochmal sagen, ist aber nicht so, wie sie die deutsche Sprache am Telefon vergewaltigt und nur billiges Akzentteflon loslässt. Und dann Kuchen für die Frauengruppe backt, lachhaft! Und in der Heimat hat sie Literaturwissenschaft studiert: Das ich nicht lache! […] Unabhängig davon, für die Meisten, stelle ich einfach ein Déjà-vu dar. Der nette Junge, nach dem man nicht verlangt, der aber geduldet wird. Und schön auf der Klarinette dudelt, in einem maßgeschneiderten Teenage-Anzug.“

F.?

„Vielleicht, aber womöglich ist es eher eine Art Fessel. Ich komme hier nicht weg. Angekettet, bin ich. Doch will ich auf keinen Fall zurück. […] Ob es mich fasziniert wie es in meinem…Geburtsland aussieht? Bitte, gebrauchen Sie nicht solche Verben! Ich kann von einem – ja, genau – Mythos fasziniert sein, von einer schönen Frau, sicher, von einem Naturphänomen, sogar von einem Unfall, wie dem Zugunglück in Brandenburg, kam ja in den Nachrichten, ich habe mich dabei ertappt zu flüstern, was wenn ich drin gewesen wär….aber ja, klar, angezogen von dem Zwiebelkuppelmuster einer Kirche, wenn Sie es wollen einer östlichen…aber…vom eigenen Land? Man ist entweder enttäuscht – oder mutiert zu einem benebelten Nationalisten. Wenn ich von Bekannten etwa den Satz höre: Ich habe im Laufe der Jahre mein Geburtsland noch mehr entdeckt. Ich glaube, ich muss jedes Mal…verzeihen Sie bitte, kotzen.“ [Das Gespräch hört an dieser Stelle für fünfzehn Minuten auf ehe es weitergeht.]

F.?

„Es ist wie in dem alten Mythos. […] Man ist stolz auf sich, man schreitet erhobenen Hauptes, man freut sich auf das was einem zufliegt, fasziniert von dem, was noch kommen mag. Was aber nicht zwangsläufig kommen wird. Ich habe viele Etappen hinter mir gelassen, und dabei machte ich immer einen Fehler. Ich schaute mich stets um. Nicht einmal, nicht zweimal, immer. Ich schaue zurück und finde niemanden mehr. Und wechsle zwischen Präteritum und Präsens, nicht? […] Natürlich wünsche ich mir zwischendurch nach Hause zu fahren und meine Sitten zu tanken. Aber sogleich fällt es mir wieder ein: Ich habe kein Auto, und ich weiß nicht was der richtige Sprit wär‘. Und darüber hinaus, würde mich drüben wohl niemand tanken lassen.“

F.?

„Mein Tribut an meine Kultur und den feigen Duktus meiner wahren Nation, ist der alte Freund Zweifel. Und die Weigerung, sich noch einmal zu verändern.“

F.?

„Ja. Erkenne dich selbst. Aber ich weiß: Alle meine Versuche die Sachlage zu erklären wie ich sie sehe, sind fadenscheinig. Es tut mir leid. Früher hatte ich eine Ariadne. Einen Antrieb. Hilfe auch. Nicht schwer war der Ausweg. Jetzt jage ich meinen eigenen Gespenstern hinterher. Bitte verstehen Sie. Ich möchte nun schweigen. Sie verstehen mich.“

ENDE
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Alt 27.11.2011, 14:11   #2
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Zitat:
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“Ob ich auf Mythen stehe? Das kommt nun wirklich ganz darauf an
Das hätte ein affengeiler MacGuffin sein können, aber danach kommt nur noch Gelaber ...........................
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.11.2011, 23:38   #3
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Da muss ich Ilka-Maria zustimmen, auch ich konnte mich nicht zwingen
wesentlich über den ersten Satz hinauszulesen.
kati79 ist offline   Mit Zitat antworten
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