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Alt 29.12.2010, 20:31   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237


Standard Neujahrsbeginn

Neujahrsbeginn


Das Mädchen in den engen Jeanshosen und dem knappen Pulli saß weinend auf dem Tisch des großen Zimmers. Es hatte das Gesicht in den Händen vergraben und wischte sich fortwährend die Tränen aus den Augen, und wenn es ab und an aufblickte, für kurze Zeit nur, dann sah man ihr Gesicht, das verschmiert war von den Tränen und der Schminke. Eine Freundin saß ihr tröstend zur Seite, hielt den Arm um ihre Schulter gelegt und flüsterte ihr unablässig ins Ohr. Und mitunter schluchzte die Unglückliche laut auf und rief mit bebender Stimme „nein!“, senkte dann jedoch den Kopf noch tiefer in die Hände, so als schämte es sich deswegen.

Ein Student mit langem Haar in Lederjacke saß im Sessel gegenüber und las aufmerksam in einer Zeitschrift. Und immer dann, wenn das Mädchen laut aufschluchzte, blickte er von seiner Lektüre auf, schüttelte den Kopf und verdrehte leidend die Augen. Endlich suchte er meinen Blick und fragte mit einer knappen Kopfbewegung in ihre Richtung: „Was hat die denn?“
„Liebeskummer!“

„Dachte ich es mir!“ sagte er leise, blickte eine Weile sinnend zur Zimmerdecke empor und vertiefte sich dann wieder in seinen Artikel.

Es war in einer dieser studentischen Wohngemeinschaften, die in den siebziger Jahren im Umkreis der Universitäten wie Pilze aus dem Boden schossen. Ein Kommilitone hatte mich vor einiger Zeit zu seiner Sylvesterparty eingeladen, doch als ich dann vor der offenen Wohnungstür stand, war er selbst nicht da. Möglicherweise hatte er mich und seine Einladung vergessen und feierte nun ganz woanders; oder aber er war aufgehalten worden und würde alsbald kommen. Als ich mich zu seinen Mitbewohnern durchgefragt hatte, boten sie mir an, „da ich nun schon mal gekommen sei“, auch zu bleiben, Freunde seien stets willkommen. Und da ich keine Lust hatte, die letzte Nacht des Jahres alleine in meinem Zimmer zu verbringen, blieb ich da und machte es mir in dem größten Zimmer der geräumigen Altbauwohnung in einem Sessel bequem.

Als mir das weinende Mädchen das erste Mal begegnete, war es noch heiter und lachte. Sie trat ins große Zimmer und schaute sich suchend um. Dann erblickte sie mich in meinem Sessel, sah meine Zigaretten vor mir auf der Armlehne und schritt langsam auf mich zu. „Wie grün und schwarz doch ihre geschminkten Augen sind!“ kam es mir in den Sinn.

„Du, krieg ich mal ’ne Kippe von dir ?“ fragte sie mich lächelnd und beugte sich zu mir herab. „Bedien’ dich“, erwiderte ich und deutete auf die Packung. Sie fingerte sich eine Zigarette heraus, bedankte sich mit einem „thanks“ und verließ darauf das Zimmer.

„Seltsame Party“ dachte ich und sah ihr nach. „Überall nur diese ,progressiven’ Leute!“ Sie war die einzige, die mich bislang angesprochen hatte, sie hätte ruhig noch etwas bleiben können.

Ich saß noch eine ganze Weile in meinem Sessel, nippte dann und wann an meinem Glas Rotwein und langweilte mich. In zwei Stunden sollte ein neues Jahr beginnen, und ich hatte mir doch einiges von diesem Fest versprochen. Ich hatte mir ausgemalt, daß man hier lachte, sich fröhlich unterhielt oder vielleicht auch ein wenig tanzte. Doch nichts dergleichen! Überall nur diese kleinen, in ernsthafte Gespräche vertieften Gruppen. Ein Kreis Mädchen diskutierte über „Frauen und Freiheit“, in einem anderen hielt einer einen Vortrag über das Decken von Hunden, und in einem dritten dozierte jemand stolz über seine umfangreiche Schallplattensammlung.

Bald war mein Glas leergetrunken, und da sich niemand eigens um das Wohl der Gäste zu kümmern schien, ging ich in die Küche, um mich selbst zu bedienen. Und dort sah ich das Mädchen mit den grünen Augenlidern wieder. Sie stand neben einem hochgewachsenen gutaussehenden Jungen, hielt den Kopf träumend an seine Brust gelehnt und kraulte ihm zärtlich das Haar. Der Junge unterhielt sich mit seinem Kreis von Leuten und beachtete sie dabei wenig. Alsbald näherte das Mädchen ihren roten Mund behutsam seinem Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Der Junge lauschte und lächelte hintergründig. Er suchte dann die Blicke der Umherstehenden, wartete bis die Gespräche verstummt waren, sah demonstrativ auf seine Armbanduhr und sagte dann so laut, daß alle es gut hören konnten: „Nun, mein Schatz, in genau einer Stunde und fünfzig Minuten geht das altes Jahr zuende, und mit ihm ... auch unsere große Liebe!“ Und er lachte. Und die anderen lachten mit. Einer von ihnen sagte: „Ich könnte das nicht, so was von knallhart!“ und aus seiner Stimme klang so etwas wie Anerkennung. Das Mädchen blickte entgeistert um sich. Es schien, als hätte es den Sinn der Aussage noch nicht ganz begriffen. Sie rief erschrocken: „Nein!“ und der Junge entgegnete amüsiert: „Aber ja doch!“ Und dann lachten alle nur noch lauter.

Und nun saß das Mädchen auf dem Tisch des großen Zimmers und weinte, und ihre Augen waren grün und schwarz verschmiert von den Tränen und niemand außer ihrer Freundin schien es zu kümmern. Alle warteten sie hingegen gespannt auf das neue Jahr und auf das große Feuerwerk draußen, und sie hatten Wünsche und Pläne und hofften, daß sie sich erfüllen mögen. Und auf das weinende Mädchen wartete im neuen Jahr vielleicht eine neue Liebe mit neuen Hoffnungen und neuen Tränen. Vielleicht war das neue Jahr für sie aber auch der Beginn einer gnädigen Zeit, in der Liebe nur noch ein nützlicher und unterhaltsamer Teil des Alltags ist, so wie bei all den progressiven Leuten hier.
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