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Alt 23.02.2013, 18:31   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Dabei seit: 12/2010
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Beiträge: 4.798


Standard Das namenlose Jahrzehnt

Ich bin ein Kind des namenlosen Jahrzehnts. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei ein Kind der Sechziger, Siebziger oder meinetwegen auch Achtziger, aber ich habe meine Jugend nun einmal in den Jahren nach 2000 verbracht, in einem Jahrzehnt, für das es keine Bezeichnung gibt, in einem Jahrzehnt, das sich selbst nicht betrachten konnte, weil es um seine eigene Existenz nicht wusste, in einem Jahrzehnt, das bereits zu Lebzeiten ein Geist war. Und den Geist dieses Jahrzehnts trugen wir in uns: Uns war alles egal. Unsere Vergangenheit haben wir mit Hilfe von Drogen verdrängt, die unsere Gegenwart in die Zukunft schieben konnten und unsere Zukunft war nicht existent. Wir waren uns selbst egal. Das Einzige, das uns wichtig war: zu betonen, wie scheißegal uns doch alles war.

Wir trugen Baggy-Pants, die von unseren Körpern so weit entfernt waren, wie wir selbst, hörten in der Schule Eminems "I just don't give a f***" (Selbstzensur wegen Badword), sprachen in Abkürzungen und vermieden Bedeutungen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ging uns am Arsch vorbei, doch anders als in vorherigen Generationen nicht aus freiem Entschluss, sondern weil uns alles am Arsch vorbei ging.

Nun, da ich das alles mit ein wenig Abstand beurteilen kann, neige ich zu der Auffassung, dass jede Generation zu dem Gegenteil dessen reift, was ihre Jugend ausmachte. Die radikalsten 68er wurden oft die schlimmsten Snobs. Man betrachte nur einmal Otto Schily. Wenn ich die Bilder von ihm als RAF-Anwalt mit seiner Besser-Wessi-Banane vergleiche, dann ist das in meiner Bilderwelt nur schwer miteinander zu vereinbaren. Und so ähnlich verhielt es sich mit meiner Generation, zumindest kann ich das von mir behaupten. Ich möchte versuchen, dies an einem jedermann zugänglichen Beispiel zu verdeutlichen - Drogen:

Drogen sind das einzige zeitlose Symbol des Subversiven und gleichzeitig das einzig Subversive, das dem Sturm und Drang in einer beinahe grenzenlosen Welt zur Verfügung steht. Unsere Eltern nahmen zum Unmut unserer Großeltern (die sicherlich auch mal Drogen konsumierten) Drogen, um überholten Moralvorstellungen und erstarrten Strukturen zu entkommen und wir nahmen zum Unmut unserer Eltern Drogen, um... na ja, zu entkommen. Und unseren Kindern wird bestimmt auch ein Grund einfallen, um zu unserem Unmut Drogen zu nehmen.

In einer Welt, in der alles egal ist, bedeutet Drogen zu nehmen, alle Drogen zu nehmen. Unterschiedlos - egal ob analgetische oder euphorisierende, organische oder synthetische, harmlose oder gefährliche Substanzen. Wir nahmen alles. Zum Glück wuchs ich nicht in der Großstadt auf. Auf dem Land gibt es kein Heroin. Und es bedeutet, radikal zu konsumieren. Grenzenlos - so lange, bis man aufgrund von Bewusstlosigkeit nicht mehr weiter trinken kann und am nächsten Tag im Krankenhaus aufwacht, wo einem die Schwester schildert, dass man nackt vom Balkon gesprungen ist - zwei mal!

Heute habe ich zu Drogen einen ganz anderen Bezug. Ich nehme sie wie ein Apotheker, der sie sich selbst verschreibt. Auf Bierflaschen steht neuerdings, man solle "Bier bewusst genießen." Das ist Unsinn, zumindest wenn bewusst bei vollem, ungetrübten Bewusstsein bedeutet. Warum ein Rauschmittel zu sich nehmen, wenn man nicht berauscht sein will? Vielmehr sollte man seinen Rausch zielgerichtet und bewusst herbeiführen. Egal, um welche Drogen es geht - man sollte seine Grenzen kennen und sie bis zum äußersten ausreizen.

Die Grenzen bis zum Äußersten ausreizen bedeutet eben nicht, sich grenzenlos zu berauschen, sondern seine Drogen zu studieren, seinen Körper zu kennen und die Dosis anzupassen, um in ein Schwebestadium zu kommen, um einen Zustand zu erreichen - ich nenne ihn gerne das Legoland. Die Welt ist so amorph, dass sie in tausend bunten Bausteinen an einem vorbei fliegt und ich selbst bin noch so gegenwärtig, dass ich mir die besten Bausteine greifen und etwas Lustiges daraus basteln kann.

Der Drogenkonsum dient dabei einer Suche nach derart tiefer Bedeutung, die man in der nüchternen Betrachtung der Welt nicht erkennen kann. Alles in meinem Leben ist dem Wunsch untergeordnet, Bedeutungen in der Innen- und Außenwelt zu erkennen und auszudrücken und da gibt es freilich viel Nachholbedarf. Die Liebe wandelt sich von einem hedonistischen Konsumgegenstand zu einer endlosen, quälenden Sinnsuche. Meine Texte gingen von "Ich wünsche mir einen so großen Arsch, dass die ganze Welt ihn lecken kann" über zu "da ward ich still und träumte." Sogar meine Arbeit als Lehrer ist nichts weiter als der Versuch, der nächsten Generation eine Sinnfrage in den Mund zu legen. Jeder Aspekt meines Lebens ist durchdrungen von der Hoffnung, eine eigene Welt zu erschaffen, in der ehrliche Gefühle, Schönheit und Wahrhaftigkeit erlebbar sind.

Doch stellt dieser übersteigerte Wunsch nach Tiefe nicht eine Überforderung der Realität dar? Ich meine damit nicht, dass die Welt der Liebe, Phantasie und Aufrichtigkeit irreal sei. Das ist sie ohne Frage, aber darum geht es nicht. Was ist, wenn die Wirklichkeit, an der ich arbeite die Wirklichkeit zerstört, in der ich lebe und am Ende ein Romantiker über das scheinbar beseelte Laub schreibt, das sich zu der Parkbank hingezogen fühlt, auf der er schläft und auf der am Tag zuvor ein Junkie starb? Was ist dann? Ich nehme an, nichts weiter.
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Alt 24.02.2013, 19:16   #2
männlich IhreUnheit
 
Dabei seit: 02/2013
Ort: :( :) :(
Alter: 32
Beiträge: 11


Hi Schmuddelkind,
keine Ahnung inwiefern das Geschriebene deiner eigenen Meinung entspricht, im Folgenden richte ich mich jedenfalls an den Ich- Erzähler

Also im Großen und Ganzen finde ich die Aussagen über den Umgang mit Drogen sehr klasse und kann mich dem nur anschließen. Experimentieren in einem wissenSCHAFFTlichen Sinne tue ich persönlich sehr gern, was aber ganz klar von dem gemeinen "Drogenmissbrauch" abgetrennt werden sollte, jedenfalls meiner Meinung nach..

Zitat:
Ich bin ein Kind des namenlosen Jahrzehnts. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei ein Kind der Sechziger, Siebziger oder meinetwegen auch Achtziger, aber ich habe meine Jugend nun einmal in den Jahren nach 2000 verbracht, in einem Jahrzehnt, für das es keine Bezeichnung gibt, in einem Jahrzehnt, das sich selbst nicht betrachten konnte, weil es um seine eigene Existenz nicht wusste, in einem Jahrzehnt, das bereits zu Lebzeiten ein Geist war. Und den Geist dieses Jahrzehnts trugen wir in uns: Uns war alles egal. Unsere Vergangenheit haben wir mit Hilfe von Drogen verdrängt, die unsere Gegenwart in die Zukunft schieben konnten und unsere Zukunft war nicht existent. Wir waren uns selbst egal. Das Einzige, das uns wichtig war: zu betonen, wie scheißegal uns doch alles war.
Hmm, wenn ich meine Empathie - Kanäle öffne und mich in einen verquerten Hippie auf einer Woodstock - Orgie hineinversetze ( was gerade sehr schön ist) kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass ich mich selbst als eben jener psychodelischer, lockerer Hippie der ja für mein Jahrzehnt bekannt ist, betrachte. Ganz im Gegenteil tue ich doch auch nur das worauf ich bock hab und gebe einen Sche** auf den Rest.. wie man mich wahrnimmt oder wahrnehmen wird. Ich glaube das lässt sich für so gut wie jede Generation sagen.

Die Jahre nach 2000 kommen mir jetzt vor wie ein Chaos und Durcheinander (oder evtl. ein Überquillen, falls es das Wort geben sollte) von verschiedenen Strömungen; eine Zeit, die unter anderem für ihre Undurchsichtigkeit, aber auch ihre Vielfalt bekannt ist und sich vor allem durch die hohe Geschwindigkeit von Informationsströmen auszeichnet!

Zitat:
Doch stellt dieser übersteigerte Wunsch nach Tiefe nicht eine Überforderung der Realität dar? Ich meine damit nicht, dass die Welt der Liebe, Phantasie und Aufrichtigkeit irreal sei. Das ist sie ohne Frage, aber darum geht es nicht. Was ist, wenn die Wirklichkeit, an der ich arbeite die Wirklichkeit zerstört, in der ich lebe und am Ende ein Romantiker über das scheinbar beseelte Laub schreibt, das sich zu der Parkbank hingezogen fühlt, auf der er schläft und auf der am Tag zuvor ein Junkie starb? Was ist dann? Ich nehme an, nichts weiter.
Hmm, zum Thema Realitätsverlust kann ich nur sagen, dass doch letztlich jeder von uns in einer eigenen Realität lebt bzw es möglich ist sich seine Realität zusammenzubasteln ["die besten Bausteine greifen und etwas Lustiges daraus basteln kann."], wobei die "Überschneidungen" jener Realitätstunnel mE überschätzt werden.. egal wie notwendig sie sind.


Danke für den Text, hat mir sehr gefallen und war ( wie man evtl. gemerkt hat) auch sehr anregend.

Tschüss :-P
IhreUnheit ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.02.2013, 20:21   #3
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Hallo IhreUnheit (schöner Name, aber ungeeignet für Spitznamen),

freue mich, dass du so viel mit meinem kleinen Text anfangen konntest. Ich denke, es geht nicht in erster Linie um Drogenkonsum, sondern um die Verlorenheit einer Generation, wie zumindest ich sie wahrgenommen habe. Du hast sicherlich recht, dass die Jahre nach 2000 gekennzeichnet waren (sind) von der enormen Informationsflut. Aber in erster Linie sehe ich viel Seichtheit, Oberflächlichkeit und Ignoranz und meine, dass sich das in den Jahren nach 2010 so langsam wieder ändert. Aber das ist sicherlich subjektiv; denn man macht das ja meist an den Menschen fest, die man persönlich kennt.

Da habe ich den Drogenkosmus als wundervolle Metapher ausgemacht, denn gerade im ungezielten Konsum (vielleicht aus Langeweile oder weil einem alles egal ist) zeigt sich diese Seichtheit, aber auch in vielen Reality-Soaps etc., die nach 2000 aufkamen. Und dann meine ich, dass jede Generation an einem Punkt angelangt, an dem sie Vieles über den Haufen wirft und wenn man "mitten im Leben" steht sich nicht selten zu dem genauen Gegenteil von dem entwickelt, was die Wertvorstellungen von einst ausgemacht haben. Und in dem Maße, wie sich eine einstige "LmaA-Generation" zu einer Generation der Sinnsuche entwickelt, ändert sich auch der Drogenkonsum hin zu einem kontrollierten zielgerichteten Werkzeug zur Bewusstseinserweiterung.

Weiß nicht, ob der Text wirklich für seine Zeit spricht, aber das sind so meine Eindrücke, die ich mal festhalten wollte.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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