Erste Anzeichen der Katastrophe bei Poetry.de

Ilka-Maria · 12.10.2010, 21:45

Als er fertig war, mich anzubellen, schnaufte er durch und knirschte mich an: „Und im übrigen heiße ich nicht Hardy, sondern Hartmut.“

Nichts Großes, ein Ehestreit der üblichen Art. Dachte ich zuerst. Aber dann keimten Zweifel. „Hartmut“? Nach all den Jahren?

Mein Mann war nicht nur verärgert, er suchte Abstand. Vielleicht den Absprung?

Ich wußte es nicht.

Als er am nächsten Abend vom Büro nach Hause kam, wirkte er erschöpft. Aber mein Plan stand.

„Wenn Du soweit bist, geh ins Eßzimmer.“

„Nicht in die Küche?“

„Heute nicht.“

„Gibt’s etwas, das ich übersehen habe?“ Er schaute nicht sonderlich schuldbewußt drein, denn er wußte genau, daß er nichts übersehen hatte. Keinen Geburtstag, kein Jubliäum, und gestorben war auch niemand. Er war völlig ahnungslos.

Als er dann den herzoglich gedeckten Tisch sah, mit brennenden Kerzen flankiert, und die Schüsseln und Platten, von denen der Dampf hochstieg, merkte ich, wie ihm einerseits wohl, andererseits aber auch unbehaglich wurde. Er musterte mich wie eine Gouvernante, von der er nicht wußte, ob sie zu seinen Kindern paßte.

„Greifen Sie zu und lassen Sie es sich schmecken!“

Fast fiel ihm die Gabel aus der Hand, die auf das Fleisch gezielt hatte.

„Wie bitte?“

„Greifen Sie zu, Monsieur – ganz ungeniert!“ Dabei setzte ich mein apartestes Lächeln auf.

„Was soll das?“

„Das ist französische Küche und französische Tradition, Monsieur‚ "Artmünd“ – oder doch lieber „Monsieur Muller"?“

Er beugte sich zu mir, nippte an seinem Weinglas, das er an mich weiterreichte, und während ich trank, meinte er trocken: „Du hast ja nicht alle Bohnen an der Stange!“

Dann brach er in Lachen aus: „Ich hab’s kapiert, Hélène, meine Erhellende, meine Leni. Darf ich Sie um einen Kuß bitten – oder auch um einen zweiten oder dritten?“

!!!

12. Oktober 2010
by Ilka-M.

Thing · 12.10.2010, 23:40

Halli Hallo, Ilka Maria!

Soooo lobe ich mir Kürzest-Geschichten!
Kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel. Mit köstlichen Lautmalereien (Artmünd) und fast vergessenen Wörtern (wer weiß denn noch, was apart bedeutet?), daß einem das Wasser im Munde zusammenläuft.
Und mit einem herrlichen clou.
Auch der Titel ist lecker.

Das soll Dir mal Einer nachmachen!
Kompliment von

Thing

Ilka-Maria · 13.10.2010, 06:35

Ich bedanke mich. Vielleicht sind die Geschichten, die dem wahren Leben entnommen sind, ja wirklich die ergiebigeren, denn um jeden Menschen herum wimmelt es von Handlungen und Konflikten. Die Namen der beteiligten Personen habe ich natürlich geändert.

Gruß
Ilka-M.

Ex-pyja8 · 13.10.2010, 09:46

ja, ich seh das relativ ähnlich...
würd mal sagen, die kunst besteht darin, die einfachen
und vielleicht sogar alltäglichen geschichten, die einem
ständig begegnen, so interessant und fesselnd zu erzählen,
dass sie einen mehr berühren als so manches hollywood-
eintausend-explosionen-weltuntergangs-szenario...!

und das ist dir hier meiner ansicht nach sehr schön gelungen!

find's gut!

lg pyja!

Ilka-Maria · 13.10.2010, 10:07

Auch Dir ein Dankeschön.

Weil Du den Vergleich mit dem Film gebracht hast: Mir gefallen am besten die Filme, die viel mit Bildern und wenig mit Worten erzählen. Da fällt mir z.B. "Tisch und Bett" von Truffaut ein: Die Ehefrau erfährt von der Affäre ihres Mannes mit einer Japanerin. Zuhause erwartet sie ihn als Geisha geschminkt, frisiert und gekleidet. Jedes Wort ist überflüssig.

LG
Ilka-M.

Wackelpudding · 21.10.2010, 10:28

Hi Ilka-M.,

eine typische "zwischen Küche und Bett" Geschichte kann man ja vermuten. Aber man wird entäuscht (positiv). Es ist zwar eine sehr banale Situation, aber wirklich toll geschrieben! Aber das geniale fand ich diesen Wink mit dem Zaunpfahl den Leni ihrem Artmünd gegeben hat. Die Auflösung war auch sehr zuträglich.

Es muss anscheinend wirklich nicht immer ein Extrem sein, auch so etwas Gewöhnliches nur wunderschön verpackt und angerichtet, reicht schon aus. Da kann ich mich meinen beiden Vorrednern nur anschließen.

Ich habs wirklich gern gelesen! Sehr schön gemacht! Und JA verdammt! Ich habe am Ende gegrinst wie nen Honigkuchenpferd ^^

Grüße
WP

12.10.2010, 21:45	#1
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.115 Meine Geschichten Meine Favoriten	Erste Anzeichen der Katastrophe Als er fertig war, mich anzubellen, schnaufte er durch und knirschte mich an: „Und im übrigen heiße ich nicht Hardy, sondern Hartmut.“ Nichts Großes, ein Ehestreit der üblichen Art. Dachte ich zuerst. Aber dann keimten Zweifel. „Hartmut“? Nach all den Jahren? Mein Mann war nicht nur verärgert, er suchte Abstand. Vielleicht den Absprung? Ich wußte es nicht. Als er am nächsten Abend vom Büro nach Hause kam, wirkte er erschöpft. Aber mein Plan stand. „Wenn Du soweit bist, geh ins Eßzimmer.“ „Nicht in die Küche?“ „Heute nicht.“ „Gibt’s etwas, das ich übersehen habe?“ Er schaute nicht sonderlich schuldbewußt drein, denn er wußte genau, daß er nichts übersehen hatte. Keinen Geburtstag, kein Jubliäum, und gestorben war auch niemand. Er war völlig ahnungslos. Als er dann den herzoglich gedeckten Tisch sah, mit brennenden Kerzen flankiert, und die Schüsseln und Platten, von denen der Dampf hochstieg, merkte ich, wie ihm einerseits wohl, andererseits aber auch unbehaglich wurde. Er musterte mich wie eine Gouvernante, von der er nicht wußte, ob sie zu seinen Kindern paßte. „Greifen Sie zu und lassen Sie es sich schmecken!“ Fast fiel ihm die Gabel aus der Hand, die auf das Fleisch gezielt hatte. „Wie bitte?“ „Greifen Sie zu, Monsieur – ganz ungeniert!“ Dabei setzte ich mein apartestes Lächeln auf. „Was soll das?“ „Das ist französische Küche und französische Tradition, Monsieur‚ "Artmünd“ – oder doch lieber „Monsieur Muller"?“ Er beugte sich zu mir, nippte an seinem Weinglas, das er an mich weiterreichte, und während ich trank, meinte er trocken: „Du hast ja nicht alle Bohnen an der Stange!“ Dann brach er in Lachen aus: „Ich hab’s kapiert, Hélène, meine Erhellende, meine Leni. Darf ich Sie um einen Kuß bitten – oder auch um einen zweiten oder dritten?“ !!! 12. Oktober 2010 by Ilka-M.

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12.10.2010, 23:40	#2
Thing R.I.P. Dabei seit: 05/2010 Beiträge: 34.998 Meine Geschichten Meine Favoriten	Halli Hallo, Ilka Maria! Soooo lobe ich mir Kürzest-Geschichten! Kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel. Mit köstlichen Lautmalereien (Artmünd) und fast vergessenen Wörtern (wer weiß denn noch, was apart bedeutet?), daß einem das Wasser im Munde zusammenläuft. Und mit einem herrlichen clou. Auch der Titel ist lecker. Das soll Dir mal Einer nachmachen! Kompliment von Thing

13.10.2010, 06:35	#3
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.115 Meine Geschichten Meine Favoriten	Ich bedanke mich. Vielleicht sind die Geschichten, die dem wahren Leben entnommen sind, ja wirklich die ergiebigeren, denn um jeden Menschen herum wimmelt es von Handlungen und Konflikten. Die Namen der beteiligten Personen habe ich natürlich geändert. Gruß Ilka-M.

13.10.2010, 09:46	#4
Ex-pyja8 abgemeldet Dabei seit: 02/2010 Beiträge: 41 Meine Geschichten	ja, ich seh das relativ ähnlich... würd mal sagen, die kunst besteht darin, die einfachen und vielleicht sogar alltäglichen geschichten, die einem ständig begegnen, so interessant und fesselnd zu erzählen, dass sie einen mehr berühren als so manches hollywood- eintausend-explosionen-weltuntergangs-szenario...! und das ist dir hier meiner ansicht nach sehr schön gelungen! find's gut! lg pyja!

13.10.2010, 10:07	#5
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.115 Meine Geschichten Meine Favoriten	Auch Dir ein Dankeschön. Weil Du den Vergleich mit dem Film gebracht hast: Mir gefallen am besten die Filme, die viel mit Bildern und wenig mit Worten erzählen. Da fällt mir z.B. "Tisch und Bett" von Truffaut ein: Die Ehefrau erfährt von der Affäre ihres Mannes mit einer Japanerin. Zuhause erwartet sie ihn als Geisha geschminkt, frisiert und gekleidet. Jedes Wort ist überflüssig. LG Ilka-M.

21.10.2010, 10:28	#6
Wackelpudding Dabei seit: 03/2010 Beiträge: 158 Meine Geschichten	Hi Ilka-M., eine typische "zwischen Küche und Bett" Geschichte kann man ja vermuten. Aber man wird entäuscht (positiv). Es ist zwar eine sehr banale Situation, aber wirklich toll geschrieben! Aber das geniale fand ich diesen Wink mit dem Zaunpfahl den Leni ihrem Artmünd gegeben hat. Die Auflösung war auch sehr zuträglich. Es muss anscheinend wirklich nicht immer ein Extrem sein, auch so etwas Gewöhnliches nur wunderschön verpackt und angerichtet, reicht schon aus. Da kann ich mich meinen beiden Vorrednern nur anschließen. Ich habs wirklich gern gelesen! Sehr schön gemacht! Und JA verdammt! Ich habe am Ende gegrinst wie nen Honigkuchenpferd ^^ Grüße WP