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Alt 04.04.2012, 10:51   #1
männlich Desperado
 
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Standard Auf der Flucht

Das Bild auf dem Steckbrief ist miserabel und das Ergebnis zwielichtiger Augenzeugen, es kostet einiges an Vorstellungskraft, um es mit meinem Gesicht in Verbindung zu bringen, aber meine Jäger scheren sich nicht drum, sie jagen einfach alles, was ein oder besser „der“ Desperado sein könnte, die Farbe seines Pferdes spielt hierbei ebenso wenig eine Rolle wie seine Gesamterscheinung.

Und da es in meiner Wüste sowieso seit längerem keinen Desperado mehr gibt außer meiner Wenigkeit, sind sie hinter mir her und kleben an Infinis Hufen mit erstaunlicher Ausdauer und Beharrlichkeit. Was für ein ungeahntes Glück, dass mein wunderbarer Gaul sich als Geisterpferd herausstellt, das fliegen kann, über Wasser laufen und die Felswände hochklettern.

Nur sitz ich nicht unablässig auf seinem Rücken, sondern brauche Ruhepausen und festen Schlaf, das zur Selbstverständlichkeit gewordene Dösen im Sattel genügt auf Dauer nicht für die Erneuerung meiner Kräfte, und auch mein noch so ausdauerndes junges Pferd ist ohne die nötige Erholung irgendwann am Ende seiner überschüssigen Kraft. Feuer auf offen einsehbarer Fläche zu machen käme einem Selbstmord gleich, also verbringe ich die kostbaren Stunden der Labsal in gut versteckten Höhlen, dichtem Gestrüpp oder schwer erreichbaren übersichtlichen Höhen.

Ich verhalte mich nicht nur wie ein wildes Tier, das von allen möglichen Jägern einschließlich Mensch als Beute bevorzugt wird, ich werde zu einem solchen. Meine Sinne schärfen sich, ich höre jedes noch so leise Geräusch, meine Augen durchdringen die tiefste Finsternis, mein Geruchssinn verfeinert sich bis zur Schnüffelnase des Kojoten. Vor allem aber werden Instinkte geweckt in mir, von deren Vorhandensein ich vorher gar nichts wusste, eine intuitiv Form der Wahrnehmung und spontane Art der schnellen Reaktion, die sich jenseits meiner Vernunft und meines gedanklichen Erfassens entwickeln ohne mein Zutun.

Ich kann an einer Staubwolke erkennen, ob sie Gefahr bringt oder harmlose Reisende, erkenne am Klang einer Stimme das Wesen des Menschen und lese in Augen und Gesichtern meiner Zeitgenossen wie in einem offenen Buch, ja ich vermag jede noch so scheinbar unbedeutende Bewegung einzuordnen und die Absicht dahinter zu durchschauen, ohne zu wissen weshalb und woher. Selbst das Geräusch klappernder Hufe vermag ich zu unterscheiden, weiß, ob es sich um Apache handelt, Blauröcke, Cowboys, Postreiter oder Kopfgeldjäger, und wie viele davon es jeweils sind. Und manchmal treibt mich ein unergründliches Gefühl fort oder in sichere Deckung, eine schier übersinnliche Ahnung, um meine Befürchtungen Stunden ja mitunter Tage später bestätigt zu finden in Gestalt heranpreschender oder anschleichender Verfolger, die nichts mehr vorfinden als ein paar verwischte Spuren.

Die Grenzen zwischen Gejagtem und Getriebenem verschwimmen zu einer Tag und Nacht wachsamen und äußerst misstrauischen Kreatur, ständig bereit zu überstürzter Flucht oder erbittertem Kampf und immer und überall auf der Hut. Ortswechsel und Davonlaufen werden zur zweiten, nein zur ersten Natur, drei Tage am selben Platz zur unnötigen Folter, der Griff zu Colt oder Gewehr zum Reflex. Sicherheit wird zum unerreichbaren für immer entschwundenen Traumgespinst, Gefahr zum beruhigenden Gefühl einzig zuverlässiger Wirklichkeit.

Mehrere Wochen ohne erkennbare Bedrohung nehmen die Gestalt unheimlicher unterschwelliger Bedrohung an und verwandeln sich zum gespenstischen Albtraum. Je weniger wirkliche Gefahr zu spüren ist, desto mächtiger wird ihr unfassbar unwirkliches Vorhandensein. Und wenn eine Zeit lang niemand auftaucht, dich zu jagen, fliehst du eines Tages vor dir selbst. Reitest wie ein Gehetzter auf und davon ohne ersichtlichen Grund und den geringsten Anlass, als wäre der Teufel hinter dir her, verkriechst dich in einer Höhle ohne recht zu wissen warum und ohne dich einen Deut sicherer zu fühlen in ihren Felswänden.

Dein eigner Schatten könnte der eines anderen sein. Du wagst keinen Schuss mehr abzugeben, bist gezwungen, lautlos mit verhassten Fallen und Schlingen zu jagen, wirst zum huschenden Schemen deiner selbst. Selbst das Spiegelbild im Wasserloch scheint vor dir zu erschrecken und zu fliehen. Du löst dich auf, jeden Tag ein Stück, Stunde um Stunde, bis du zu einem unsichtbaren Nichts geworden bist, denn nur das Nichts ist nicht zu fassen, nicht aufzuspüren und nicht aufzustöbern, nicht zu ergreifen und nicht zu überwältigen, nicht wegzusperren und zu foltern, nicht zu erschießen und zu hängen.

Und eines Morgens erwachst du und merkst, dass du ein Geist geworden bist. Ein gespenstisches Wesen aus der verborgenen Zwischenwelt, noch da und zugegen und doch schon fort und über alle Berge, wohin du auch kommst und wohin dein Ritt dich auch führt, du bist im Grunde nicht wirklich vorhanden, nicht anwesend vor Ort und hinterlässt keinerlei Spuren. Du hast noch nie etwas gehört von dem Mann, der da gejagt wird, weißt nicht wer er ist, wie er aussieht und was er verbrochen haben soll.

Einmal kommt die Stunde der Wahrheit, da du am Ende all deiner Kraft bist und dein Willen vollständig erloschen ist, du kannst nicht mehr und magst nicht mehr, fasst den einzig verbleibenden erlösenden Entschluss, schwingst dich auf dein Pferd, reitest ins nächstbeste Kaff und steuerst zielstrebig das Büro des Sheriffs an.

Ich klopfe also zaghaft, schieb erst den Kopf durch die Tür und dann mich selbst, nehme höflich den Hut ab und verschanze mich abwartend vor dem Bürotisch des Sternträgers, ein junger Mann mit gepflegtem Schnauzer, der mich, in seine Tageszeitung vertieft, gar nicht wahrzunehmen scheint. Er liest seinen Absatz zu Ende, wirft mir einen flüchtigen Blick zu und meint gönnerhaft, „was gibt´s“, ohne die Zeitung wegzulegen, „ich bin´s, der Desperado“, mein ich zurückhaltend, „ich bin jetzt da.“

Er mustert mich kurz mit gerunzelter Stirn und knurrt, „na und, ich bin der Sheriff, was geht’s mich an? Also, was ist unser Anliegen?“
„Ich bin gekommen, um mich zu stellen“, press ich schicksalsergeben hervor.
„Soso“, flötet er gelangweilt, „na, wer sind wir denn diesmal? Billy The Kid? Jesse James? Butch Cassidy? Tom Nixon? Sam Bass? Bloody Bill Anderson? Oder alle Daltons auf einem Haufen? Hatte ich alles schon hier drin, such dir einen aus.“
Seine Augen funkeln mich herausfordernd zornig an.
„Aber...“, stammle ich, „ich... ich bin der meistgesuchte Mann weit und breit...“
„Klar bist du das“, brummt er mit verächtlichem Unterton.

Endlich legt er sichtlich unwillig die Zeitung auf den Tisch, beugt sich ein wenig nach vorn, stützt seine Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkt die Hände, seine Stimme schwingt freundlich und einfühlsam,
„Der letzte Desperado, den wir hier hatten, warte mal, das muss noch unter dem alten Matt gewesen sein, da machte irgendein Wahnsinniger die Gegend hier unsicher, soll angeblich ein Dutzend Männer umgelegt haben, bevor der Teufel seine schwarze Seele holte, man hat nie mehr was von ihm gehört und gesehen.“

Sein Blick wandert fast verträumt zu der kümmerlichen Steckbriefwand, von der die Milchgesichter einiger Greenhorns lächeln -Hühnerdiebstahl, nächtliche Ruhestörung, Rauferei im Saloon- und spricht versonnen zu sich selbst,
„manchmal wünschte ich, ich wäre damals im Amt gewesen, das waren noch echte Kerle, wirkliche Aufgaben und wahre Herausforderungen,“
ich zucke jäh zusammen, als er mit der flachen Hand auf den Tisch haut, dass die Zeitungsseiten flattern, mich mit durchdringendem Blick fixiert, an die Wand nagelt wie die leichten Jungs hinter mir, und mehr brüllt denn redet,
„stattdessen muss ich mich mit verrückten Vögeln wie dir herumärgern, schau dich doch mal an, du jämmerliche Vogelscheuche, der Totengräber würde dich nicht suchen! Warum bleibt ihr nicht einfach dort, wo ihr hingehört, wir sind hier nicht im Wilden Westen, warum geht das nicht rein in eure verblödeten Schädel? Mach schleunigst dass du hier rauskommst und lass dich nie wieder hier blicken, nie wieder, hörst du?“

Ich leiste seiner freundlichen Bitte höflich Folge ohne Zögern, wenn und aber.

Schnelllebige Zeit.
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Alt 05.04.2012, 15:22   #2
männlich Twiddyfix
 
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Beiträge: 2.797


Standard such is life

mein Lieber, wir alten Ghost Rider können manches Lied davon singen.

Gut geschrieben, sehr gutes Ende.

Gruß vom alten Twiddy...
Twiddyfix ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.04.2012, 08:27   #3
männlich Desperado
 
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Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Tja, Twiddy, man wird nicht von ungefähr zum Geisterreiter.

Danke Dir und Gruß zurück vom alten Desperado!
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