Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 22.03.2015, 10:56   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089


Standard Goethes Straße

14. März. Ich schlage den Lokalteil meiner Tageszeitung auf und erblicke das Schwarzweiß-Foto einer von Schuttbergen gesäumten Pflasterstraße. Bis zum Ende dieser Straße, die deutlich auf eine Allee stößt, denn im Hintergrund sind die Kronen von Laubbäumen zu erkennen, steht kaum noch ein Haus. Nur die Reste einiger Fassaden lassen ahnen, welcher Baustil in dieser Straße vorgeherrscht hatte. In der Tiefe des Fotos, etwa in der linken Bildmitte, steht noch ein Eckhaus mit einem zwiebelförmig zulaufenden Türmchen. „Blick in die völlig zerstörte Goethestraße nach dem Angriff vom 18. März 1944", steht unter dem Foto. Ich halte kurz den Atem an: Es ist die Straße meiner Kindheit. Hier bin ich in den fünfziger Jahren aufgewachsen.

Angestrengt suche ich auf dem Foto nach der Stelle, wo der Weg zu dem Hof gewesen sein könnte, auf dem das Haus gestanden hatte, in dem wir damals wohnten. Es war ein Altbau, ein Hinterhaus, das rechtwinklig zur Straße gebaut war. Ihm gegenüber stand ein Haus ungefähr gleichen Baujahres, mit den Fenstern zu unserer Seite - sozusagen sahen sich die beiden Gebäude ins Gesicht.

Das Eckhaus mit dem Zwiebelturm gibt mir eine Orientierung: Ich finde die Stelle, die zum Haus Goethestraße 54 führt, wenn der Schutt erst einmal weggeräumt ist. Jahrelang, von Anfang der fünfziger Jahre bis 1964, ging ich täglich den Weg von diesem Hinterhaus zu dem kleinen Hof und dann an dem Trümmergrundstück vorbei, das vom Vorderhaus übriggeblieben war, um in nur wenigen Minuten die Goetheschule in der Bernardstraße zu erreichen.

Unsere Wohnung war klein, aber ich halte sie aus heutiger Sicht für drei Personen – Vater, Mutter und ich – der damaligen Zeit angemessen, denn nach den Zerstörungen durch den Krieg war Wohnraum knapp, so dass jeder Mensch glücklich war, überhaupt ein Dach über dem Kopf und eine Privatsphäre sein eigen nennen zu dürfen. Außerdem sieht ein Kind sowieso alles größer, als es in Wirklichkeit ist. Ich fühlte mich jedenfalls in dieser Wohnung, die eher als ein Nest – und zwar im positiven Sinne – zu beschreiben wäre, heimelig und behütet.

Die beiden Hinterhäuser Goethestraße 52 und 54 hielten lange durch, während ringsherum Schutt weggeräumt wurde und Wohnhäuser in die Höhe wuchsen. Das lag wohl daran, dass die Hausbesitzer noch nicht verkaufen wollten. Auch dann, als unser Hauswirt mit seiner Frau ausgezogen war und sich in einer besseren Gegend der Stadt einquartiert hatte, blieb alles unverändert. Selbst die Mietanpassung – der Mietzins betrug um die 30 D-Mark pro Monat – war kaum der Rede wert.

Wie bereits gesagt, wurde um uns herum emsig gebaut, denn die Menschen mussten irgendwo wohnen. Die Flüchtlingslager waren voll, und täglich kamen neue Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer dazu. Nur wenige Schritte von unserer Wohnung entfernt gab es solch ein Flüchtlingslager. Manchmal ging ich hin, um mit den Kindern der Flüchtlingsfamilien zu spielen. An den Anblick von Männern, denen ein Arm oder ein Bein fehlte, hatte ich mich schnell gewöhnt. Zeitzeichen eben …

Irgendwann war das Lager weg, ich hatte es kaum bemerkt. Alles ging rasend schnell. Es wurde gebaut und gebaut. Zwischen Ludwigstraße und Taunusstraße (das ist die Ecke mit dem Zwiebelturm) entstand ein ganzer Block im pragmatischen Stil der Fünfziger: kubisch, glatt, modern. Die Häuser hatten Balkons, Bäder und gemeinschaftliche Waschmaschinennutzung gegen den Erwerb von speziellen Münzen, mit deren Einwurf die Maschine in Gang gesetzt werden konnte. Es ging aufwärts mit Deutschland und vor allem mit dem Viertel meiner Stadt, dem Nordend.

Schräg gegenüber unserer Wohnung machte alsbald der erste Supermarkt der Familie Latscha auf, an der Ecke Goethe- und Johannes-Morhart-Straße. Das brachte Komfort, denn der Einkauf erledigte sich schneller, ging aber zu Lasten der Gemütlichkeit und der sozialen Kontakte. Bis wir uns an den Supermarkt gewöhnt hatten, kauften wir beim Lebensmittelhändler in der Taunusstraße ein, zu dem waren es drei Gehminuten und einmal um die Ecke. Da wurde vom Handzettel runtergelesen, was zu Hause ausgegangen war: Zucker, Mehl, Backpulver, Milch, Erbswurst usw., und alles wurde eigens aus dem Regal geholt und auf die Glastheke gestellt, der Preis auf einem schmalen Zettelblock notiert, am Ende alles addiert und bezahlt. Wir - Vater und ich, denn wir beide kauften meistens ein, während Mutter die Wohnung putzte – sackten alles in ein Netz und trugen es mir Siegermiene heim.

Damals, in den Fünfzigern, gab es im ungefähren Abstand von dreißig Schritten einen Metzger und einen Bäcker in unserer Straße und in den Seitenstraßen. Und jeder dieser Läden hatte eine Spezialität, so dass die Bewohner des Nordends regelmäßig bei jedem dieser Metzger und Bäcker einfielen. Eine besondere Wucht war Bilstein: Auf dem gesamten Erdball wird nie wieder ein Hiesiger oder ein Außerirdischer einen so göttlichen Rahmkuchen finden, wie ihn dieser Meister zu backen verstand.

Es war noch in der Goethestraße und in den Zeiten der alten Hinterhausbauten, als mein Vater seinen Führerschein machte (meine Mutter folgte ihm bald) und einen Gebrauchtwagen kaufte. Es war ein Ford Taunus 45M, der mit der Weltkugel auf der Schnute. Ziemlich schwer und stabil. Und noch kostenlos vor dem Grundstück zu parken.

1964 zogen wir aus. Mein Vater hatte eine Firmenwohnung im neubebauten Südend zugesprochen bekommen. Mehr Platz, mehr Moderne, mehr Komfort.

Die Goethestraße ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Sie ist ein Straßenzug mit den Brandmalen der Sechziger Jahre und mit kaum einer freien Parklücke. Die Synagoge, die nach dem Krieg als Stadttheater diente und inzwischen zu einem Musicaltheater umgebaut wurde, existiert noch. Der Raumausstatter gegenüber der Nummer 54 ist dagegen wegradiert. Auch die Moha-Milch-Ausfuhrzentrale in der Johannes-Morhart-Straße, die an die Neubauten in der Goethestraße anschloss, ist längst Vergangenheit.

In dieser Straße hatte ich Freunde und sogar Verwandte. Wenn ich sie heute betrachte, ist sie mir fremd. Aber nur, was das Auge betrifft. Mit allen anderen Sinnen wahrgenommen ist und bleibt sie meine Straße.

Vielleicht war Goethe hier gegangen, als er aus Frankfurt kam, um Lili zu küssen.

21. März 2015
Ilka-Maria
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Goethes Straße



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Goethes Blick anna amalia Gefühlte Momente und Emotionen 1 07.02.2014 14:16
Goethes Erlkönig - Fragen zur Metrik ritchey Theorie und Dichterlatein 6 14.08.2013 22:30
Frei nach Göthes Erlkönig Schneeweißchen Philosophisches und Nachdenkliches 4 14.08.2013 09:16
Anlehnung an Goethes "Prometheus" Reza Düstere Welten und Abgründiges 0 14.02.2007 18:18
Goethes Gretchen cheri noire Düstere Welten und Abgründiges 2 29.08.2006 14:14


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.