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Alt 23.06.2013, 01:29   #1
Ex-zonkeye
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Standard In Memory of Hans Hass

Früher dachte ich, dass Abenteuer so riechen wie der Band „Winnetou I“, den man sich im Bett auf das Gesicht legte: Zerfledderter Halbledereinband, Druckerschwärze, vergilbtes Papier. Aber schon damals hat mich gestört, dass Winnetou und seine Kumpane nie aufs Klo mussten, dass sie immer nur Fleisch aßen und dass sie offenbar tagelang nur herumsaßen und auf irgendetwas warteten.

Durch das offene Krankenhausfenster hörte ich das Klingeln der Straßenbahnen und ihre Elektromotore beim Anfahren und beim Bremsen. Auch der Regen war zu hören, wenn er auf das Blech des Vordaches trommelte, oder wenn die Autoreifen nicht geräuschlos auf dem Asphalt abrollten, sondern in der Nässe zu zischen begannen. Dann hatte ich das Gefühl, noch Teil zu sein von einem Leben, das draußen stattfand und in das man vielleicht wieder zurückfinden könnte, irgendwann.

Als alles vorbei war, hatte ich fast die ganze Bibliothek der Klinik durchgelesen. Jedes Buch hatte einen anderen Geruch. Die mit den Bildern, vor allem den farbigen, die rochen am intensivsten. Am liebsten hatte ich Geschichten vom Urwald und von der See und solche, in denen es zur Sache ging wie in „Wem die Stunde schlägt“. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn man zusammen mit einem nackten Mädchen im Schlafsack liegt, das einen glattrasierten Kopf hat und das einen küsst und sagt, dass es einen lieb hat.

Ich war elf, damals, und musste noch eine Zeitlang mit Krücken gehen. Dann war äußerlich nichts mehr zu erkennen.

Ein Buch hatte ich mitgenommen von dort. Absichtlich, nicht aus Versehen. Es hatte Schwarzweißfotos in seinem Innern, ziemlich verschwommene, die Korallen und Fische und Speertaucher unter Wasser zeigten. Es wurde beschrieben, wie man sich unter Wasser an Fische heranschleicht, damit man sie mit der Harpune abstechen und nach oben bringen kann, um sie zu essen oder um sie zu verkaufen. Und dass man braun wird an der Sonne, und stark, und dass die Haare bleich werden vom Salzwasser und dass man sich nicht fürchten muss, wenn der Hai kommt, weil es genügt, dass man ihn anschreit. Dann erschrickt er und flieht sofort.

Später war es dann ganz anders mit den Abenteuern. Es gab sie, aber sie hatten einen anderen Geruch. Das mit den Mädchen kam auch und es war schön, viel schöner, als Hemingway es beschreiben konnte. Aber schlimmer auch, manchmal.

Das Buch hieß „Haie und kleine Fische“. Wenn ich es heute in die Hand nehme und auf mein Gesicht lege und mich konzentriere, kann ich noch ein ganz klein wenig von dem spüren, was es mir damals bedeutet hatte, als ich noch nicht wusste, wie schwierig es wirklich ist, unterzutauchen in die Seen und die Augen dabei offen zu lassen. Vielleicht war es ein Fehler, die Augen immer offen zu lassen. Besonders nachts, wenn man eigentlich hätte träumen sollen.

Irgendwann hatte ich festgestellt, dass ich ein Walfisch geworden war. Wann das war, kann ich nicht mehr genau sagen. Vielleicht hab gar nicht ich es gemerkt, sondern die anderen, die sagten: „Hey, du bist ja ein Walfisch!“ Walfische sind dunkel und schwer und furchtbar verfressen. Und schrecklich dumm sind sie. Sie können immer nur geradeaus schwimmen und sie kennen keine Farben. Sie kennen nur schwarz und weiß, das ist alles. Sie suchen, ohne dass sie genau wüssten, wonach, und ihre Sprache ist unverständlich. Eigentlich hört man sie gar nicht, sondern man vermisst sie. Manchmal, wenn sie aufgehört haben zu singen, vermisst man sie. So wie die Pedaltöne einer Kirchenorgel, am Ende des Gottesdienstes. Die hört man auch nicht, aber man kann sie fühlen, mitten in sich, noch stundenlang nach der Messe.

Neuerdings werden Wale geliebt. Es gibt die Whalewatchers, und Kinder bekommen zu Weihnachten Plüschwale, die größer als sie selber sind. Das hat uns Wale sinnlos gemacht. Wir wollten nie geliebt sein, sondern das Öl in euren Lampen und das Korsettstäbchen auf eurer glatten Haut und der Glanz auf euren Stiefeletten. Gebraucht werden ist etwas anderes als benutzt werden. Gebraucht werden ist ein schönes Gefühl. Das würde wärmen, drunten in der Tiefe.
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