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Alt 22.10.2012, 17:00   #1
männlich Desperado
 
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Standard Pressing On

Da der gute alte Bob inzwischen ja sogar den Pulitzerpreis verpasst bekommen hat und somit endgültig zu den kulturell Renommierten gehört, und Kultur vor Ort Raum gegeben ist, will ich mich gerne an eine Zeit erinnern, in der er soweit weg war von jeder Ordensverleihung wie nie zuvor und nie mehr danach.

Nehmen wir nur mal als Beispiel den umstrittenen Song „Neighborhood Bully“, der ihm den Vorwurf des Zionismus bescherte.

Einige Strophen lassen sich ziemlich unmissverständlich auf Israel und dessen Überlebenskampf durch die Geschichte beziehen, andere wiederum auf jede beliebige Minderheit oder verfolgte Andersdenkende generell, vor allem aber bleibt der Dichter selbst außen vor in der Rolle des Beobachters und ohne ausdrückliche Wertung des oder Solidarisierung mit dem Besungenen. Er stellt den (jüdischen) Buhmann in den Raum, den Sündenbock für jedes und alles- und das ist auch alles.

Würde man andersrum den auf der selben Platte (Infidels 1983) vorhandenen Song „Jokerman“ mit der gleichen Eindeutigkeit auf Israel und das Judentum beziehen - was um nichts weniger naheliegend ist, da zwischen den Zeilen biblische Gestalten wie Abraham oder König David rumgeistern-, hätte die Sache den gegenteiligen Beigeschmack, denn bei aller Poesie ist der „Jokerman“ ein ziemlich gehässiges Spottlied mit bitterbösem Ausgang.

Wer nun wirklich wissen will, an wen oder was Dylan im Einzelnen glaubt oder auch nicht, der sollte ihn am besten einfach mal selber fragen.

In einem Interview von 1997 (NYT) meinte er beispielsweise, Gott, an den er glaube, eher in alten Songs zu finden als in den heiligen Büchern, und wenn ihn wer danach fragt, legt er ihm dieselben ans Herz... hätte ihn zwei Tage später wirklich wer gefragt danach, hätte er erfahrungsgemäß wieder irgendwas Anderes dazu gesagt.

Im Song „Ain’t Talkin’“ (Modern Times 06) beklagt er sich bitterlich bei seiner Mama, die ihm immer gesagt habe, dass Beten helfen würde, und er habe wirklich versucht seinen Nächsten zu lieben und niemanden umzubringen, aber besser geworden sei deswegen gar nichts.

Ein paar der verschwindend wenigen Zeilen mit religiösen Andeutungen aus ein paar tausend über dreißigjährigen Schaffens seit 1981.

Im Jahre 2009 des Herrn schockiert(?) er mit „Christmas In The Heart“, einer buntgemischten Sammlung von Weihnachtsliedern, zusammen mit seiner Tourband mit hörbarem Vergnügen eingespielt, deren Erlös einer Obdachlosenorganisation zu Gute kommt- und genau so klingt sie auch, nach Heilsarmee und Leben auf der Straße, für jeden Weihnachtsmuffel eine willkommene Alternative, ebenso als Geschenk unterm Christbaum gut untergebracht.

Auf der Gospel-CD von 2003 mit Interpretationen seiner Spirituals von vorwiegend afroamerikanischen Interpreten steuert Dylan eine Jamsession Version des Songs „Gonna Change My Way Of Thinking“ von der christlich inspirierten LP „Slow Train“ von 1979 bei, allerdings mit vollständig anderem offensichtlich spontan niedergeschriebenem Text, in dem er im Duett mit Sängerin Mavis Staples herumblödelt –anders kann man es nicht nennen- dass er, das wolle er nur mal gesagt haben, so was hätte noch keiner je gehört, den Herrn auf weißem Pferd wiederkommen sieht um die Seinen einzusammeln, von denen sowieso keiner was kapiert hat und nachleben konnte, während er daselbst von einem scharfen Schwert mitten entzwei gespalten und wieder zusammengesetzt werden wird oder schon worden ist- was immer.

Vielleicht ist ein „was immer“ etwas läppisch ausgedrückt im Zusammenhang mit Zweiteilung und Wiederzusammensetzung, aber auch meine Englisch-Kenntnisse sind begrenzt, noch dazu wenn einer durch deutliche Aussprache besticht und in amerikanischem Dialekt singt.

Es könnte freilich auch sein, dass Dylan seine innere Gespaltenheit in dieser Bildsprache zum Ausdruck bringt, die ihm seine Konvertierung zum christlichen Glauben beschert hat, da er doch im jüdischen Glauben erzogen wurde. Es gibt ja heute noch jüdisch-orthodoxe Gruppierungen, in denen Konvertit mit Renegat gleichgesetzt und der Abtrünnige zum Goi und für tot erklärt wird. Insbesondere Dylans inzwischen verstorbene Mutter setzte ihm diesbezüglich enorm zu, besuchte Anfang der Achtziger sogar ein Konzert und beschwor ihn vor Zeugen, doch bitte keine christlichen Lieder mehr zu singen.

Andrerseits gibt es Berichte aus zuverlässigen Quellen, dass Dylan vor gut zwanzig Jahren zum Katholizismus übergetreten ist, sozusagen wieder zusammengesetzt wurde, worüber er selbst wohlweislich und infolge schmerzlicher Erfahrungen – viele Kritiker und sogenannte Fans bezichtigten ihn in Folge seiner Auseinandersetzung mit Glaube und Religion des Verrats und der geistigen Umnachtung- kein einziges Wort verliert. Dass seine Kinder im jüdischen Glauben und seiner Tradition erzogen sind, ist auf deren Mutter und Dylans geschiedene Frau Sara zurückzuführen, der er diesbezüglich freie Hand ließ, ohne sich selbst besonders dafür zu interessieren.

Dylan selbst führt seine „Bekehrung“ auf eine spirituelle Erfahrung zurück, die er Ende der Siebziger in einem Hotelzimmer machte, und die offenbar sehr tiefgehend und umwälzend war für ihn und sein weiteres Leben. Jesus war Jude, soviel steht fest, und Judenchristen gab es von Anfang an, ja im Grunde waren sie die ersten Vertreter der neuen Religion, obgleich diese damals nicht als solche bezeichnet werden konnte/musste, und auch diese hatten Auseinandersetzungen um die Einhaltung jüdischer (Speise) Gebote und erheblichen Stress mit dem traditionellen Judentum. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Zugegeben, damals 79 –ist ja nun auch schon wieder eine ganze Weile her- war das natürlich der Hammer. Oder besser, es wurde vom Großteil seiner Fangemeinde als solcher empfunden.

Als Europäer habe ich da vielleicht weniger Probleme mit, weil ich mich nicht tagtäglich mit militanten Fundamentalisten, Kreationisten oder Fernsehpredigern herumschlagen muss, unerklärlicherweise überschlugen sich aber grade die Kritiker diesseits des großen Wassers geradezu vor Häme und Aggression, in den USA selbst wurde die Sache sehr viel cooler gehändelt.

Für mich war das eben einfach wieder mal was Neues, Unerwartetes, das mit Sicherheit nicht für immer so bleiben würde, erfahrungsgemäß sozusagen, denn die Häutungen vom angry young man und brisant politischen Protestfolkie zum wilden und durchgeknallten Fantasie- Rock n Roller, der ganz nebenbei eine neue Musikrichtung erfand, den Folkrock oder nenn es wie du willst (und wohl auch seine drei besten um nicht zu sagen epochalen Platten und größten Hits machte zu dieser Zeit), wieder zurück zum Folk und von da aus weiter zum Country, der in Amerika in etwa mit hiesiger Volksmusik gleichzusetzen ist, was auch einige gewagte Schnulzen mit sich brachte, über kanadischen Landrock mit der „Band“ zum eigenwilligen, philosophisch angehauchten Songwriter und gereiften Komponisten, mit Ausflügen in Rock, Jazz, Blues, Reggae und was es sonst noch so alles gab seinerzeit querbeet durch die Gefilde, bis hin zum perfekten Orchestersound... eine gewisse Flexibilität ist einem da schon abverlangt, ohne Frage.

Auch seine Dichtkunst schwankte zwischen zwölfstrophigen Meisterwerken und schlichten Fünfzeilern, die Wahl seiner Themen von politischem Tagesgeschehen über fast schon verworrene wortkunstgetragene Surrealistik zu hörenswert tiefgründigen Alltagsballaden, dazwischen immer wieder einfach nur Nonsens oder Banales, aber immer und jedes Mal war es bei näherem Hinhören eben doch Bob Dylan und niemand anderer, der Folk klang sowieso überall irgendwie durch.

Was nun in dieser bunten Sammlung tatsächlich noch fehlte war der Gospel.

Im Grunde nichts anderes als ein radikales back to the roots, da aus den Gesängen der ersten Sklaven durch die Berührung mit amerikanisch damals noch europäischer (Folk)musik die Spirituals entstanden, aus diesen der Blues, aus diesem Jazz und Rock n Roll und so weiter, sprich Amerikas Populärmusik schwarzafrikanische Wurzeln hat, was nur allzu gerne immer wieder mal vergessen und unter den Teppich gekehrt wird.

Dass nun ein Gospel-Spiritual Tournee Programm nur sehr schwierig in sein bisheriges Liedgut zu integrieren ist, weil es den spirituell angehauchten Songs Substanz und Flair raubt, ist nicht so ganz abwegig, wenigstens für ein besinnliches Weilchen, zumal nach nicht einmal einem Jahr ohnehin seine alten Songs in neuem Gewand und mit erfrischtem Gesicht den Hauptteil seiner Konzerte bildeten und nur ein paar seiner Gospels dazwischengestreut im Set blieben.

Was aber Dylan mit seiner Band 1979 etwa in San Francisco im Fox Warfield ablieferte, war schlicht und einfach großartige, lebendige, beseelte und durchaus mitreißende Musik, wobei die Diskrepanz zwischen dem mehrstimmigen Gospelchor als Begleitung und seiner näselnd kratzigen Stimme im Vordergrund nie und zu keinem Zeitpunkt vergessen machte, dass es Bob Dylan ist, der da auf der Bühne Halleluja krächzt.

Was manchem schwer zu schlucken gab waren freilich die etwas seltsamen Predigten, die Dylan an diesen denkwürdigen Abenden dazwischenschob, vom anstehenden Weltuntergang, der Verdammnis der Welt und dem dritten Weltkrieg, allerhöchste Zeit also für eine radikale Umkehr, und was eine Predigt in afroamerikanischem Stil sonst noch so an Pfeffer braucht, und mal ehrlich, was wäre ein Gospelkonzert ohne Predigt, umso apokalyptischer und pessimistischer desto besser, sonst wäre Dylan eben nicht Dylan, sondern Seelentröster Pastor Robert.

So jedenfalls erlebte ich damals die Sache, als interessanten frischen Wind in der Bude, der die teilweise etwas festgefahren erstarrte Stimmung der Welttournee davor – die ihn unter anderem zu seinem ersten Konzert auf deutschem Boden in Nürnberg auf noch dazu ehemaligem Nazigelände übermannte- gründlich von der Bühne fegte.

Der Rest der Welt indessen schien Kopf zu und sich selbst nicht mehr zu ver-stehen. Jesus ist langweilig, schrieb zum Beispiel Dylanologe Günther Amendt, der bis zu diesem Zeitpunkt mit fundierter Kenntnis der Materie Dylan bestach, und machte sich weiter nicht die Mühe, auch nur einen einzigen der zum Teil bemerkenswerten Gospelsongs wenigstens aus musikalischer Sicht zu rezensieren.

Ich konnte Dylans Gospelphase nie als großen Bruch, Verirrung oder gar Entgleisung empfinden, sondern als im Grunde logischen, folgerichtigen und durchaus bereichernden Bestandteil seines musikalisch poetischen Lebenswerks, der sich naht- und reibungslos ins Gesamtbild fügt, wovon man sich anhand der Neuauflagen seiner Gospelsongs in fast jedem seiner Konzerte der letzten acht Jahre recht anschaulich überzeugen konnte.

So man die Lieder seiner christlichen Phase denn als wertfreie Musik sehen und gelten lassen kann.

Seit Juni 1988 tingelt Dylan so gut wie pausenlos (krankheitsbedingte Unterbrechung) auf der sogenannten Never Ending Tour mit einer inzwischen kaum mehr überschaubaren Zahl wechselnder Mitmusiker um die Welt, erst in den letzten fünf Jahren verringerte sich die Zahl seiner Auftritte auffällig, man wird eben nicht jünger.

Seine ohnehin frühreife Dichtkunst reifte mit ihm, Dylan hat inzwischen keine Mühe mehr, eine Aussage in drei Worte zu packen, wofür er früher drei Strophen brauchte, wie er selbst sagt, und auch musikalisch lassen die CDs der letzten fünfzehn Jahre nichts zu wünschen übrig, ebenso bestechen seine Never Ending Konzerte, die besonders anfangs durchaus umstrittene Phasen hinter sich gebracht hatten, in denen Dylan seine Songs gnadenlos zerriss, was wiederum mir nicht weniger gefiel und gehörigen Spaß machte, weil es dreckig und ungehörig war für sein Alter und alles in allem ziemlich punkig und fetzig rüberkam, zudem mit innovativen Soloparts in der Konzertmitte veredelt wurde.

Bei Dylan selbst ging es nach "Saved" übrigens mit abgeklärtem Rock weiter, ein (schamloser) Ausflug in den Pop folgte, zwischendurch eingestreut mit den „Traveling Wilburys“ fröhlich locker durchs Land des Beat, etwa um die selbe Zeit besticht sein erstes Altmeisterwerk „Oh Mercy“, im Anschluss jamt er durch kernig bluesigen Folkrock, zurück geht’s zur Interpretation prähistorischer Folk- und Bluessongs, nach längerer Schaffenspause schließlich gelingt Dylan mit schwerpunktmäßig schwermütigem Blues ein furioses Comeback mit „Time Out Of Mind“, von da an rockt und swingt er frei und frisch durch Hillbilly, Country, Folk und die ganze Palette bis Zigeunermusik, und jüngst konzentrierte er sich zu einer atemberaubend meisterhaft abgeklärten Sammlung des Ganzen, eine Sammlung im wahrsten Sinn des Wortes.

„Tempest“ ist vielleicht das Beste von alledem und die Krönung seines späten Schaffens, und auch hier finden sich christliche Aussagen eingeflochten in fließende Spiritualmelodie- mit dem einzigen kleinen Unterschied, dass sich heute kein Mensch mehr ereifern will drüber.

The Times They Are A-Changin'.
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