Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 20.09.2008, 00:56   #1
Janus Winter
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 103


Standard Fallenlassen

Thomas läuft über die Warschauer Brücke, vorbei an Scharen von Touristen, iPod im Ohr. Mit der abgefuckten Elektrohousemucke fühlt er sich wie der König vom Kiez. Er läuft, nein rauscht, fliegt über den heißen, staubigen Betonboden, schaut auf die Leute herab, ist der König, ist kein Versager wie sonst, wenigstens die 500 Meter bis zur Haustür noch, hinter der diese verdammte Leere auf ihn wartet. Die Beats bumsen gegen sein Trommelfell, jedesmal hebt er von der Straße ab, an der er sonst klebt wie all die kleinen Kieselsteine in den Betonritzen. Die ganzen Hackfressen um ihn stören ihn heute nicht. Heute lässt er sich von niemanden verarschen. Ich ficke euch alle, denkt Thomas. Läuft, rauscht, fliegt. Hinauf auf das Geländer. Balanciert. Jetzt kommen sie und gaffen und er ist der Star. Sie klatschen im Rhythmus seiner Musik, wollen ihn anfassen. Würden ihn sicher auffangen, wenn er sich für die richtige Seite entschiede. Dass er fallen wird, ist unausweichlich. Die Menschen. Die S-Bahn-Schienen. Die richtige Seite. Er weiß es nicht. Er könnte sich in die weichen Armen der Meute werfen, könnte sich fallen lassen. Eins werden mit dem Pöbel, zu dem er nie dazugehören wollte - zu denen, die gaffen, wenn einer auf dem Geländer einer Brücke balanciert. Zu denen, die an ihm jeden Tag vorbeilaufen. Seine Leere nicht sehen. Seine Wut. Seinen Hass. Auf diesen Weg. Immer wieder rennt er zur Haustür, in die Angst hinein, dass das Leben hinter dieser Haustür zuende sein wird. Hinter der Haustür ist nichts - ein Bett und dann kommt die Nacht, sonst nichts. Die farblose, scheiß Nacht. Und immer wieder denkt er an der gleichen Stelle der Brücke: Heute nehme ich eine Abkürzung. Hat sich aber nie getraut. Hat gedacht, irgendwann würde der Tag schon kommen, an dem hinter der Tür kein Monster lauern würde. Sondern ein liebes Mädchen in seinem Alter. Mit dem er zusammen die Treppen hochlaufen würde, und dann wäre da nicht mehr dieses Gefühl, ein unnützer Mensch zu sein. Das Mädchen würde ihn lieben und es würde für ihn kochen, sie würden reden und sich anfassen. Es wäre, wie es sein müsste, wenn man zuhause ist. Alles würde plötzlich einen Sinn ergeben. Welcher das war, wusste er noch nicht, aber wenn es soweit wäre, und er mit dem Mädchen zusammen in seiner Wohnung angekommen sein würde, dann wüsste er es genau. So billig wie es bisher in seinem Leben gelaufen ist, konnte es ja nicht ewig weitergehen. Er müsste die Brücke nur oft genug überqueren, ohne die Abkürzung zu nehmen, auch wenn es jedes Mal darauf hinaus lief, dass es keinen Unterschied machte, ob er die Treppe hinauflief oder das Brückengeländer. Doch jetzt befindet er sich auf ebendiesem Geländer, seine Haustür 500 Meter weit weg. Den kürzeren Weg - denkt er noch. Und er glaubt plötzlich, das Mädchen in der Menge zu sehen, das alles anders machen würde. Es steht da und lächelt ihn an. Trägt ein schwarz-weiß-karriertes Kleid mit einem roten Lackgürtel. Sagt, dass er nun keine Angst mehr haben braucht. Es streckt die Hand nach ihm aus. Und dann lässt er sich fallen.
Janus Winter ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Fallenlassen




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.