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Alt 19.01.2018, 20:51   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Lumpi

Wenn ich an die 50er Jahre zurückdenke, erscheinen sie mir wie eine rosige Zeit. Meine Familie lebte damals im Umkreis von maximal fünfzehn Minuten, so dass ich trotz meiner beiden berufstätigen Eltern immer Anlaufstellen hatte und mich geborgen fühlte, die Straßen waren kaum befahren und ideale Spielplätze, die Sommer brütend-heiß, die Winter klirrend-kalt, und bis zu meiner Schule brauchte ich nur fünfhundert Schritte zu gehen. Meine Freundin Marianne und ich bettelten unsere Eltern an, endlich Coca-Cola trinken und im Kino den neuesten Jerry-Lewis-Film ansehen zu dürfen, in der City – die damals noch „Innenstadt“ hieß – machte ein Italiener namens Delaidotti die erste Eisdiele auf, und im Sommer mussten meine Eltern und ich mit vollem Gepäck vierzig Minuten bis zum neuen Schwimmbad im Süden der Stadt laufen, weil es in einem unerschlossenen Gebiet unterhalb einer Kolonie von Schrebergärten lag, wohin noch kein Bus fuhr.

Nach und nach verschwanden die Trümmerfelder, neue Häuser wurden gebaut, Außenbezirke besiedelt und Straßen verbreitert. Die Brücke über den Main, die wegen der anrückenden Alliierten von deutschen Soldaten gesprengt worden war, entstand neu und bildete wie vor dem Krieg das Tor zum östlichen Frankfurter Industriegebiet.

Ein wahrlich rosiges oder besser: goldenes Jahrzehnt.

Aber nicht für jedes Kind.

In meiner Klasse gab es Mitschüler aus Verhältnissen, die wir heute als „prekär“ bezeichnen würde, denn das hört sich in modernen Ohren vornehmer an als „sozial schwach“, „zerrüttet“ oder „intellektuell entwicklungsfähig“. Da war zum Beispiel Margit, ein schmales, blasses Mädchen, das mir einmal zuflüsterte, vom Vater regelmäßig verprügelt zu werden, ohne zu wissen, weshalb. Oder Mechthild, deren geschiedene Mutter kaum genügend Geld hatte, sie und ihre drei Geschwister durchzubringen. Gisela lebte dagegen in geordneten Verhältnissen, wurde aber von ihrer Mutter unter der Knute gehalten, musste im Haushalt helfen, durfte selten raus zum Spielen und verschaffte sich ihre kleinen Vergnügungen mit Lügen und Stehlen. Alle drei hatten schlechte Noten und wechselten schon bald von der Realschule zur benachbarten Hauptschule. Damals hatte ich noch keine Ahnung von den Wechselwirkungen eines sozialen Hintergrunds mit den schulischen Leistungen, sondern ich teilte mit meinen Klassenkameraden die naive Auffassung, Margit, Mechthild und Gisela seien dümmer als andere Kinder geboren worden.

Manchmal denke ich an Roland, der ziemlich krasseste Fall, der mir in der Zeit der Aussortierung von „guten“ und „schlechten“ Schülern begegnete. Er war ein freundlicher, unbekümmerter Junge, der gerne lustige Sachen erzählte und viel lachte. Weil er ungewöhnlich klein war, eine auffällig braune Haut hatte und ignorant wie ein junger, unerzogener Dackel über die Straße lief („mir egal, ob mich ein Auto überfährt“), nannten wir ihn „Lumpi“.

Einmal überredete er mich, ihn nach Hause zu begleiten. Jedes Mal, wenn er ohne nach links und rechts zu sehen, eine Straße betrat, hielt ich tausend Ängste aus, denn jeder Versuch, ihn zu stoppen, wenn ein Auto in Sichtweise kam, war vergebens. Bei diesem Spaziergang beichtete er mir, dass er seinem Vater immer die Zigaretten stehle, was dieser Trottel aber nie merke. „Du rauchst sie doch nicht selbst,“ fragte ich entsetzt. Lumpi grinste breit. „Warum sonst sollte ich eine Tracht Prügel riskieren?“ Mein Vater rauchte auch, aber auf eine derart absurde Idee, ihm die Zigaretten zu stibitzen und sie in einer stillen Ecke zu paffen, wäre ich nie gekommen.

Nach dieser Erfahrung ging ich Lumpi aus dem Weg. Zufällig kam ich mit Elke, einer anderen Mitschülerin, die in Lumpis Nähe wohnte, ins Gespräch. „Ach der …“ Dabei rollte sie die Augen und machte mit der Hand vor ihrer Stirn den Scheibenwischer. „Der ist total bekloppt. Zigaretten sind für ihn harmlos. Neulich ging ich ein Stück mit ihm, und da lag ein Hundehaufen auf dem Weg. Er wettete mit mir um eine Mark, dass er den Haufen frisst.“

„Wer?“ Ich verstand nicht, was sie meinte.

„Na, Lumpi!“

„Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“

„Nee. Ich habe die Mark verloren, und jetzt reicht mein Taschengeld nicht mehr fürs Kino.“

Ich blieb skeptisch. „Wie sah er aus?“

„Eklig. Sein ganzer Mund war verschmiert.“

„Ich meine den Hundehaufen: Wie sah er aus.“

„Er war von einem großen Hund, also frag lieber nicht weiter.“

„Igitt.“

Hätte sie „von einem kleinen Hund“ gesagt, hätte ich mit Sicherheit genauso reagiert.

Wenige Jahre später, als Lumpi längst in die Obhut einer Hilfsschule gekommen war, traf ich ihn zufällig auf der Straße und wunderte mich, dass er noch genauso aussah wie damals, als er in meiner Klasse war: klein geblieben wie ein Neunjähriger und braun wie in der Sonne geröstet. Nur eins hatte sich verändert: Er hatte das runzlige Gesicht eines Greises. Damals hatte ich noch keine Kenntnis darüber, welche Auswirkungen das Rauchen im Kindesalter auf die Hypophyse hat, eine Hormondrüse, die für das Wachstum zuständig ist.

Wenn ich heute an Lumpi denke, sehe ich ein Kind in großer Not vor mir, geprägt von Todessehnsucht, Heischen um Aufmerksamkeit und der Überzeugung, im wahrsten Sinne des Wortes ein Stück Scheiße zu sein. Schon damals haben Nachbarn und Lehrer offenbar weggeschaut, und damals wie heute wurde fein säuberlich die Spreu vom Weizen getrennt.

So war sie, die Aufbau- und Wirtschaftswunderzeit: ein goldenes Jahrzehnt. Aber nicht jedes Kind kam mit dem goldenen Löffel zur Welt.


19.01.2018


Für alle, denen diese Geschichte übertrieben erscheinen mag: Sie ist nicht ausgedacht, sondern hat wirklich stattgefunden.
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